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"Lebe wohl, Mutter!"
Heute Morgen habe ich meine Mutter zum Bahnhof gebracht. Jetzt bin ich allein, wie so oft in meinem Leben. Letzte Woche hatte mich meine Mutter angerufen und gebeten, auf ihr Haus aufzupassen. Diese Bitte konnte ich nicht ausschlagen, denn sie hat doch niemanden mehr, außer mir. Mein Vater ist vor drei Jahren seinem Krebsleiden erlegen. Bis heute ist meine Mutter über diesen Verlust nicht hinweg gekommen. Er war die Liebe ihres Lebens und sie tat alles für ihn. Mit seinem Tod war für sie eine Welt zusammen gebrochen und man sieht ihr an, wie schlecht es ihr geht. Der Arzt hatte ihr schon mehrere Kuraufenthalte vorgeschlagen, doch sie sträubte sich dagegen. Sie wollte das Haus, in dem sie lebt, nicht alleine lassen, aus Angst vor Einbrechern. Aber jetzt, nachdem sie letzte Woche einen Kreislaufzusammenbruch hatte, willigte sie schließlich in eine Kur ein und bat mich, auf ihr Haus aufzupassen. Die Bitte kam passend, denn wenn ich eine Aufgabe habe, lenkt mich das vielleicht von meinen Sorgen und Problemen ab, die mich schon länger beschäftigen.
Ich lege ein paar Holzscheite in den Kamin, darauf dünneres Holz, nehme ein zusammen geknülltes Stück Papier und zünde es an. Anschließend werfe ich es in den Kamin und warte, bis ein Feuer entfacht ist. Die Flammen scheinen zu tanzen und der Geruch des verbrannten Holzes weckt Erinnerungen in mir, Erinnerungen an meine Kindheit.
Oft saß ich mit meinem Vater vor dem Kamin, eingehüllt in eine Wolldecke. Meist hatte er mir aus einem Buch vorgelesen und manchmal erzählte er mir von seiner Kindheit. Ich mochte seine Geschichten und den Kakao dazu, den meine Mutter uns brachte, wenn wir vor dem Feuer saßen. Damals war ich unbeschwert und mit einem Seufzer stelle ich fest, wie sehr ich mich nach dieser Zeit zurücksehne. Als Kind war ich glücklich und malte mir aus, wie meine Zukunft aussehen würde. Spätestens mit dreißig, sagte ich mir, will ich in einem ordentlich bezahlten Job arbeiten, denn Geld setzte ich zu dieser Zeit über alles andere. Geld stand für mich gleich Glück. Der Gedanke an meine damaligen Pläne lässt mich lächeln. Wie gutgläubig und naiv ich damals doch gewesen bin. Heute bin ich fünfundvierzig und Besitzer einer gut laufenden Werbeagentur. Den gut bezahlten Job habe ich also, jedoch nicht das Glück, das ich mir davon versprach. Heute weiß ich, dass Geld allein nicht glücklich macht, doch diese Einsicht kommt zu spät.
Für mich war mein Beruf immer wichtiger als mein Privatleben. Ich wollte stets perfekt sein und keine Fehler machen. Mein Ziel war es, nach ganz oben zu kommen. Doch jetzt, wo ich es erreicht habe, fühle ich eine große Leere in mir. Das erhoffte Glücksgefühl blieb aus. Ich hatte mir nie Gedanken um andere Personen gemacht, die mir nahe standen. Der Beruf stand immer an erster Stelle. Dort wollte ich perfekt sein. Alles was ich anpackte, wurde auch beendet und zwar mit so einer Gewissenhaftigkeit, Sorgfalt und Perfektion, dass es mir das Lob der anderen einbrachte. Natürlich gab es auch Neider und auf viele wirkte ich arrogant. Andere hielten mich für verrückt, weil ich Tag und Nacht in meiner Agentur verbrachte und mir keine Zeit für meine Frau nahm. Damals stand sie für mich nur an zweiter Stelle und als sie mich vor die Wahl stellte, entweder sie oder mein Job, entschied ich mich für letzteres und ließ sie gehen. Erst als sie weg war, bemerkte ich, dass ich einen riesigen Fehler gemacht hatte, doch es war zu spät. Sie war weg, hatte einen anderen, einen, der ihr die Aufmerksamkeit schenkte, die sie verdient hatte.
Nach außen hin tat ich, als wenn mir das nichts ausmachen würde, um bloß keine Schwäche zu zeigen, doch in mir sah es anders aus. Ich bemerkte, dass mir die Nähe und Geborgenheit fehlte, die sie mir gegeben hatte. Dies Gefühl hat bis heute Bestand und jetzt, wo ich über mein Leben reflektiere, ist es stärker denn je.
Heute weiß ich, dass ich versagt habe, versagt im Leben. Den Perfektionismus und die Energie, die ich für meinen Beruf aufgebracht hatte, konnte ich nicht auf zwischenmenschliche Beziehungen übertragen. Ich fühle mich allein und doch kann ich mich nicht ändern. Ich habe versucht, mit anderen über meine Gefühle zu reden, aber jedes Mal, wenn ich kurz davor war, mich jemandem anzuvertrauen, habe ich einen Rückzieher gemacht. Ich wollte niemandem zeigen, dass auch ich Schwächen habe. Die einzige Lösung, die mir eingefallen ist, ist Tagebuch zu schreiben. Und so habe ich damit begonnen. Es zeigt mich so, wie mich keiner kennt. Doch leider hat es mir nicht viel geholfen. Das Buch ist mittlerweile voll und dennoch fühle ich mich nicht besser. Im Gegenteil, je länger und intensiver ich mich mit mir selbst auseinander setze, umso mehr schäme ich mich für mein Verhalten und das, was ich anderen Menschen damit angetan habe. Daher habe ich einen Entschluss gefasst.
Ich stehe auf und gehe zu meiner Reisetasche, die noch unausgepackt in der Ecke des Zimmers steht. Langsam öffne ich den Reißverschluss und blicke auf mein Tagebuch, dass oben auf liegt. Ich nehme es heraus, gehe zum Sofa, setze mich und schlage es auf, nachdem ich es auf den Tisch gelegt habe. Die letzte Seite ist noch frei. Ich beginne zu schreiben:
„Liebe Mutter! Wenn du dieses Buch findest, werde ich nicht mehr da sein. Ich muss gehen, und irgendwo ein neues Leben beginnen, wo mich keiner kennt, wo ich eine neue Chance bekomme, wo ich niemandem etwas beweisen muss. Wenn du dieses Buch liest, wirst du verstehen, was mich dazu bewegt. Ich konnte nie mit jemandem über das Sprechen, was mich beschäftigt. Ich weiß, du wirst enttäuscht von mir sein, dass ich mein Versprechen nicht gehalten und nicht auf dein Haus aufgepasst habe. Aber das ist typisch für mich! Ich habe versagt, sowohl was das Hüten deines Hauses angeht, als auch bei meiner Frau, wie auch sonst im Leben. Es tut mir leid, dass ich mich nicht persönlich von dir verabschiede, doch ich kann es nicht. Deinen traurigen Blick, der mich aber gleichzeitig strafend ansieht, könnte ich nicht ertragen. Mein Tagebuch wird dir mein Verhalten erklären. Ich werde jetzt gehen, um ein neues Leben zu beginnen. Verzeihe mir! Lebe wohl, dein Sohn.“
Mit diesen Worten lege ich den Stift zur Seite, stehe auf, hole meine Tasche aus der Ecke und gehe zur Tür. Ich zögere einen Moment, dann aber öffne ich sie und trete über die Schwelle. Bevor ich die Tür schließe, drehe ich mich noch ein letztes Mal um. Eine einsame Träne rinnt langsam über meine rechte Wange. Sie bahnt sich ihren Weg, läuft über mein Kinn und tropft schließlich auf den Boden. Ich will mich dagegen wehren, doch immer mehr Tränen fließen über mein Gesicht. Sie lassen sich nicht aufhalten. Ich weine. Das erste Mal seit Jahren.