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- 10.07.2002
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Last great american whale
Als ich letzte Woche von der Therapie zurückkam, hing ein Poster von Greenpeace an der Wand. Doktor Bermeitinger sagte, es sei ein Geschenk, weil ich so gute Fortschritte gemacht hätte. Es ist das Bild eines Wals, der in den Wellen des Ozeans verschwindet. Das heißt, von dem Wal war bis vor drei Tagen nicht viel zu sehen. Lediglich die Schwanzflosse war winzig klein im Hintergrund des Bildes zu erkennen. Doktor Bermeitinger sagte, bei einem Wal würde man nicht von einer Schwanzflosse sondern von einer Fluke sprechen. Ich habe beschlossen, ihm in dieser Angelegenheit nicht zu widersprechen. Einer Diskussion mit ihm fühle ich mich im Moment nicht gewachsen. Bei dem Anblick der Schwanzflosse fing ich sofort an zu zittern. „Der Wächter, der Wächter“, war alles, was ich sagen konnte. Doktor Bermeitinger legte mir die Hand auf die Schulter und sagte, es sei nur ein Bild und ich solle es auf einen Versuch ankommen lassen. Versuch macht klug, sagte er, und sprach das Wort klug wie kluch aus. Dabei präsentierte er mir ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Der Spruch hätte auch von meiner Mutter kommen können. Überhaupt haben Doktor Bermeitinger und meine Mutter viele Gemeinsamkeiten. Auch die Art, andere Menschen anzulächeln. Ob Doktor Bermeitinger weiß, dass man einen gelbgefärbten Eckzahn sehen kann, wenn er lächelt? Seine Hand lag ziemlich lange auf meiner Schulter, und die ganze Zeit konnte ich den Eckzahn sehen, auf dem sich an diesem Tag noch Reste von Spinat befanden. Schließlich drehte ich mich weg und kotzte in das Waschbecken.
Die nächsten Tage regnete es und ich konnte mein Zimmer nur zu den Essenszeiten verlassen. Dann saß ich schweigend bei den anderen, stopfte das Essen in mich hinein und hegte die trügerische Hoffnung, das Bild möge bei meiner Rückkehr verschwunden sein. Wenn ich in meinem Zimmer war, saß ich auf der schmalen Pritsche, die Knie angewinkelt, die Decke bis zum Hals gezogen und starrte das Poster an. Ich versuchte, den Blick abzuwenden, doch meine Augen wurden wie von einem Magneten immer wieder von dem Wasser, den Wellen und der Schwanzflosse angezogen. Es sah aus, als würde der Wal sich zwischen zwei Wellenbergen verstecken. Vermutlich war er am Abtauchen. Über dem Bild prangte in Regenbogenfarben das Wort Greenpeace. Unter dem Foto stand in weißer Schrift „Last great american whale“. Das war alles. Bis vor drei Tagen. Ich fragte mich die ganze Zeit, warum Doktor Bermeitinger mich mit diesem Poster konfrontierte. Diese blöden Riesenfische gehen mir glatt am Arsch vorbei, wobei das noch ziemlich untertrieben ist. Wenn ich könnte, würde ich den Japsen helfen, diese stinkende Ansammlung von Tran und Fett auszurotten. Es wäre mir ein besonderes Vergnügen, den letzten dieser Biester persönlich abzuknallen.
Vor drei Tagen hat Doktor Bermeitinger mich gefragt, was das schlimmste Erlebnis meiner Kindheit gewesen sei. Wir saßen uns an seinem Schreibtisch im Behandlungszimmer gegenüber. Ich sah ihn fragend an, doch als er anfing, den Eckzahn zu entblößen, drehte ich mich weg und schaute aus dem Fenster. Es regnete. Eine fette Fliege flog wie ein Kamikazepilot gegen das Fenster. Ihr Brummen und das klatschende Geräusch, wenn sie gegen das Fenster knallte, waren die einzigen Laute in dem Zimmer. Ich beobachtete die Fliege und die Regentropfen, die am Fenster hinabliefen und ölige Schlieren hinterließen, und dachte an den Tag, an dem ich das erste Mal aufs Meer hinausfuhr. Ich schloß meine Augen und erinnerte mich an den Sturm, der aufkam und daran, wie ich über ein Tau stolperte und über Bord fiel. Ich strampelte wie verrückt, schluckte Wasser und versuchte verzweifelt, das Tau zu ergreifen, das mir meine Freunde zuwarfen. Meine Mutter hatte mich gewarnt vor dem Wächter des Meeres, der jeden ungebetenen Besucher verschlingt, doch ich hatte sie nur ausgelacht. Jetzt aber, während ich gegen den Sturm und die Wellen ankämpfte, spürte ich, wie er der Wal immer näher kam. In diesem Moment wurde mir klar, dass mir meine Mutter die Wahrheit über den Wächter des Meeres erzählt hatte. Schon konnte ich seinen fauligen Atem riechen, als ich mit letzter Kraft das Tau ergriff. Ich kann mich weder daran erinnern, wie ich an Bord noch wie wir den Hafen erreicht haben. Doch nach diesem Tag bin ich nie wieder auf das Meer hinausgefahren.
Ich öffnete die Augen und war wieder in Doktor Bermeitingers Praxis. Die Fliege flog noch immer ihre Angriffe gegen die Fensterscheibe. Doktor Bermeitinger stand auf und klatschte mit der Hand gegen das Fenster. Dann setzte er sich wieder und säuberte seine Hand mit einem Tempotaschentuch.
„Als meine Katze überfahren wurde“, sagte ich.
Nach der Sitzung brachte mich Doktor Bermeitinger zurück in mein Zimmer. Erschrocken blickte ich auf das Bild an der Wand. Das Meer lag spiegelglatt im Licht der untergehenden Sonne. Keine Wellen, keine Schaumkronen, kein Wal.
„Sehen Sie, der Wal“, japste ich. Er war nicht mehr da. Abgetaucht in die dunkleren Zonen des Ozeans.
„Was ist mit dem Wal?“, fragte Doktor Bermeitinger.
„Die Schwanzflosse“, war alles, was ich rausbekam.
„Fluke heißt das“, sagte Doktor Bermeitinger und schob sich vor das Bild.
Auf seinem Eckzahn glänzte ein glibberiges Stück Eigelb. Ich ging, ohne das Bild aus den Augen zu lassen, zu meiner Pritsche und zog mir die Decke bis unters Kinn. Doktor Bermeitinger schaute zur Wand und schien noch etwas sagen zu wollen. Doch dann drehte er sich um und ging hinaus.
Um elf Uhr wurde das Licht gelöscht. Ich starrte weiter auf das Bild an der Wand. Ich konnte nichts erkennen, doch ich spürte, wie das Ungetüm langsam aus den Tiefen der See emportauchte und dabei unentwegt seine seelenlosen Augen auf mich richtete. Diese Augen sahen genauso durch mich hindurch wie die Augen meiner Mutter an dem Tag, an dem sie mir das erste Mal verbot, im Meer zu schwimmen. Ich beobachtete den Wal, der Wal beobachtete mich. Ich wusste, er lauerte nur auf eine falsche Bewegung von mir, um mich zu verschlingen. Ich hatte hier nichts zu suchen, sagten diese Augen, dies war sein Revier. Gegen Morgen waren meine Beine eingeschlafen und der Wal war wieder aufgetaucht. Er hatte inzwischen die Mitte des Bildes erreicht. Er sah aus wie ein riesiger, schwarzglänzender Torpedo. Auf seiner öligen Haut konnte ich gezackte Narben und kleinere Ansammlungen von Muscheln erkennen.
Ich blieb den ganzen Tag in meiner Zelle, verweigerte den Gang in den Speisesaal und wollte auch nicht mit Doktor Bermeitinger sprechen. Gegen Abend kämpfte ich immer stärker gegen die Müdigkeit. Um nicht einzuschlafen, ging ich zum Waschbecken und spritzte mir eiskaltes Wasser ins Gesicht. Mein Gesicht im Spiegel erinnerte mich an den Tag, als der Wächter in der Badewanne meiner Mutter auftauchte. Noch während ich mein Spiegelbild anstarrte und meine Mutter sah, die immer tiefer tauchte, um sich vor dem Wächter in Sicherheit zu bringen, bemerkte ich in den Augenwinkeln eine Bewegung. Sofort sprang ich auf mein Bett. Der Wal war nähergekommen, er füllte fast das ganze Bild aus. Seine Augen waren geschlossen und doch schien er mich anzugrinsen. Dann öffnete er sein riesiges Maul und ich wußte, die Flucht war zu Ende.