Was ist neu

Leben und Sterben

Mitglied
Beitritt
26.06.2005
Beiträge
32

Leben und Sterben

Leben und Sterben

Mein Blick streift den grau verhangenen Herbsthimmel. Der Wind reißt gnadenlos an den Blättern des Baumes vor meinem Fenster und irgendwann geben sie den Widerstand auf, fallen zur Erde, gehen in einen neuen Kreislauf ein. Das ist Leben.
Alles beginnt immer wieder von vorn, hatte Frank gesagt.

Ich habe viel gesehen und viel erlebt. Ich bin umhergestreift wie ein Nomade, auf der Suche nach neuem Land, welches es zu erobern galt. Auf der Suche nach Heimat, einem Platz, an dem ich mich wohl fühlen konnte. Manchmal habe ich einen solchen Platz gefunden.
Aber alles fängt eben immer wieder von vorne an.
Und so verschoben sich die Grenzen meines Glücks, mal hinter mich, mal vor mich, ich musste hinterherlaufen, manchmal auch im Geiste zurückgehen. Die Suche nach dem verheißenen Land.
Frank sagte immer, das Glück kann auch im Schmerz liegen, wenn man Eins mit sich selber sein möchte. Mit der Nase durch die Scheiße, so nannte er es. Ich habe viel Scheiße gefressen.
Hin und wieder wollte ich daran zerbrechen. Aber das Selbst, die Seele war dagegen. Das Göttliche, sagte Frank immer.
Der Grenzer, wenn man so will. Manchmal auch Botschafter, Krieger. Auch Geliebter. Und verlorener Sohn auf der Suche nach Selbstwertgefühl und Eigenständigkeit.

Und wo bin ich jetzt? Ist das eine Grenze wie all die anderen, die ich überquert habe?

Jeder Tag ist eine Grenze, sagte Frank immer. Kein Tag ist wie der andere, also jedes Mal Neuland. Auch wenn ich so manchen Tag immer wieder gleich gestaltet habe. Vielleicht war es der Wunsch nach etwas, dass ich irgendwo zurückgelassen hatte. Die Sehnsucht nach den Ereignissen vergangener Tage. Gier nach wunderbaren Erfahrungen, welche hinter mir lagen. Wusste ich denn, ob ich irgendwann wieder einmal solche Dinge erleben würde?
Irgendwann lernte ich, dass mein Selbst nicht in der Vergangenheit leben kann. Mit jeder Grenze die ich überschritt, entfernte ich mich mit gleich bleibendem Abstand von der Vergangenheit.
Die Seele blickt nach vorn, sagte Frank immer.

Das war der Zeitpunkt, an dem ich mit meiner inneren Zerrissenheit aufräumte. Ich begann, meine „Ländereien“ zu befrieden. Nicht mehr Hunderte von Bruchstücken, jedes abgegrenzt vom Ganzen. Nicht mehr springend mittendrin.
Durch Meditation Eins werden, sagte Frank immer.

Ich konnte nie richtig meditieren, höchstens automatisch, intuitiv. Mich hinsetzen und den Geist in einen leeren Raum zu führen, dazu war ich immer zu unstet, hin und her getrieben. Aber manchmal passierte es eben, einfach so. Frieden. Harmonie. Ausgeglichenheit.
Und das befähigte mich, in meinem Leben Grenzen umzustoßen.
Ausprobieren und sehen, was dein Selbst damit anfangen kann, sagte Frank immer.

Einen Platz innerhalb der Millionen abgesteckter Claims dieser Welt zu finden, dass war der Anfang. Schule schwänzen. Partys und voll gekotzte Toiletten. Das erste Mal mit Janine. Legale Drogen. Es bewegte sich innerhalb der ‚moralischen’ Grenzen der Gesellschaft. Ganz normal eben.
Irgendwann aber verließ ich dieses Land. Ging in die Isolation.
Eine gute Möglichkeit, um zu sich zu kommen, sagte Frank immer. Er selbst hatte sich schon oft und lange isoliert, manchmal durfte selbst ich nicht zu ihm herein.

Bis diese Phase von einer neuen abgelöst wurde.
Du musst die Phasen bewusst erkennen und wählen, sagte Frank immer. Das sei Freiheit.
Er sagte so etwas immer mit absoluter Selbstverständlichkeit, mit einer Seelenruhe, dass es mich genau im Innersten traf. Einen Ton in mir zum Schwingen brachte. Freiheit ist ein schönes Wort. Freiheit war der Ton, der die Isolation auflöste.
Auf zu neuen Ufern, hieß es dann.

Wer hätte schon von mir gedacht, dass ich so schnell heiraten würde? Ich begab mich in Grenzen, die durch knallharte Regeln definiert waren. Nach einem Vierteljahrhundert überschritt ich diese Schwelle und fühlte mich frei. Freiheit hat tausend Gesichter, sagte Frank immer.
Hier fand ich auch zum ersten Mal eine Heimat. Ich war in ihren Armen, in ihren Küssen, in ihrer Wollust zu Hause. Ich liebte und lebte.
Leben ist etwas, das viele verlernt haben, Lieben sowieso. Das sagte ich immer zu Frank. Er nickte jedes Mal wissend.

Wir lebten uns aus. Verbotene Regionen. Koksen bis zum Umfallen. Im Drogenrausch konnten wir die Freiheit mit Löffeln essen. Regenbogenfarbene Löffel der Lust. Freiheit ist Lust, sagte Frank immer, bevor er meine Frau vögelte.
Da gab es auch keine Grenze mehr zwischen gleichen Geschlechtern. Ich hatte mich immer gefragt, wie es wohl wäre, einen Schwanz zu blasen. Frei, stöhnte Frank, als ich es tat.
Überhaupt ist Sex ein Gebiet, auf dem die Grenzen so dermaßen in Bewegung sind, dass man sich an ihrer Freiheit schneiden kann. Mich machte es an, wenn meine Frau es mit anderen Männern trieb.
Sie hingegen machte der Gedanke, wie ich Sex mit einer anderen Frau hätte, wahnsinnig eifersüchtig. Eine der Grenzen, die man um der Freiheit willen besser nicht überschreitet.
Paradox aber real, sagte Frank immer.

Zweimal in meinem Leben war ich im Urlaub. Beide Male ohne meine Frau. Mit fünfzehn und mit achtunddreißig. Zu letzterem Zeitpunkt hatte sie mich bereits verlassen. Weil ich die Grenze doch übertreten hatte und mit der Nachbarin schlief. Rosenkrieg, Scheidung. Ein Teil meines Herzens wurde mir herausgerissen.
Mit der Fresse durch die Scheiße, volles Rohr. Unflätiges Leben.

Also über die nächste Grenze, zwar gegen meinen Willen darüber hinweg geschleift, aber egal.
Gipfel der Lust und dann ein Fluss voller Tränen.
Life ain’t easy.

Da wird man fünfzig und fühlt sich völlig unverändert. Als sei man nicht fortgeschritten, als habe man keine fünfzig Sommer und Winter erlebt. Gehe über Los und gib fünfzig Lebensjahre ab.
Ein halbes Jahrhundert und arbeitslos, wie die meiste Zeit in meinem Leben. Keine Verwendung für den studierten Denker und liberalen Schöngeist. Leben am Abgrund.
Schriftstellerei, die am Ende doch nur für einen selbst war.
Für das innere Selbst, sagte Frank immer.

Liebschaften hatte ich zwar, aber keine Liebe mehr. Mit achtunddreißig war ich über eine Grenze gegangen, die in eine Einbahnstrasse führte.
Das war schon in Ordnung. Denn die Seele strebt vorwärts, nicht rückwärts. Obwohl ein bisschen Traurigkeit trotzdem da ist. Und Neid.
Sie hatte kurz nach der Scheidung einen anderen geheiratet. Und drei süße Kinder bekommen. Eigentlich hätten es meine sein sollen. Aber das war eine Grenze, die ich nicht überschreiten konnte. Da war’s dann aus mit der Freiheit.

Freiheit ist dort, wo du deinen Willen frei sein lässt, sagte Frank immer.
Ich habe das schon verstanden. Aber ab und zu, da frage ich mich, was denn nun mit der Freiheit ist, wenn die Umstände, wie in meinem Fall, gegen die Herzenswünsche sprechen. Ich will Liebe geben, diese aber wird abgelehnt.
Ich enge mich selber ein, bin zu sehr auf Gedankengebäude und temporäre Gefühle fokussiert, hätte Frank sicher gesagt. Er hätte ja auch Recht gehabt.
ABER VERDAMMT NOCHMAL, ICH FÜHLE DAS EBEN SO.

Merkwürdig, dieses Leben. Aus der Entfernung betrachtet entbehrt es nicht einer gewissen Komik. Sterbe ich nun einfach so und gehe über ins Nichts?
Ich liege hier in dem Krankenhausbett und mein Leben zieht an mir vorüber. Man sagt doch, dass passiert wenn man stirbt. Ich bin neugierig was sich hinter dem Nebel, hinter der letzten Grenze befindet. Eine andere Freiheit?

An dem Baum hängt noch ein Blatt. Es wehrt sich standhaft. Ich beschließe zu sterben, wenn der Wind das Blatt besiegt hat. Im nächsten Jahr hängt ein neues Blatt an seiner Stelle. Alles fängt immer wieder von vorne an, das sagte mein alter Freund Frank immer. Er selber ist schon lange zu Boden gefallen.

Ich wäre gern unsterblich, haben wir beide immer gesagt. Vielleicht sind wir das auch und wissen es nur nicht.

 

Hallo Judas,

musste mich etwas durch deine Geschichte kämpfen, um nicht die Lust daran zu verlieren. Dass es sich um das vorbeiziehende Leben eines Sterbenden handelt, hat sich mir erst Mitte des Textes offenbart. Ich weiß nicht, wie das von dir beabsichtigt war, aber dein Prot erscheint mir im Nachhinein etwas farblos und einen Aha-Effekt hatte ich auch nicht.

Es tut mir Leid für deine Geschichte, aber mir hat sie nicht gefallen. Es plätschert einfach vor sich hin. Auch die Rolle des Frank ist mir etwas schleierhaft. Aber vielleicht kann sich ein anderer Leser etwas mehr in deine Geschichte einfinden und dir auch etwas Konstruktives dazu sagen.

Gruß
Thor

 

In gewissem Sinne versucht der Text, die gescheiterte Suche nach einem Sinn des Lebens darzustellen. Verwirft alle Wege, ihn in orgiastischen Erlebnissen zu finden. Und in diesem Leben gab es immer einen, einen engen Freund, der die Vorgaben lieferte, als hätte er den großen Plan erkannt.

Nein, begeistert hat es mich nicht. Der Protagonist bleibt, da gebe ich Thor vollkommen recht, farblos, verharrt in einem lethargisch-abgeklärten Ton, der (leider) einschläfernd wirkt. Die beschworenen Erinnerungen erschaffen kein Bild, alles, was da tragisch und niederdrückend sein könnte, bleibt nichts als ein kleiner Punkt einer langen Liste, die abgearbeitet wird. Vielleicht hast Du das beabsichtigt. Aber es mit Energie und Anschaulichkeit zu erzählen, hielte ich für sehr viel spannender.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom