- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 1
Lebe!
Auf der allerletzten, grauen Treppenstufe sitzt er ganz alleine. Zwar wendet jeder Passant den Kopf nach ihm um, auch alle Menschen die es sich wie er auf den breiten Steinstufen bequem gemacht hatten lauschen bedächtig und werfen ihm ab und zu einen Blick hin. Doch alle Leute halten einen unsichtbaren Mindestabstand von zwei Metern ein. Sie wollten nicht für Freunde oder Bekannte des alten Mannes gehalten werden, oder auch nur für Sympathisanten mit solch Obdachlosen oder Landstreichern.
Ihm zuzuhören ist eine angenehme Untermalung des ohnehin zauberhaften Abends. Es ist lau und immer noch hell, obwohl der Himmel langsam eine zarte Rosafärbung annimmt. Der Mond hebt sich, als die blasse Sichel die er nun mal gerade ist, kaum vom pastellfarbenen Untergrund ab. Wie so oft stelle ich mir die Frage, wer eigentlich mit diesem Schwachsinn von Lady Sunshine und Mister Moon angefangen hatte. Es heißt doch immer, dass die Beiden sich niemals trafen, was haben die dann bitte da oben verloren. Die hängen doch fast jeden Abend gemeinsam rum. Das mit den Kleinen Italienern ist auch nicht richtig. Die meisten sind nämlich groß und sehr ansehnlich. Wenigstens die in meinem näheren Umkreis. Ich werfe vorsorglich einen Blick in die Runde um mich zu vergewissern, dass noch alle bello ragazzo am Start sind.
„He, worüber zerbrichst du dir den Kopf?“ Maja rammt mir ihren Zeigefinger zwischen die Rippen. Fragend sieht sie mich unter ihren dichten, aber blonden Wimpern hervor an.
„Conny hätte besser recherchieren sollen“, murmle ich gedankenverloren.
„Welche Conny?“ Maja zieht die Nase kraus und schüttelt ein wenig den Kopf. Ich winke ab. Vergiss es, soll das heißen, und Maja versteht. Weil Maja immer versteht. Weil ich sie bin und sie ist ich. Bei dem Spiel mit der Insel muss ich immer bloß an Maja denken. Alles was ich benötigen würde, wäre sie. Ihr Lachen, ihre nachdenklichen braunen Augen und ihren Schmollmund, den sie selbst Blasergoscherl nennt. Was ich mir übrigens nie erlauben würde. Wenn es jemals wahre Freundschaft gegeben hat, dann zwischen uns Beiden.
„Ich finde der spielt gut“, sagt Maja jetzt träge während sie aus ihren Ballerinas schlüpft und mit den Zehen wackelt. Als ich nicht gleich reagiere deutet sie mit der Hand in die Richtung des alten Mannes, der gerade die grüne Schirmmütze aus Cord, die zu seinen Füßen lag, herum schwenkt. Einige Münzen klimpern ein fröhliches Lied. Es soll die Umsitzenden animieren auch etwas beizusteuern, aber niemand geht darauf ein. Maja und ich sitzen gute vier Meter und einige Stufen entfernt und beobachten das Spektakel. Die Menschen werden immer mehr. Aus allen Richtungen pilgern sie hierher und der Strom reißt nicht ab. Abends ist die spanische Treppe ein beliebter Treffpunkt. Nicht nur für Touristen wie uns, sondern auch für Einheimische. Die älteren sitzen in den Bars und Restaurants rund um die piazza. Junge Leute wie Maja und ich sitzen auf der Treppe, die nun langsam die Wärme abgibt, die ihr der vorangegangene Sommertag geschenkt hatte. Sommer stimmt nicht wirklich, es ist erst Mai. Aber Frühling in Rom ist wie Sommer in Wien. Jetzt packt Maja die kleine Plastikflasche aus und prostet mir zu. Vorsorglich haben wir in der Herberge Rotwein umgefüllt. Jeden Abend ristorante, dass können wir uns nicht leisten. Aber deswegen einen Tag ohne vino ausklingen lassen ist eben auch keine Alternative. Not macht erfinderisch. Sagt man doch, oder? Also packe auch ich mein Fläschchen aus und wir lassen das Plastik mit einem leisen Klicken aneinander schlagen.
„Auf uns“, schlag ich vor, doch Maja schüttelt verstockt den Kopf.
„Auf den Mann. Wir wünschen ihm Glück“, legt sie fest. „Er tut mir leid!“
Zum ersten Mal an diesem Abend sehe ich genauer hin. Er sieht aus wie ein vertrocknetes Olivenzweiglein. Lang, dünn und dunkel. Die Haut ist von der Sonne gegerbt wie die eines Donaufreibaddauergastes, zumeist ja auch ältere Herrschaften. Doch was bei uns ulkig und unnatürlich aussieht, gibt ihm einen reifen und authentischen Touch. Die buschigen, rein weißen Augenbrauen lassen ihn etwas griesgrämig aussehen, aber sein schmallippiger Mund, der von tausenden winzigen Lachfältchen umkreist wird, revidiert diesen Eindruck. Passend zum Hut, trägt er eine dunkelgrüne Cordweste über seinem rot karierten Hemd. Sein Akkordeon ist auch rot, mit weißen Druckknöpfen. Gerade als ich feststelle, dass er mich an meinen Großvater erinnert, blickt er auf und sieht mich an. Er hat dunkelbraune Augen, eigentlich fast schwarz. Er lächelt und ich grinse zurück.
„Sieht doch ganz zufrieden aus“, finde ich und krame die Zigaretten aus meiner Tasche. Ich inhaliere tief und blase den Rauch in den inzwischen lilafarbenen Himmel. Einzelne Sterne blinken schon herab.
„Red doch nicht solchen Unsinn“, Maja wirkt fast entrüstet. „Der arme Kerl spielt hier für einen Haufen Fremde und bekommt sicher nicht viel dafür. Soll das etwa Spaß machen?“
Ich möchte jetzt eigentlich nicht über leidgeprüfte Menschenschicksale nachgrübeln und so die Stimmung der Nacht dunkel färben.
„Vielleicht macht er einfach gerne Musik und findet, dass sein Platz hier an dieser Treppe ist. Oder er hat hier mal vor Jahren die Liebe seines Lebens kennen gelernt und spielt jetzt nach ihrem Tod jede Nacht hier für sie weiter“, entwerfe ich eine kleine Geschichte. Maja zuckt mit den Achseln. „Hoffnungslose Romantikerin“, raunt sie. Ich grinse wieder und nehme noch einen Schluck Rotwein. Tatsächlich ist es mir zwar nicht ganz egal ob der Olivenzweig nun zufrieden ist oder nicht, aber meine Ambitionen sich hier gleich zu Anfang meines neuen Lebensabschnitts als Schutzengel aufzuspielen halten sich in Grenzen. Ganz unauffällig möchte ich den letzten Abend meiner ersten Italienwoche verbringen. Verschwinden! Unter Giebeln und Dächern, in Menschentrauben und Durchgängen, in einer neuen Zeit. Nicht als Touristin herausstechen und sich darüber freuen, wenn jemand mich von vornherein in Italienisch anspricht, so als stellte sich gar nicht die Frage ob ich hier her gehöre.
„Mein Gott ich beneide dich richtig Laura“, flüstert Maja jetzt fast ein bisschen gepresst und streichelt mit der linken Hand über meinen Oberschenkel nur um sich gleich darauf eine Zigarette aus meinem achtlos drapierten Päckchen zu stibitzen. Ich schmunzele. Wenn auch nur um die aufsteigenden Tränen herunter zu würgen.
„Ach was Spinnerin. Du hältst es doch ohne Berge und Seen kein Monat aus. Rom ist nichts für dich. Außerdem hast du so endlich deine Ruhe von mir.“ Maja lächelt jetzt auch. Wir wissen beide wie schwer es ohne unser Miteinander sein wird. Keine Ansprache, aber auch keine Tränenflut kann daran etwas ändern. Also warum nicht gleich lachend Abschied nehmen. Ich nehme Majas zigarettenlose Hand und drücke sie ein wenig. Du wirst mir fehlen, soll das heißen, und Maja drückt zurück. Sie hat wieder verstanden.
Nach einem erneuten Schluck vino wage ich wieder einen Blick in Richtung Straßenmusikant. Traurig verzieht er das Gesicht und quetscht die Harmonika, als wäre sie Schuld am Unglück der gesamten Menschheit. Andrea von Fabrizio de Andre spielt er und legt sein ganzes Herzblut in das Lied. Irgendwie passt das Lied zu Majas und meinem letzten gemeinsamen Abend. Ich schließe die Augen und mache mich ganz klein. Versinke richtig in meiner Stufe und nehme kaum noch die Menschen um mich herum wahr. Die Wärme der Treppe soll mir Trost spenden und mich beruhigen. Ich will diesen Augenblick nie vergessen, denn ich weiß, sooft ich mich in Zukunft einsam fühlen werde in dieser mir fremden Stadt, werde ich hier her zurück kehren und mich an Maja und dieses Lied erinnern und mich forttragen lassen zu ihr.
„Es ist Zeit“, murmele ich jetzt und meine Stimme wird immer gedrückter und winziger. „Der Zug wartet nicht und bis zum termini ist es noch ein Stück!“ Missmutig öffnet Maja ihre Augen. Auch sie war in Gedanken. Ich reiche ihr eine Hand und sie lässt sich bereitwillig hoch ziehen. Ich weiß nicht warum, doch plötzlich überkommt mich das dringende Bedürfnis, dem Musikanten für seinen stimmungsvolle Abschiedsuntermalung zu danken und ich krame in meiner Handtasche nach dem Portemonnaie. Wieder nehme ich Maja an der Hand und ziehe sie hinüber zu dem alten Mann. Geräuschvoll lasse ich ein Zweieurostück in seine Mütze fallen.
„Jetzt du“, befehlige ich und sehe Maja tief in die Augen. Das Klimpern berichtet vom Ankommen ihres Geldstückes. Gerade will Maja sich umdrehen da winkt der Mann uns näher zu sich.
„Komm“, bitte ich Maja zu bleiben und weiß selbst nicht warum. Der Musikant deutet uns, sich zu bücken und ich folge ihm sogleich. Nach längerer Zeit geht auch Maja in die Knie. Der Alte stimmt ein Lied an, so traurig und fesselnd wie ich es noch nie zuvor gehört habe. In einem meiner Lieblingsbücher steht etwas vom Weinen ohne Augen, dass man in bestimmten Musikstücken erfahren kann. Genauso fühle ich mich jetzt. Geduldig hocke ich neben dem Mann und versuche seine Botschaft herauszuhören. Zuzuhören bis zum Schluss, obwohl Maja an meiner Hand zappelt und augenscheinlich schon in Richtung Bahnhof abhauen will. Doch ich halte sie fest und lasse sie nicht gehen. Sie muss jetzt bei mir sein, das spüre ich. Nach einiger Zeit gibt Maja auf und gleitet zurück auf die Treppe. Auch sie lauscht nun bedächtig. Ihre Augen sind wieder geschlossen und sie lässt sich wiegen von der Musik und dem inneren Weinen. Als der Mann geendet hatte blickt er uns fest an.
„Einen Wunsch!“ Mehr sagt er nicht. Ohne darüber nachzudenken wie unheimlich es ist bei einem Akkordeonspielenden Italiener einen Wunsch frei zu haben, drücke ich erneut Majas Hand.
„Heute in einem Jahr. Heute in einem Jahr, genau an dieser Stelle treffen wir uns wieder!“ Meine Stimme gleicht einem knirschenden Flüstern. Maja verdreht die Augen und lächelt etwas zornig.
„Wenn ich meinen Zug verpasse, ein Fall der übrigens sicher schon eingetreten ist, kannst du mich ruhig etwas länger beherbergen. Also keine Angst!“
„Sei ernst“, bitte ich und weiß gar nicht warum mir das Ganze so wichtig ist. „Versprich mir dass du zurückkommst!“ Es ist keine Bitte sondern eine Forderung.
„Ich verspreche es“, Maja sieht mich skeptisch an. „Seit wann bist du abergläubisch?“ Ich küsse ihre Stirn und der Zauber ist vorbei. Der alte Mann spielt wieder Umberto Tozzi und Maja und ich laufen zum Bahnhof.
Natürlich war der Zug abgefahren.
Natürlich war Maja sauer.
Am nächsten Morgen in der Herberge hören wir es in den Nachrichten. Alle tot. Alle Leute die darin gesessen hatten. Mütter, Väter, Kinder, Liebespaare…Alle! Wir weinen schrecklich und können es gar nicht fassen. Den ganzen Tag brauchen wir um uns zu beruhigen und alle Verwandten und Bekannten die pausenlos auf Majas oder meinem Handy anrufen. Es ist dunkelschwarz, es ist trauriger als Weinen ohne Augen und unheimlicher als Akkordeonspielende Italiener.
„Wir müssen ihn suchen“, beschließt Maja abends. Ich nicke nur. Irgendwie kann ich es immer noch nicht glauben. Fast hätte ich den wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren. Unwiederbringlich! Maja hetzt durch die Gassen, getrieben von der Energie einer fast Umgekommenen. Ich trabe ihr nach. Schwitzend, hechelnd, durstig. Wir finden ihn nicht.
Wir sehen ihn nie wieder!