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Last der Angst
Aus dem Fenster war nichts zu erkennen, höchstens mal ein weit entfernter Lichtschimmer, der vorbeizog, es herrschte Dunkelheit. Der Nachtzug war kaum besetzt, einzelne Abteile sogar leer. Die Räder ratterten, Metall schlug hart auf Metall, eintönig und dennoch nicht disharmonisch.
Herr Kleewein stand auf um sich die Beine zu vertreten, als er einen heftigen Druck verspürte. Sein Körper wurde in die Polsterung zurückgeworfen, Eingeweide an das Rückenmark gepresst, der Kopf gegen die Kante am Kopfteil geschlagen. Blockierte Räder quietschten in schrillen Tönen. Ein erschreckter Aufschrei zwischen dem Poltern von herunterfallendem Gepäck. Kleewein befürchtete panisch, diese Geräusche kündeten Schlimmes an.
Das Kreischen der Räder änderte langsam seinen Klang, um synchron mit der Bewegung abrupt zu enden. Bedrückende Stille kam auf, kein Laut, ja nicht mal ein Seufzer der Erleichterung. Die diffusen Ängste, welche Kleewein seit etwa zwei Jahren zeitweise quälten, waren manifest. Ein befreiendes Lachen undenkbar. Sein Kopf begann zu schmerzen, nicht heftig pochend, sondern mit taubem Gefühl, als ob ein betäubendes Anästhetikum sich ausbreite. Im Genick war eine Spannung, die Wirbel hatten wohl nicht vermocht, die heftige Bewegung nachzuvollziehen.
Der Versuch aufzustehen, um ein Fenster zu öffnen und nachzusehen, was los ist, misslang. Er fühlte sich kraftlos, vereinnahmt von einem Gefühl der Hilflosigkeit. Erinnerungen an magische Ängste in seiner Kindheit belebten sich. Mitten in diese Regression setzte Bewegung ein, der Zug fuhr wieder. Erst langsam ruckend, wie unter gewaltiger Kraftanstrengung, dann gleichmässiger und an Bewegungsausgewogenheit gewinnend. Das Rattern der Räder, das Schlagen auf Metall war wieder gegenwärtig, als ob nichts gewesen sei.
Bei einer neuerlichen Bahnfahrt kamen ihm die Empfindungen der letzten Reise hoch. Erst nur ein Unbehagen, zunehmend aber eine Beklemmung in der Brust, die ihm Furcht bereitete. An der nächsten Station, noch einiges von seinem Ziel entfernt, stieg er aus.
Erst einige Wochen später musste er wieder einen Zug benutzen, diesmal eine kurze Reise. Das Unwohlsein bei der letzten Fahrt war ihm nicht mehr gegenwärtig, war dies doch an der frischen Luft damals ziemlich schnell verflogen. Der Zug rollte, als eine Frau den Gang daherkam. Sie ging in hochhackigen Pumps mit dünnen Absätzen, bei jedem Schritt mit dem auftretenden Fuss ein wenig wippend. Als sie auf seiner Höhe war, spürte er ein rucken der Waggons. Eine Vollbremsung war sein entsetzter Gedanke, sie würde stürzen. Ihm waren die fürchterlichen Empfindungen der damaligen Nachtfahrt, welche wie weggewischt waren, in panischer Intensität gegenwärtig. Mit schnellem Griff packte er zu und hielt sie fest. Es dauerte einen Moment, dann schrie sie lauthals auf. Andere Passagiere schreckten hoch, reckten ihre Köpfe über die Abteillehnen oder traten in den Gang. Zwei kamen herbei geeilt. Er versuchte die Frau und die andern Passagiere zu beruhigen, es sei ja nichts passiert, da er sie festgehalten habe. Sie wurde still und wirkte verdutzt. Verunsichert äusserte sie, sie sei ja nicht gestolpert.
Als die Frau wieder zurückkam, und möglichst schnell an seinem Platz vorbeigehen wollte, sprach er sie an. Sie müsse achtgeben, dass sie sich künftig festhalte. Etwas irritiert schaute sie ihn an, nickte aber. Es bestärkte ihn, dass sie seine Angst verstand, weshalb er ihr erklärte, wie gefährlich es sei sich während der Fahrt frei zu bewegen. Die andern Passagiere, welche wieder aufmerksam geworden waren, hörten mit. Plötzlich meinte einer, das sei ein Irrer. Ein anderer mutmasste, es könnte auch ein fauler Trick sein, um Frauen anzugrapschen. Die Leute erregten sich zunehmend, sodass er froh war, als der Zug in seinen Zielbahnhof einfuhr und er sich den Mitreisenden entziehen konnte.
Das Unverständnis, mit dem die Umwelt seinen Bedenken begegnete, verletzten Kleewein. Er war sich sicher, dass seine Befürchtung berechtigt war. Er begann sich mit Berichten von Gefahren zu beschäftigen, um Bestätigung für seine Empfindungen zu finden. Durch einen ausführlicheren Medienkommentar gewann er die Einsicht, dass es nicht einzig Bahnfahrten waren, welche Gefahren beinhalten, vielmehr das Tempo an sich. Der Mensch ist von Natur aus nicht dafür vorgesehen sich in Geschwindigkeiten zu bewegen, welche die technische Mobilität ihm ermöglicht. Diese Erkenntnis nahm immer mehr von ihm Besitz, sodass er die öffentlichen Verkehrsmittel künftig mied und auch sein Auto nicht mehr benutzte. Selbst dem Fahrrad gegenüber stellte sich eine Skepsis ein, welche ihn mehr und mehr zum Fussgänger machte.
Es war beim Joggen, als er in einem Waldstück mit einem Biker zusammenstiess. Der Schreck war gross, die Hautabschürfungen und Prellungen, welche er davontrug, schmerzhaft, sodass er den Heimweg humpelnd antrat. Der Fahrer hatte sich wohl halbherzig entschuldigt, doch ihn vorwurfsvoll angesehen, als ob es verkehrt sei, im Wald zu laufen.
Die Schmerzen waren längst verklungen, die Verwundungen verheilt, aber seine Gedanken drehten sich wiederkehrend um den Unfall. Je länger er sich damit auseinandersetzte, verdichtete sich seine Meinung, dass schon die Körperkraft den Menschen an die Grenzen einer gefahrvollen Mobilität bringen konnte. Er erinnerte sich an einen Zeitschriftenartikel zum Sport, den er mal las. Der Kommentator belegte, dass Sport vorsätzliche Körperverletzung ist, wenn der normale körperliche Bewegungsablauf massiv überfordert, und die Grenzen physischer oder psychischer Integrität missachtet wird. Damals erkannte er die Bedeutung nicht, doch jetzt, da er selbst eine entsprechende Erfahrung machte, verstand er erst den tiefen Sinn dahinter.
Bei seinen Nachforschungen, die inzwischen auch wissenschaftliche Fachzeitschriften umfasste, war Kleewein auf einen neuropsychologischen Artikel gestossen, welcher ihm neue Impulse vermittelte. Daraus entnahm er, dass das implizite Gedächtnis, welches die Motorik des Körpers beinhaltet, länger erhalten bleibt, als das explizite Gedächtnis, welches Aufzeichnungen und Fakten der Erinnerung umfasst. Er hatte die komplexe Materie zwar nicht durchgehend verstanden, aber diese These schien ihm begreiflich. Daraus zog er den Rückschluss, dass selbst wenn er sein Erinnerungsvermögen verlieren würde, die Ausführung seiner antrainierten Bewegungsabläufe erhalten blieben. Beim Gehen bemühte er sich fortan, sorgsam zu schreiten, immer bewusst einen Fuss vor den andern setzend. Nur wenn dies in seinem motorischen Ablauf fest verankert wäre, könnte er sicher sein, dies stets so auszuführen.
Inzwischen war ein Jahr vergangen, sein Leben als Fussgänger war für ihn zu einer stark eingeschränkten Normalität geworden. Die Bequemlichkeit technischer Mobilität ignorierte er. Bei Überquerung von Strassen nahm er die Fahrzeuge als artfremde Objekte wahr. Seine diffusen Ängste verminderten sich nicht, doch stand nun die die Mobilität primär im Fokus. Er verweigerte neuerdings auch einen Lift zu benutzen, vertraute einzig seiner natürlichen Gehart.
Da sein fast neuwertiges Auto ihm nutzlos war, beschloss er es dem Autohändler, von dem er es seinerzeit erwarb, anzubieten. Zu Fuss machte er sich auf den Weg. Die Schaufensterfront bot Einblick in einen weitläufigen Schauraum, in dem Neuwagen ausgestellt waren. Ein heftiges Bremsgeräusch auf der Strasse liess ihn zusammenfahren. Ein Fussgänger, wahrscheinlich plötzlich auf die Strasse tretend, hatte einen Automobilisten zur abrupten Bremsung veranlasst. Er wusste es ja, die Autos waren eine höllische Gefahr, seine Bedenken waren nicht grundlos. In Gedanken versunken trat er auf den Eingang zu. Mit voller Wucht schlug sein Gesicht gegen die blank polierte Glastür, da er diese nicht wahrnahm, und stürzte. In seinem Kopf herrschte Verwirrung, als sei alles durcheinandergeraten. Intensiv auftretend verspürte er Schmerzen, seine Nase war seitlich abgedreht. Als er das Blut bemerkte, welches in Rinnsalen über seinen Mund und Kinn lief, wurde ihm übel.
Im Krankenwagen dröhnte während der Fahrt sein Kopf, wie Puzzleteile suchten seine Gedanken sich neue Passungen. Erinnerungen traten ihm vor die Augen, das Erleben der nächtlichen Bahnfahrt war wieder gegenwärtig. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, seine Bedenken vor der Mobilität waren falsche Interpretationen, ein kafkaeskes Konstrukt seiner Ängste.
Kleewein fühlte sich befreit – einzig das Dach über sich nahm er als bedrohlich nah wahr. Zunehmend bekam er das Gefühl, die Decke und die Wände des Krankenwagens kämen langsam auf ihn zu und würden ihn erdrücken, wenn er nicht bald raus könnte. Sein Atem ging immer schwerer, er spürte eine Beklemmung in seiner Brust. Warum nur, fuhr der Wagen nicht schneller?