Löwenmäulchen
Tiya sprang die letzten Stufen hoch und hielt inne. Das Mädchen streckte ihr Gesicht gegen die ersten Sonnenstrahlen des Tages und lächelte zufrieden. Nichts konnte ihre Laune trüben, denn heute war ein Festtag und sie musste nicht zur Schule gehen. Trotzdem war sie früh aufgestanden, um mit ihren Freunden die Stadt zu erkunden und durch die Gassen zu streichen, auf der Suche nach einem Erwachsenen, der ihnen vielleicht Süßigkeiten schenkte.
Der Dunstschleier, der noch über den weißen Dächern der Stadt lag, verflüchtigte sich allmählich. Tiya setzte sich an die Brüstung und schielte auf die enge Gasse hinunter. Ihre Freunde waren noch nicht da, aber sie war absichtlich früher gekommen, um sie von oben zu erschrecken. Sie tastete nach den Pistazienschalen in ihrer Tasche und vergewisserte sich, dass sie noch genug hatte.
Der Melonenverkäufer zog einen schwer beladenen Karren die Gasse hoch.
„Hallo, Herr Melonenverkäufer!“, grüßte Tiya.
„Hallo, Tiya! So früh schon auf den Beinen?“
„Klar, ich warte darauf, dass mir ein Erwachsener Süßigkeiten schenkt.“
„Willst du mir helfen, den Wagen bis zum Marktplatz zu ziehen? Ich hätte dann vielleicht noch einen Melonenschnitz für dich übrig.“
„Nein, heute werde ich nichts tun, um etwas zu bekommen, heute müssen die Erwachsenen großzügig sein!“, rief sie hinunter.
„Für ein deine neun Jahre bist du aber schon ganz schön frech, was?“ Der Melonenhändler schüttelte lachend den Kopf und setzte seinen Weg fort. Weitere Leute zogen unten an ihr vorbei, unterwegs zum Markplatz, wo bald kein Durchkommen mehr sein würde. Doch nicht alle strömten in dieselbe Richtung. Ein Mann in einem dunklen Umhang erregte Tiyas Aufmerksamkeit, als er sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Der Mann machte eine ziemlich finstere Miene. Tiya fand, dass an einem solchen Tag niemand schlecht gelaunt sein sollte und warf dem Mann zur Strafe einen Kieselstein und ein paar Pistazienschalen an den Kopf. Schnell duckte sie sich hinter die Brüstung und lugte zwischen einer Spalte im Gemäuer hinunter. Der Mann fasste sich an den Kopf, blickte kurz verärgert um sich, stieß leise einen Fluch aus, zog seinen Umhang enger und ging weiter. Tiya sah, wie dabei etwas herunter fiel. Sich dessen bewusst, dass der Mann sie sehen könnte, spähte sie über den Mauerrand und schnappte überrascht nach Luft. Da lag etwas Farbiges auf den runden Pflastersteinen. Ein Bonbon?
Tiya hastete die Treppe hinunter, bevor jemand anderes ihre Trophäe wegschnappen konnte. Ein Weinhändler war schon bedrohlich nahe und würde bald mit seinem Wagen die Beute überrollen, wenn sie ihn nicht aufhielt.
„Halt!“, rief sie außer Atem. Etwas verdutzt stoppte der Weinhändler.
„Was ist, Mädchen?“
„Fast hättest du meine Beute überfahren!“, entgegnete Tiya tadelnd und hob den Gegenstand auf, den der seltsame Mann vorhin hatte fallen lassen. Enttäuscht sah sie ihn sich an. „Das ist ja bloß eine Blume!“
„Nana, der Tag ist noch lang“, tröstete der Weinhändler sie. „Außerdem ist das ein Löwenmäulchen. Die sind bei uns nur selten zu finden.“
„Ein Löwenmäulchen?“
„Ja, schau her. Darf ich kurz?“
Tiya übergab sie ihm vorsichtig. Der Weinhändler steckte die Blume zwischen die Finger und machte eine Bewegung. Die Blume klappte auf und zu wie ein Löwenmaul. Tiya beobachtete ihn dabei mit großen Augen.
„Viel Spaß und Glück noch“, verabschiedete sich der Weinhändler, indem er ihr das Löwenmäulchen zurückgab, und beeilte sich, noch rechtzeitig zum Marktplatz zu gelangen.
Tiya kletterte auf ihren Spähposten zurück und setzte sich hin.
„So, jetzt erzählst du mir eine Geschichte, großer Löwe.“ Dabei öffnete sie das Löwenmäulchen und machte ein Geräusch, das sie für ein Grollen eines Raubtiers hielt. Das Ergebnis war ein dünnes, heiseres Knurren.
„Oh großer Löwe, friss mich bitte nicht!“
„Wie sollte ich auch?“
Erschrocken ließ Tiya die Blume fallen und machte einen Satz zurück. Hatte das Ding gesprochen?
„Was kann ich schon als Blume ausrichten?“, seufzte das Löwenmäulchen.
„Du ... du kannst sprechen?“, fragte sie ungläubig, immer noch einen Sicherheitsabstand bewahrend.
„Aber ja doch. Ich bin kein gewöhnliches Löwenmäulchen.“
„Sondern?“
„Kannst du mich bitte aufheben? Hier unten ist es so ... entwürdigend.“
Vorsichtig näherte sich Tiya. Vorher hatte es auch nicht gebissen, sprach sie sich zu und nahm die gelbe Blume in die Hand.
„Danke. Also, du wolltest eine Geschichte hören.“
Tiya nickte. Konnte es sie überhaupt sehen? „Ja“, sagte sie zur Sicherheit.
„Gut. Zuerst musst du aber versprechen, mir zu helfen, wenn ich fertig bin.“
„Helfen? Ja ... aber was ...“
„Ich brauche deine Hilfe. Aber hör mir jetzt gut zu, wir haben nicht viel Zeit. Mein Name ist Ilmun und ich bin ein Löwe der königlichen Garde. Genau genommen Hauptmann der Löwengarde. Genauer genommen Leibwächter des Thronfolgers.“
Die Löwengarde! Tiya schnappte nach Luft. Von weitem hatte sie diese edlen Wächter schon einmal gesehen, aber mit einem zu sprechen, das hätte sie sich nie erträumt. Doch – Moment. „Ein Löwe? So siehst du aber nicht aus.“
„Das ist gerade mein Problem. Vielleicht hast du schon einmal von Sharrad, dem mächtigen Zauberer gehört. Er genießt einen ... sagen wir einmal, bei manchen Leuten einen zweifelhaften Ruf.“
„Möglich. Ist das dieser geheimnisvolle Fakir?“
„Gut möglich, dass du den meinst.“
„Und was hat es mit diesem Zauberer auf sich?“
„Das ist der Mann, dem du vorher den Stein an den Kopf geworfen hast. Und eben dieser Sharrad hat mich verzaubert und in diese Blumenform gesteckt, damit ich nichts ausrichten kann, wenn er seine Pläne durchführen wird.“
„Was hat er denn vor?“
„Er will nichts Geringeres als die Macht des Königs an sich reißen. Natürlich tut er das nicht so offenkundig, deshalb will er sich erst einmal in die Königsfamilie einschleusen, indem er seine Tochter mit dem Thronfolger verheiraten will. Dazu hat er mich unschädlich gemacht und danach ungestört den Prinzen entführt.“
„Wieso den Prinzen entführt, wenn er ihn doch mit seiner Tochter verheiraten will?“
„Sharrad ist ein Meister der Illusion und Gestaltwandlung. Solange der richtige Prinz abwesend ist, wird Sharrad dessen Gestalt annehmen und sich als verliebter Thronfolger ausgeben.“
„Aber was will er dann machen, wenn er Prinz wird? Er kann doch nicht die ganze Zeit in dieser Gestalt bleiben?“
„Nein, das hat er auch nicht vor. In der Gestalt des Prinzen wird er den König bitten, Siraia, wie die junge Frau heißt, heiraten zu dürfen. Da Sharrad bereits ziemlich einflussreich und die Tochter auch sehr hübsch ist, wird das eine leichte Sache. Aber sobald er sein Ziel erreicht hat, will er noch mehr anstreben. Sharrad ist kein guter Mann, das kann ich dir versichern. Ich kannte ihn schon, als ich noch kein Löwe der Garde war ...aber das erzähle ich dir später einmal.“
„Wieso ...“
„Wir dürfen keine Zeit verlieren. Jetzt müssen wir schleunigst los!“
„Wie denn? Ich möchte dir ja gerne helfen, aber ...“ Tiya wurde von einem Ruf unterbrochen, der herauf schallte.
„Tiya! Komm runter! Wir wissen, dass du da oben bist! Du hast dich schon letztes Mal da oben verschanzt!“
Tiya zögerte.
„Steck mich in deine Tasche und geh runter. Sag deinen Freunden, dass du etwas anderes vorhast“, raunte Ilmun ihr zu. Das Mädchen tat wie geheißen und stieg hinunter.
„Komm schon, Tiya, das Fest wird gleich beginnen!“, rief ein Knabe. Es war der Sohn des Melonenverkäufers.
„Mmm ... wisst ihr, ich kann heute nicht. Ich muss noch etwas Wichtiges tun.“
„Heute? He, heute ist das Getreidefest, was hast du da denn noch Wichtiges vor?“
„Ein Geheimnis.“
„Was denn?“
„Eben, darf ich nicht verraten, sonst wäre es nicht geheim. Kann ich euch das nicht später erzählen? Ich muss wirklich los.“
Tiyas Freunde sahen sie komisch an, aber ehe sie nachhaken konnten, war Tiya schon in der nächsten Gasse verschwunden.
„Und jetzt?“
„Zuerst müssen wir zu Sharrads Haus, dort bewahrt er das Elixier auf, das den Zauber rückgängig machen kann. Ich erkläre dir den Weg.“
„Aber was machen wir mit dem Prinz?“
„Den retten wir später.“
„Ach so.“ Sie dachte kurz nach, während sie weiter ging. „Sieht der Prinz wenigstens gut aus? Weißt du, wenn wir ihn schon retten ...“
„Ob er gut aussieht? Hm, für dein Empfinden ... ich denke schon ... aber steck mich jetzt wieder in die Tasche, es macht einen seltsamen Eindruck auf die Leute, wenn du mit einer Blume sprichst.“
Das Haus war nicht schwer zu finden. Es lag in einem der Außenbezirke der Stadt und hatte im Gegensatz zu den umliegenden Gebäuden eine dunkle Fassade, die geschmückt war mit Säulen, die von steinernen Dämonengestalten getragen wurden.
„Ganz schön düster.“
„Sharrad hat das Haus mit Absicht so bauen lassen, um Eindruck zu schinden. Fakir-Image. Lass dich nur nicht davon beirren.“
„Ich habe keine Angst“, verteidigte sich Tiya trotzig. „Aber wie kommen wir da rein?“
„Ähem ... am besten versuchst du es über den Garten, der hinter dem Haus liegt. Schauen wir uns um.“
Tiya schlüpfte in den dunklen Spalt zwischen den Häusern und ging der Wand entlang. Und sie wurden tatsächlich fündig.
„Schau, da vorne“, deutete Ilmun.
Dort war ein Brett befestigt, das schräg an der Mauer, die mindesten drei Meter hoch war, hinauf führte. Es war die Katzenleiter.
„Da soll ich rauf?“
„Äh, versuchen kannst du es zumindest.“
„Weißt du zufälligerweise, ob das Ding hält?“
Ilmun schwieg betreten. Tiya dachte daran, dass sie vorher gesagt hatte, dass sie keine Angst hatte. Also musste sie da hoch.
Behutsam setzte sie einen Fuß auf das Brett. Es schien genug stabil zu sein. Als sie mit beiden Füßen darauf stand, ging sie in die Knie, um die Belastbarkeit zu prüfen. Das Brett bog sich gefährlich und knarrte.
„Pass auf!“, zischte Ilmun. „Geh auf allen vieren, wie eine Katze. So verteilst du dein Gewicht.“
Tiya probierte es aus. Ilmun hatte Recht, die Katzenleiter bog sich nicht mehr so stark. „Wenn wir Glück haben, ist Sharrads Katze dick und schwer“, versuchte Ilmun Tiya zu beruhigen.
„Hoffen wir es. Wenn dieses Brett bricht und ich runter falle, lande ich vielleicht blöd und zerquetsche ...“
„Mach weiter!“
Als Tiya mehr als Hälfte hinter sich hatte, tauchte auf der Mauerkrone ein großes, felliges Etwas auf.
„Oh nein, Sharrads Katze!“, flüsterte Tiya. „Von Wegen Glück!“
Sharrads Haustier war in der Tat dick und schwer, aber nicht nur das, sie funkelte das Mädchen mit ihren schwefelgelben Augen an und fuhr die Krallen aus. Tiya schluckte. Mit einer solchen Katze war nicht zu spaßen, erst recht nicht in ihrer Lage.
„Was soll ich bloß machen, Ilmun?“
„Katzen lassen sich gerne kraulen. Vielleicht ...“
Tiya streckte vorsichtig die Hand aus und machte „Bssss“, aber das schien die Katze nur noch mehr zu reizen.
„Die will nicht! Schhhh! Husch! Weg da!“ Scharrads Katze hatte aber nicht im Sinn, sich verscheuchen zu lassen und sprang stattdessen kampflustig aufs Brett. Das Holz knarrte erneut. Tiya rutschte ein Stück rückwärts. Die Katze näherte sich fauchend und verpasste ihr einen Hieb mit der Tatze. Lange, dunkelrote Rillen bildeten sich auf der Haut von Tiyas Hand.
„Aua! Du verdammtes Viech! Scheißkatze! Miststück!“ Tiya verlor vor lauter Zorn all ihre Hemmungen. Sie spuckte die Katze an und stieß das überraschte Tier mit einer fegenden Bewegung vom Brett. Miauend landete es am Boden, duckte und machte sich aus dem Staub. Doch das Brett wackelte immer noch, sodass Tiya ums Gleichgewicht kämpfen musste. Im letzten Augenblick konnte sie sich an einem Mauerspalt festklammern.
Schweiß rann ihr von der Stirn, als sie oben ankam. Aber sie hatte keine Zeit, sich auszuruhen, denn auf der Mauerkrone war sie den Blicken frei ausgesetzt. Sie suchte nach dem Pendant der Katzenleiter, die sie heraufgekommen war. Aber da war nichts. Sie entdeckte ein Loch in der Wand am Ende der Mauer, das ins Haus führte. Zu klein für sie. Also musste sie springen. Mit ihren Freunden hatte sie schon viele abenteuerliche Sprünge gewagt, aber vor dieser Höhe hatte sie trotz allem Respekt. Glücklicherweise war der Boden des Gartens mit hohem, weichem Gras bedeckt.
„Klammer dich an den Rand der Mauer und versuche, die Höhe so gut wie möglich zu verringern“, riet ihr Ilmun.
Der Fall war immer noch hoch. Als Tiya landete, spürte sie einen schmerzhaften Zwick in ihrem rechten Fußgelenk. Sie verzog ihr Gesicht. „Mist! Aaah!“, presste sie hervor.
„Was ist, Tiya?“, fragte Ilmun besorgt.
„Mein Fuß ... ich glaube, ich hab mir irgendwas verknackst.“
„Kannst du aufstehen?“
Tiya versuchte es. „Ja, es geht. Tut aber verdammt weh.“ Mühselig humpelte sie durch den üppigen Garten, unter Dattelpalmen und Magnolien, vorbei an Rabatten von Meerlavendel, Kreuselmyrthe, Schleifenblumen und anderen Pflanzen, die Tiya nicht kannte.
„Warte, Tiya! Weißt du, wie Löwenzahn aussieht?“, stoppte Ilmun.
„Ja, wieso?“
„Pflück ein paar Blätter, die werden wir später noch für meine Rückverwandlung brauchen.“
Unter einem Tulpenbaum entdeckte sie die gelben Blumen und riss drei von den länglichen gezackten Blättern ab, die sie zu Ilmun in ihre Tasche steckte. Dann ging sie direkt zur Terrassentüre, die offen stand. Es war niemand zu sehen.
„Lass uns schnell reingehen!“
„Du meinst, ich soll rein, mit dir in der Tasche.“
Wenn Ilmun die Augen verdrehen hätte können, dann hätte er es in diesem Augenblick bestimmt getan.
Sie huschte durch die Türe und fand sich in einem reich ausgestatten Zimmer wieder. Am Parkettboden und an den Wänden, wo sich keine Bücherregale und Schränke befanden, breiteten sich bunte Teppiche aus. In einer Ecke waren um einen runden, tiefen Mahagonitisch, auf dem eine Wasserpfeife stand, drei bequeme Diwane angeordnet, die mit dicken, weichen Samtkissen ausgestattet waren. In der Mitte des Raumes war im Boden ein seichtes Wasserbecken eingelassen, auf dem Rosenblätter trieben, die einen süßen, angenehmen Duft verbreiteten. Tiya stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Dieser Sharrad lässt es sich vielleicht gut gehen!“
„Ja, aber beeil dich jetzt bitte! Staunen kannst du ein anderes Mal. Wir dürfen hier keine Zeit verlieren. Los, zum Keller! Dort befinden sich die Arbeitsräume.“
Tiya spähte in den Gang. Nichts. Die Luft schien rein zu sein. So schnell es mit ihrem Fußgelenk ging, lief sie zur Treppe, die in den Keller führte. Das Hinuntersteigen bereitete ihr Schmerzen, aber sie biss sich tapfer auf die Zähne.
„Die nächste Türe links.“
Die Türe war nicht verschlossen. Tiya stieß sie auf und schnappte nach Luft. Der dunkle Raum war gefüllt mit Regalen, Büchern, Gläsern, Schalen, Flaschen und allerlei Geräten, die sie nicht kannte. In einer Ecke blubberte etwas in einem breitbauchigen Behälter und verströmte ein schwaches, rötliches Licht. Durch Ritzen der mit Brettern verriegelten Fenster unter der Decke fielen Strahlen wie Fäden aus Rauch herab. Es roch eigenartig, mufflig und beißend zugleich. Ein wildes Potpourri aus verbrannten Metallen, Ammoniak, nassem Stein, getrockneten Pilzen und frischem Holz.
„ Wie um Himmels Willen wollen wir hier etwas finden?“
„Ich war schon einmal hier.“
„Aha. Ausführlicher geht es nicht, was?“, meinte Tiya schnippisch.
„Sei ruhig und beeil dich, wir können nicht ewig ungestört hier unten bleiben.“
„Ja, ist ja gut, sag mir, wo dieses Elixier ist.“
„Warte, lass mich überlegen. Ich glaube ... im zweithintersten Regal. Es ist ein kleines, dunkles Fläschchen.“
Tiya packte den Schemel, der unter einem der Tische stand, und stellte ihn zum Regal. Dann stieg sie hinauf und begann zu suchen.
„Ilmun, hier hat es mehrere kleine dunkle Fläschchen.“
„Lass mich sehen. Kannst du mich so hinhalten, dass ich die Etiketten sehe?“
Ilmun suchte die Flaschen ab. Viele der Etiketten waren bereits verblasst, aber er glaubte sich daran zu erinnern, dass Sharrad das Elixier erst kürzlich beschriftet hatte.
„Das könnte es sein. Nimm es mal und zeig es mir“, flüsterte Ilmun.
Gerade wollte Tiya das Fläschchen genauer betrachten, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte.
„Was suchst du hier?“, herrschte sie eine junge, aber selbstbewusste Stimme streng an. Erschrocken wandte sich Tiya um und ließ dabei das Fläschchen fallen. Klirrend zersprang es auf dem Boden und hinterließ einen zischenden, dunklen Fleck auf dem Boden. Die Person, die Tiya ertappt hatte, machte einen Satz zurück. Überrascht sah Tiya, dass es sich um eine junge Frau, oder nein, doch eher ein Mädchen handelte, das etwa fünf Jahre älter als sie sein mochte. Als das fremde Mädchen sich gefasst hatte, fragte sie nochmals: „Raus mit der Sprache, was suchst du hier?“
„Ich ... ich ... mein Fuß ...“
„Dein Fuß?“
„Ja, ich habe mir den Fuß verstaucht ... und es tut weh und ich wollte etwas dagegen machen und ich bin hierher gekommen weil ich gehört habe dass Herr Sharrad ein mächtiger Zauberer ist und ich habe gedacht dass er vielleicht ein Mittel dagegen hat und dann bin ich hier herunter gekommen.“
Das Mädchen schien es ihr nicht ganz abzukaufen. Ihre Stirn verengte sich. „Wie heißt du?“
„Tiya.“ Sie biss sich auf die Zunge. Mist. Jetzt wusste die andere ihren Namen. „Und du?“
„Du weißt nicht, wer ich bin? Ich bin Siraia, Sharrads Tochter.“
Tiya hoffte, dass Siraia nicht bemerkte, wie sich gerade ihre Gedanken überschlugen.
„Mein Fuß tut wirklich sehr weh“, lenkte Tiya ab. „Schau mal.“ Sie streckte Siraia ihren Fuß entgegen, dessen Gelenk inzwischen blau angeschwollen war.
„Hmm, das sieht böse aus. Warte einmal, ich finde bestimmt etwas dagegen.“
Siraia drehte sich um hielt einen Augenblick inne. Dann zog sie die unterste Schublade eines Regals auf der anderen Seite aus und wühlte darin.
„Schnell!“, flüsterte Ilmun Tiya zu. „Die zweite Flasche rechts.“
Gerade noch rechtzeitig ließ Tiya das Fläschchen in ihrer Tasche verschwinden, bevor Siraia sich umwandte, eine silberne Dose triumphierend in der Hand haltend.
„Das ist es! Mein Vater hat diese Salbe bei mir benutzt, als ich mir einmal den Finger gequetscht habe. Am besten kommst du mit herauf, hier unten ist es so modrig und düster.“
Tiya nickte schüchtern und folgte ihr hinauf in ihr Zimmer, das im ersten Stock lag. Auch Siraias Gemach war edel ausgestattet, nicht ganz so opulent wie der untere Raum, aber sehr verspielt. Verschiedenste Blumen steckten in den vielen Vasen, die überall im Zimmer verteilt waren. Zu den eleganten Gefäßen gesellten sich Bücher, die sich in allen Ecken sammelten. Siraia setzte sich auf die Bettkante.
„Na komm, kannst dich auch setzen“, lud sie Tiya ein.
„Aber ... meine Kleider sind nicht so sauber und ...“
„Ach was, jetzt zeig schon deinen Fuß her.“
Tiya löste die Sandale. Siraia klatschte etwas von der kühlende Salbe auf das geschwollene Gelenk. Es kribbelte zuerst, aber der Schmerzt linderte sich bald.
„Danke“, murmelte Tiya. „Schönes Zimmer. Wohnst du alleine hier?“
„Nein, mein Vater wohnt doch auch hier“, antwortete Siraia lachend.
„Ich meine, ob du ein eigenes Zimmer hast? Ich muss mein Zimmer mit meinen zwei älteren Brüdern teilen, und es ist bestimmt weniger als halb so groß wie deins.“
„Wirklich?“ Siraia seufzte. „Ich hätte auch gerne einen Bruder oder eine Schwester.“
„Ach was, Geschwister nerven nur, Siraia.“
„Du kannst mich übrigens gerne Sira nennen, wenn du willst. Weißt du, mein Vater ist sehr streng. Ehrlich gesagt, dieses Haus ist ein goldener Käfig. Ich darf nie hinaus.“
„Was? Du darfst nicht raus? Und wo spielst du dann?“
„Spielen? Hier, im Zimmer. Oder im Garten.“
„Und deine Freunde? Kommen die dann hierher?“
„Freunde?“ Sira blickte betrübt aus dem Fenster. „Ich habe keine Freunde. Keine echten zumindest. Manchmal nimmt mich mein Vater zu Leuten mit, die auch Kinder haben. Aber das sind so furchtbar eingebildete Typen.“ Sie hob zur Verdeutlichung ihre Nase und setzte sich steif hin.
Tiya nickte wissend. „Fühlst du dich nicht schrecklich einsam?“
„Ich weiß nicht. Ich habe keine Ahnung, wie es ist, Freunde zu haben. Du bist seit langem das erste Mädchen, das normal mit mir redet. Sonst muss ich mich immer über Politik oder über Leute, die ich gar nicht kennen will, unterhalten. Mein Vater legt Wert darauf, dass ich mich mit den anderen ‚befreunde’. Aber weißt du, was das Schlimmste ist? Er will mich verheiraten! Mit dem Prinzen! Manchmal hasse ich meinen Vater wirklich! Wie kann er das nur tun?“
„Äh, das ist doch schön ...“
„Schön? Schön, sagst du?“, Sira funkelte Tiya an. „Von wegen! Der goldene Käfig am Hof wird vielleicht größer sein, aber er wird ein Käfig bleiben.“
Tiya hatte immer noch keine Ahnung, von welchem Käfig Sira die ganze Zeit sprach, aber sie nickte einfach weiter. Irgendwie hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass sie Siras Gutmütigkeit ausnutzte. In der Tasche machte sich Ilmun bemerkbar.
„Schau zu, dass du dich verdünnisierst, diese junge Dame ist ja unerträglich in ihrem Selbstmitleid.“
„Sei still! Warte doch!“
Sira sah auf. „Wie?“
„N... nichts. Was meint denn deine Mutter dazu?“
„Meine Mutter? Ich kenne sie nicht. Mein Vater sagt, dass sie bei meiner Geburt gestorben ist, aber es gibt Zeiten, da glaube ich es ihm nicht. Weißt du, ich hoffe manchmal, dass meine Mutter plötzlich auftaucht und mich mitnimmt, fort von hier.“
„Willst du denn nicht etwas dagegen unternehmen? Ich würde mir das nicht gefallen lassen!“
„Wie denn? Mein Vater ist ja sonst gut zu mir. Schau dich um, ich kann mich nicht beklagen.“ Sira stieß einen Seufzer aus.
In diesem Moment fasste Tiya einen Beschluss.
„Vertraust du mir?“
„Vertrauen?“ Sira zögerte kurz. „Ich weiß nicht ...“
„Ich bin dir etwas schuldig, oder?“
Einen Augenblick glaubte Tiya, Zweifel in ihren Augen zu sehen, doch dann fasste sich Sira ein Herz und stimmte zu.
„Gut, dann ...“ Tiya holte tief Luft. Ilmun protestierte heftig und polterte in ihrer Tasche, aber sie erzählte Sira, was sie hierher geführt hatte. Sira horchte ihr aufmerksam und geduldig zu.
„... Wenn du mir also hilfst, diesen Prinzen zu retten, wirst du ihn nicht heiraten müssen.“
„Klingt logisch. Aber dieser Löwe, steckt der wirklich in deiner Tasche?“
„Soll ich ihn dir zeigen?“ Zum Beweis holte Tiya Ilmun hervor. „Darf ich vorstellen? Ilmun – Siraia. Siraia – Ilmun.“
Das Löwenmäulchen rührte sich nicht. Sira beäugte Tiya und die Blume kritisch. Zweifel legte sich über ihr Gesicht.
„Na los, Ilmun sag doch was!“, stupste Tiya verzweifelt das Löwenmäulchen. Ilmun machte immer noch keinen Mucks. „Gut. Tut mir Leid Sira, offenbar ist dieses Löwenmäulchen doch nur eine gewöhnliche Blume. Soll ich es zu den anderen Blumen stellen?“
„Nein! Um Himmels Willen nicht!“, meldete sich Ilmun schließlich. „Hallo Sira.“
„Dann können wir ja endlich aufbrechen“, meinte Sira fröhlich und schulterte die kleine Tasche, in die sie alles nötige gestopft hatte. Sie hatte andere Sachen angezogen Die drei – Ilmun wieder in Tiyas Tasche – gingen hinunter. Sira führte sie durch dasselbe Zimmer hinaus, durch das sie gekommen waren, und durchquerte den Garten. Am anderen Ende befand sich, verborgen hinter einem Vorhang aus Efeuranken, eine kleine Hintertüre. Sie war gegen außen abgeriegelt, aber von innen ließ sie sich problemlos öffnen.
„Manchmal mache ich kurze Spaziergänge in der Stadt, aber nur sehr selten, weil mein Vater immer alles merkt. Ich kann ihm schlecht Dinge verheimlichen.“
„Das kenne ich von meiner Mutter“, grinste Tiya, während Sira die Efeuranken wieder zurecht rückte. Dann schlüpften die beiden ungleichen Mädchen durch die Pforte hinaus in die enge, dunkle Gasse.
Unter einem alten Olivenbaum machten sie Halt. Tiya und Sira setzten sich auf einen Stein und nahmen beide einen großen Schluck aus dem Wasserschlauch, den Sira mitgenommen hatte.
„Ist es noch weit bis zu dieser Zisterne, Ilmun? Hier draußen ist es ganz schön heiß“, jammerte Tiya.
„Nein, sieh da, hinter dem Hügel ist es.“
Im Schatten einer Felsengruppe tauchte die Halbruine einer Hütte auf. Daneben sahen sie die Zisterne, ein Rund aus unbehauenen Steinen und eine hölzerne Vorrichtung, um Eimer hinab zulassen. Tiya rannte darauf zu und lugte die dunkle Öffnung hinunter. Unten spiegelte sich der blaue Himmel auf der Wasseroberfläche.
„Tiya, der Prinz ist in der Hütte.“
„Sag doch was.“
„Ich dachte, du hättest Durst.“
„Haha.“
Sira war bereits in der Hütte verschwunden. Als Tiya ebenfalls eintrat, hatte sich Sira neben die in einfachen Leinenkleidern gehüllte Gestalt gekniet und holte ein Messer hervor. Ilmun seufzte erleichtert, als er sah, dass es seinem Schützling den Verhältnissen entsprechend gut ging.
Der Prinz keuchte. „Bring mich nur um! Ich weiß, dass du Sharrads Tochter bist! ... Aber ich ... werde mich nicht klein kriegen lassen! Ich habe königliches Blut in mir und mir macht es nichts aus, einen heldenhaften Tod zu sterben! Der Zorn meines Vaters ...“
„Halt den Mund, siehst du nicht, dass wir dich retten?“, schnauzte Sira, während sie ihm die Fesseln durchschnitt. ‚Den finsteren Blick hat sie eindeutig von ihrem Vater’, dachte sich Tiya grinsend. Sie musterte den Prinzen genauer im schummrigen Licht, das durch die eingefallenen Dachbalken fiel. Es war ein Junge in Siras Alter, nicht besonders groß, aber man sah, dass er noch wachsen würde, denn er war ein bisschen schlaksig und hatte verhältnismäßig zu lange Arme. Trotzdem, aus ihm würde bestimmt einmal ein hübscher junger Mann werden, seine dunklen Augen funkelten jetzt schon leidenschaftlich und würden mit Sicherheit das Herz jeder Frau im Sturm erobern ...
„Tiya“, holte Ilmun sie aus ihren Tagträumen zurück. „Kannst du mich so hinhalten, dass Theoi mich sieht?“
„Theoi?“
„Du kannst ihn auch gerne Hoheit nennen, aber ich glaube, im Augenblick spielen Formalitäten keine Rolle.“ Tiya näherte sich dem Prinzen, der immer noch etwas von Märtyrertod und Heldentum faselte, als Sira ihm etwas Wasser von ihrem Schlauch einflößte. „Der ist ja noch schlimmer als der Held aus dem Galmayum-Epos“, stöhnte sie.
„Galmayum-Epos?“, fragte Theoi. Er schien irgendwie aus seinem Delirium zu erwachen. „Du kennst das?“
„Och, weißt du, bis zur Stelle, wo sie bei den kalten Bergen ankommen, ist die Geschichte ganz nett, aber nachher wird’s ein bisschen langatmig, finde ich.“
„Langatmig? Du hast ja keine Ahnung!“
„Der pathetische Erzählstil ist grottig.“
„Wie kannst du nur! Das Galmayun-Epos ist ein Meisterwerk der ...“
Bevor sich die beiden jedoch in eine hitzige Diskussion stürzen konnten, räusperte sich Ilmun. „Ihre Majestät Theoi?“
Erst jetzt bemerkte der Prinz Tiya, die das Löwenmäulchen in der Hand hielt. „Ilmun? Du lebst immer noch? Ich dachte, ich würde die nie wieder sehen, als Sharrad dich in eine Blume verwandelte!“ Er klang sichtlich erleichtert.
„Kommt, gehen wir raus ans Tageslicht und besprechen, wie es weitergehen soll“, übernahm Sira die Initiative.
„Jetzt, wo wir Theoi gefunden haben, kann ich mich wieder zurückverwandeln, was meint ihr?“, warf Ilmun in die Runde. Tiya nickte aufgeregt und holte das Fläschchen und den Löwenzahn hervor.
„Wie machen wir das, Ilmun?“
„Stellt mich auf einen Stein. Ja, ich glaube so sollte es gehen.“
Neugierig standen Tiya, Sira und Theoi um den Stein und schauten auf Ilmun herunter.
„Dann träufelt etwas von dem Gegenmittel auf mich. Zehn Tropfen, nicht mehr und nicht weniger.“
Tiya entkorkte das Fläschchen und schnupperte daran.
„Pass auf! Steck deine Nase lieber nicht zu tief da rein! Wenn du lange Krallen und eine Löwenmähne kriegst, will ich nicht schuld sein.“ Sofort streckte Tiya den Behälter weg und drückte ihn Theoi in die Hand.
„Tretet nachher zur Seite, wenn die Rückverwandlung beginnt, ich benötige Platz.“
Tiya hielt den Atem an, als sie stumm mitzählte. Eins, zwei, drei, vier ... Bei neun machte sie noch einmal einen Schritt zurück. Und mit einem Male begann das Löwenmäulchen zu leuchten, wie ein kleiner Stern, hell und rein, kraftvoll und ungebändigt. Tiya spürte, wie die Kraft in den Löwen zurückfloss, spürte, wie etwas Unsichtbares seine Fühler ausstreckte und Energie anzog. Ein Strom von Macht bündelte sich auf dem Stein und ließ das Blümchen wachsen. Kalt glühende Lichtspiralen wurden entfesselt, die wild und unkontrolliert um den Umriss kreisten, der langsam Form annahm. Tiya erkannte eine Raubtiergestalt und sah, wie diese sich bückte und den Löwenzahn mit dem Maul aufhob. Ilmun lächelte und entblößte sein elfenbeinweißes Gebiss. Dann verblasste das Leuchten, doch nicht der silberne Löwe vor ihnen. Dieser sah sehr real aus.
Ilmun lachte und sprang auf, machte einige kraftvolle Sätze und jagte zu einem nahen Hügel hinauf, wo ihm der Wind, der vom Meer kam, ins Gesicht blies und seine Mähne durchschüttelte. Der Löwe stieß ein tiefes Grollen aus. Es klang nach Freiheit, dachte Tiya immer noch sprachlos. Die drei Kinder sahen ungläubig und bewundernd hinauf. Schließlich löste sich Theoi aus seiner Starre und rannte ebenfalls auf die kleine Anhöhe. Oben angelangt, umarmte er Ilmun und vergrub sein Gesicht in der Mähne.
Tiya und Sira waren wie von Donner gerührt, als sie die Szene schweigend mitverfolgten.
„Ich werde noch sentimental, so wie Galmayun nach der Ankunft in Tiamsáthr“, murmelte Sira. Tiya hörte sie nicht, sondern hatte nur Augen für Theoi, der aus vollem Herzen lachte und Ilmun drückte.
„Meint ihr, wir kommen noch rechtzeitig?“, gab Sira ihre Befürchtungen kund.
„Wir müssen auf alle Fälle so schnell wie möglich zum Palast gelangen. Theoi, spring auf.“
Der Prinz schüttelte den Kopf. „Nein es geht, ein bisschen Brot und Wasser haben schon Wunder bewirkt.“ Er sah zu Tiya hinüber. „Ich glaube, sie hätte es mehr nötig als ich. Hab keine Sorge, ich schaff das schon noch bis zum Palast. Tiya, kletter du auf Ilmun.“
Tiya traute ihren Ohren nicht. „Ich soll ... ich soll auf einem Löwen reiten?“
„Na hör mal, nachdem du mich den ganzen Weg hierher getragen hast, darf ich mich doch wohl revanchieren, oder?“
Ehe Tiya etwas einwenden konnte, hatte Theoi sie gepackt und auf den Rücken des Löwen gehievt.
„Danke“, murmelte Tiya.
„Keine Ursache, solange wir nicht am Hof sind, verneige ich mich vor dir. Ich bin es, der dir danken muss“, lächelte Theoi Tiya galant an, die froh war, dass sie sich in diesem Augenblick an der Mähne Ilmuns festhalten konnte und sich nicht auf die eigenen Beine verlassen musste. Zum Glück sprang Ilmun mit einem Ruck los, sodass die anderen nicht sehen konnte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss.
Sira und Theoi liefen so schnell wie es ging hinterher, während Tiya sich darauf konzentrierte, nicht herunter zu fallen. Unter dem feinen Fell spürte sie das imponierende Muskelspiel Ilmuns, ein Körper, der nicht nur dazu gebaut war, Stärke zu demonstrieren, sondern auch, wenn es sein musste, zu töten.
Als sie auf Seitenwegen den Palast erreichten, brachte Tiya kaum ein Wort heraus, immer noch beeindruckt von Ilmuns Erscheinung. Wie edel der Löwe sich bewegte, dachte sie sich. Kaum zu glauben, dass der Leibwächter des Thronfolgers vor wenigen Augenblicken noch eine lächerlich hilflose Blume gewesen war.
Rechtzeitig war sie abgestiegen und folgte gespielt demütig den anderen die marmorne Treppe hinauf. Die vier Wachen am Tor salutierten und traten zur Seite. Geschickt führten Theoi und Ilmun die beiden Mädchen durch ein Labyrinth aus Gängen, Treppen, Innenhöfen und leeren Sälen. Tiya hatte das Gefühl, dass sie belebte Orte wenn möglich vermieden. Schließlich gelangten sich durch einen kleinen Garten zu einem rechteckigen Turm. Ein Wächter davor hielt eine kleine Siesta. Theoi trat auf ihn zu und rüttelte ihn an der Schulter.
„Was zum ... oh, Eure Hoheit!“ In Sekundenschnelle sprang er auf und stand stramm. „Ihr seid schon wieder da?“
„Was meint ihr?“
„Ihr ... Ihr seid doch eben erst gegangen. Was habt Ihr mit Euren Kleidern gemacht? Und wer ...“
„Wenn du deinen Posten und deinen Kopf behalten willst, dann stell keine Fragen!“, herrschte Theoi ihn barsch an.
„Ja, Eure Hoheit, wie Ihr wünscht.“
„Dann sind wir uns ja einig. Lass uns jetzt bitte rein.“
„Jawohl, Eure Hoheit.“
Der Wohnturm war Theois Reich. Fresken von Helden und ihren ruhmreichen Taten zierten das Treppenhaus, das hinauf führte. Tiya konnte nichts damit anfangen, aber Sira rief immer wieder überrascht aus und nannte fremdländische Namen. „Unglaublich! Die neunte Ruhmestat von Svartaldar!“ „Und das muss eindeutig Prinz Silberhufe sein!“ „Oh, Ritter Eilian und die Fliederprinzessin!“
Tiya kannte keinen, doch bevor sie sich fragen konnte, wer all diese Personen waren, hatten sie bereits Theois Zimmer erreicht. Das Zimmer selbst bestand, neben einem einfachen Bett, zu Tiyas und Siras Überraschung aus Bücherregalen, nicht unähnlich dem Salon von Sharrads Haus.
„Sind das alles deine Bücher, Theoi?“, fragte Sira beeindruckt. Der Prinz nickte. „Ja, ich kann mir so viele Bücher wünschen, wie ich will. Mein Vater ist großzügig. Aber setzt Euch doch.“ Er deutete auf den Diwan, der in der Mitte des Raumes stand, und lies sich selber in seinen Lesesessel fallen. Ilmun tigerte zum Fenster.
„Ich werde Ausschau halten, falls Scharrad kommt“, sagte er.
„Und wir? Wie wollen wir Scharrad überführen?“, fragte Tiya nach einer Weile, als niemand etwas sagte. Sira und Theoi schauten sich an. In diesem Blick lag etwas, das Tiya nicht verstand oder noch nicht verstehen konnte, aber sie spürte, dass da etwas in der Luft lag.
„Tiya, ich ... wir“, setzte sie an, „... wir haben beschlossen, Scharrad nicht zu überführen.“
„Aber ... wieso? Ich verstehe das nicht.“
„Nun, erstens will ich Scharrad nicht hinter Gitter bringen. Trotz allem ist er eines: Mein Vater. Vielleicht hätte er es verdient, aber ich könnte ihm das nicht antun, auch wenn ich ihn manchmal hasse. Wer weiß, was sie dort unten in den Verliesen alles mit ihm anstellen würden. Und zweitens ...“
„... Ja, und zweitens“, fuhr Theoi fort, „wollen wir weg von hier.“
„Weg? Ihr?“
„Ja, ich habe das Leben am Hof satt“, seufzte Theoi. „Ich will die Welt sehen, die Ozeane befahren, die kalten Berge aus dem Galmayun-Epos besteigen ... Wusstest du, dass ich noch nie auf dem Meer war, Tiya? Ja, mein Vater lässt mich nicht, ich darf den Palast nicht ohne offizielles Trara verlassen, solange ich noch nicht mündig bin. Obwohl der Hafen vor den Toren der Stadt liegt. Ich kann das Meer vom Dach dieses Turmes aus sehen, aber ich bin noch nie über den Wellen ...“
„Sei froh! Als ich das erste Mal auf einem Boot war, wurde ich seekrank“, warf Tiya ein.
„Das werde ich dann ja sehen, wenn ich auf hoher See bin. Es ist so, Sira und ich haben auf dem Rückweg miteinander geredet. Wir haben festgestellt, dass wir viele Gemeinsamkeiten haben und beide in einem goldenen Käfig leben. Aber wir wollen nicht unser ganzes Leben in Luxus gefangen verbringen. Mein Herz zieht sich zusammen, wenn ich von den endlosen Wäldern Seldarions lese, die Sehnsucht packt mich, wenn die Helden von Lirisand zum ewigen Eis aufbrechen. Sira ergeht es genauso, deshalb haben wir beschlossen, von hier zu fliehen.“ Er machte eine Pause. „Ja, fliehen ist das richtige Wort. Wir wollen aus diesem goldenen Käfig ausbrechen.“
Zwar sah Tiya auch hier keine goldenen Gitterstäbe, aber es dämmerte ihr langsam, was die anderen damit meinten. Sie nickte nur stumm. Ein dicker Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet, der sie daran hinderte, irgendetwas zu sagen.
„Tiya, ich bin dir sehr dankbar, dass du mir geholfen hast, wer weiß, wie lange mich Scharrad da draußen hätte liegen lassen.“ Theoi sah sie an und ergriff kurz ihre Hand. Der warme Druck ließ Tiyas Herz unangenehm zusammenziehen und das leere Gefühl in ihrem Magen, das sich eindeutig nicht wie Hunger anfühlte, wurde immer größer. Sie wich seinen Augen aus. „Aber Sira und ich dürfen nun keine Zeit verlieren, wir werden das Nötige zusammenpacken und von hier verschwinden.“
„Wie wollt ihr das denn anstellen?“
„Ich habe genug Geld zur Verfügung. Das soll natürlich keiner merken, weshalb ich diese einfachen Kleider, in die mich Scharrad gesteckt hat, behalten werde. Sira und ich werden uns als junges Ehepaar ausgeben und eine Schifffahrt zum nächsten größeren Hafen machen. Was uns dort erwartet, werden wir noch sehen ...“ Theoi strahlte über das ganze Gesicht. „Vielleicht treffen wir auf die Sagenhafte Mondsegler, Kapitän Sternenauges Schiff ...“
„Oder wir werden unterwegs von Blutbarts Piraten überfallen und auf die Jadeinseln verschleppt ...“, fügte Sira hinzu.
„Ja, Blutbart-Geschichten fand ich auch immer sehr toll.“
„Ich wollte schon immer einmal die berüchtigten Jadeklippen sehen ...“
Tiya schwieg enttäuscht, während die anderen beiden weitere legendäre Pirateninseln und Banditenoasen aufzählten. Ilmun merkte es und stupste Tiya leicht an.
„Es wird Zeit für dich, wieder heimzugehen. Deine Freunde und Eltern vermissen dich bestimmt schon.“
Tiya stieß ihn zurück und wandte sich ab. Mit Tränen in den Augen stand sie auf und lief die Treppe hinunter.
„Was hat sie?“, wollte Sira besorgt wissen.
Ilmun fand Tiya gedankenverloren auf einer Bank im Garten.
„Ach Tiya, setz nicht so eine bittere Miene auf, das steht dir nicht“, tröstete Ilmun sie. „So wirst du niemals einem hübschen Prinzen gefallen, wenn ich dich in die Königreiche mitnehme, wo ich herkomme.“
Tiya sah auf. „Was, du nimmst mich in Wüstenreiche mit?“ Ihre Miene hellte sich ein wenig auf.
„Ja, wenn du magst. Aber wenn du willst, kann ich dir auch die Jadeklippen zeigen. Oder dich zu den schönsten Prinzen auf dieser Erde bringen. Du musst nur ja sagen und mir eines versprechen, nämlich, dass du dich geduldest, bist du alt genug bist.“
„Ich will gerne, aber wieso ...“ setzte Tiya an.
„Wieso?“ Ilmun seufzte. „Ich möchte, dass du hier noch eine schöne Kindheit verbringst. Du sollst selber merken, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um diese Stadt und deine Heimat zu verlassen. Ich werde auf dich warten und meinen Teil des Versprechens einlösen.“
„Wo werde ich dich finden können?“
„Erkundige dich in der Oase, die einige Meilen von hier ist. Dort wird man dir Auskunft geben, wenn du sagst, dass du Ilmuns Freundin bist. Schau mich an, Tiya.“ Das Mädchen hob ihren Kopf. Auf eine Art flößte ihr der Löwe beinahe Angst, sie sah zum ersten Mal die Wildheit und Kraft, die hinter diesen bernsteinfarbenen Augen loderten, aber sie sah auch Ferne, Freiheit und dieselbe Sehnsucht, die ihr Herz erfüllte.
„Ja, ich verspreche es“, flüsterte sie.
Tiya schlief immer noch tief, als am nächsten Morgen ihre Mutter ins Zimmer kam und sie weckte.
„Was ist denn, Mama?“ Schlaftrunken richtete sie sich auf.
„Ein Botenjunge, den ich noch nie gesehen habe, hat mir dieses Paket gebracht und gesagt, es sei für dich bestimmt.“
Verwundert nahm Tiya das in Papier gewickelte Bündel entgegen und packte es aus. Es war ein in Leder gebundenes Buch. Ein schwerer Umschlag fiel heraus, als sie es aufschlug. Sie hob ihn auf und öffnete ihn. Darin befanden sich eine Goldmünze und ein kurzer Brief.
Liebe Tiya
Da ich jetzt keine Verwendung mehr für meine Bücher habe und sie alle schon gelesen habe, überlasse ich sie dir. Ich habe veranlasst, dass sie nach und nach aus dem Palast geschmuggelt werden. Wenn du willst, dass dich Ilmun später mitnimmt, musst du sie aufmerksam durchlesen. Spare das Geld, das ich für dich auf die Seite gelegt habe, für später auf, du wirst es benötigen.
Es ist bereits spät, Siraia und ich müssen gehen, damit wir noch rechtzeitig an Bord gehen können.
Ich wünsche dir alles Gute und danke dir nochmals für deine Hilfe. Siraia lässt dich auch herzlich grüßen.
Theoi
Tiya schluckte und sah sich den Einband genauer an. Mit Mühe entzifferte sie zwischen stilisierten Ranken den mit Gold verzierten Titel, der aus verschlungenen Lettern bestand.
„Das Galmayun-Epos“ las sie.