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Lebensgefährten
Lebensgefährten
Es hatte immer nur mit Comics funktioniert. Vielleicht lag das an den Bildern.
Sie konnte sich noch genau an das erste Mal erinnern. Sie hatte in der Bibliothek gesessen, die ihre Mutter ehrenamtlich betreute, und hatte Comics gelesen. In der Bibliothek las sie immer Comics, denn für ein ganzes Buch langten die zwei Stunden, die sie hatte, nicht.
***
Sie fiel.
Dann spürte sie festen Boden unter sich. Ein intensiver Geruch schlug ihr entgegen. Es roch nach Schweiß, Tabak, Holzfeuerrauch und Pferd. Elena schlug die Augen auf, die sie beim Fallen zugekniffen hatte.
Ihr gegenüber saß ein Cowboy am Lagerfeuer. Er war groß und dünn. Er trug Blue Jeans, ein gelbes Hemd, eine schwarze Weste und ein rotes Halstuch. Auf seinen schwarzen Haaren saß ein breitkrempiger weißer Lederhut. Zwischen seinen Lippen klemmte eine Zigarette.
„Hallo“, sagte er, ohne ein Anzeichen von Erstaunen.
Elena schluckte, zwinkerte zweimal und rieb sich dann noch mal die Augen. Der Cowboy blieb, wo er war. Im Hintergrund graste ein weißes Pferd.
„Du bist Lucky Luke“
“Jäh!“ Er lächelte freundlich.
„Aber... aber...“, ihr fiel nicht ein, was sie sagen sollte.
„Und wer bist du?“, versuchte er ihr zu helfen.
„Oh, ja. Entschuldigung. Ich bin Elena Sander.“ Sie sprach mit einer Comicfigur. Na ja, eigentlich sah er nicht aus wie eine Comicfigur. Natürlich war er so angezogen, aber er war ein richtiger Mensch.
„Alles okay?“, fragte er besorgt. Elena nickte zögernd. Langsam begann sie sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie mit jemandem sprach, den sie nur – na ja vom Sehen kannte.
„Gut. Kann ich dich ein Stück mitnehmen? Ich muss nach Titustown. Hast du schon mal ein Ölfeld gesehen?“ Elena schüttelte den Kopf. „Und, möchtest du?“
Das kann nicht wahr sein! sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Aber Elena drängte sie zurück. Das hier hörte sich nach einem großartigen Abenteuer an.
„Darf ich auf Jolly Jumper reiten?“
Er lachte und hob sie in den Sattel.
***
Wie oft sie ihn besucht hatte, konnte sie später nicht mehr sagen. Über hundert Mal bestimmt. Und nicht nur ihn. Sie erinnerte sich, wie sie mit Spirou und Fantasio nach Palumbien gereist war. Sie war an der Seite von Tim durch den Sonnentempel gezogen und hatte Gaston bei seinen Experimenten über die Schulter gesehen. Idefix hatte unzählige Haare an ihren Pullovern gelassen. Weltraumreisen lagen hinter ihr, und Ritterturniere, Schatzsuchen und Agenteneinsätze. Und niemals niemals war sie in Gefahr gewesen. Denn da waren immer ihre starken Freunde, die sie beschützten und behüteten.
Ab und zu war es richtig knapp gewesen. Wenn das Marsupilami sie nicht aus dem Fluss gezogen hätte, wäre sie bestimmt von den Piranhas gefressen worden. Und einmal war sie mit einem Hubschrauber abgestürzt. Sie wusste schon gar nicht mehr, in welchem Comic das gewesen war.
Es gab aber eine Regel, die sie nie hatte brechen dürfen. Sie alle hatten ihr gesagt, sie dürfe nicht über Nacht bleiben. Und Elena war sich sicher gewesen, dass dann etwas Schreckliches passieren würde.
***
Wieder einmal saß sie am Lagerfeuer. Immer tauchte sie hier auf, wenn sie Lucky Luke besuchte, immer das selbe Feuer hinter dem kleinen grünen Hügel an dem schlammigen Fluss. Sie spuckte ihr Kaugummi aus und betrachtete ihren alten Freund. Er sah aus, wie immer. Er änderte sich nie.
„Du warst lange nicht mehr da“, stellte er fest. Elena bekam ein etwas schlechtes Gewissen. Tatsächlich trieb sie sich in letzter Zeit viel häufiger mit Batman herum. Bisweilen auch mit dem Sandman. Lucky Luke erschien ihr so kindisch. Heute war sie eigentlich nur hier, weil ihre Mutter ihr Hausarrest verpasst und die Comics weggenommen hatte. Den alten Lucky Luke hatte Elena am Boden eines Pappkartons gefunden, ganz hinten im Schrank.
„Du solltest nicht so viel rauchen“, antwortete sie, statt sich zu entschuldigen. Sie wollte kein schlechtes Gewissen haben, war sie ihm etwa schuldig, ihn zu besuchen?
„Wahrscheinlich hast du recht.“ Er nahm die Zigarette aus dem Mundwinkel, drückte sie an einem Stein aus und schmiss sie dann ins Feuer.
„Und dein Hemd könntest du auch öfter mal waschen!“ Sie hatte richtig Lust zum Nörgeln.
„Schlechte Laune?“ Warum musste er immer so verdammt einfühlsam sein? Warum war sie überhaupt hierher gekommen. Eigentlich hatte sie keine Lust, zu reden. Eigentlich wollte sie alleine sein.
„Hmf“, knurrte sie. „Warum erschießt du eigentlich nie einen?“
Er zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
„Sollte ich denn?“
„Ja. Nein. Weiß nicht. Ach, auch egal. Ich glaub, ich will wieder heim.“ Sie stand auf und reckte die Hände nach oben. Ein plötzlicher Ruck lief durch ihren Körper und sie wurde nach oben gerissen. Sie kehrte nach Hause zurück. Zurück zu den Modepüppchen in ihrer Klasse, die über ihre Figur lachten und den Jungs, die sie ignorierten.
***
Sie hatte ihrem ersten Freund erzählt, dass sie in Comics gehen konnte. Er hatte sie ausgelacht. Ob sie denn noch Comics lese. Das sei doch kindisch.
„Na und!“, hatte sie schnippisch geantwortet. „Erwachsen bin ich schließlich lange genug!“ Dann hatte sie ihn stehen lassen und hatte statt dessen Spiderman einen Besuch abgestattet.
***
Lucky Luke kaute auf einem Grashalm.
„Ich bin froh, dass du mit dem Rauchen aufgehört hast“, sagte sie. „Das ist nämlich ziemlich ungesund!“
„Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, hätte ich auch mein Hemd gewaschen.“ Er grinste. Sie musste lachen. Es tat gut, zu lachen. Das konnte sie in letzter Zeit so selten.
„Es tut mir leid, dass ich dich so lange nicht besucht habe. Ich hatte so viel zu tun. Anja ist in die Schule gekommen. Und Lukas hat Fieber. Außerdem...“ Ihr kamen plötzlich die Tränen. Er sah sie verwirrt an.
„Was ist los?“
„Ach nichts“, sie wischte sich die Nase am Pulloverärmel ab. „Lass uns irgendwohin reiten, ja? In den Sonnenuntergang. Und sing’ was für mich, bitte!“
Das Gute an ihm war, dass er nie fragte. Er war nur da und tröstete. Es tat gut, sich an ihn lehnen zu können und ihn zu riechen. Er roch so wild. Keiner von unseren Männern riecht so! , dachte sie, und musste wieder weinen.
***
Immer seltener hatte sie ihre Freunde besucht. Denn wann immer sie ein Comic kaufte, sah Alexander sie strafend an.
„Kinderkram“, hatte sie ihn einmal murmeln hören. Sie hatte die Hefte hinter ihrem Bett versteckt oder in der Schublade unter ihrer Unterwäsche. Nur nachts war sie manchmal heimlich aufgestanden und hatte durch die bunten Seiten geblättert. Hatte ihre Freunde betrachtet, ihre Gefährten, die nie älter wurden und nie müde. Meistens hatte sie sich nicht getraut, zu ihnen zu gehen.
***
Eigentlich war er ein ziemlicher Jungspund. Die dunklen Haare, die ihm immer in die Augen fielen, sodass er sie wieder und wieder zurück strich. Manchmal erinnerte er sie an ihren Jüngsten.
„Wohin willst du heute?“ Er war unternehmungslustig, wie immer, aber dieses Mal hatte sie etwas Anderes vor.
„Ich möchte dich etwas fragen.“
Er hob den Kopf, strich sein Haar aus den Augen und sah sie erwartungsvoll an.
„Kommen auch andere hierher? Andere wie ich?“ Er zögerte. Suchte nach Worten. Das war das erste Mal, dass sie das sah.
„Ab und zu kommen andere. Aber nie für lange“, antwortete er schließlich. Sie runzelte die Stirn.
„Was heißt das?“
„Die anderen sind immer nur Kinder. Irgendwann besuchen sie mich nicht mehr. Du bist die Einzige, die immer wieder kommt.“
Nachdenklich stützte sie das Kinn in die Handfläche. Fragte sich, ob das etwas zu bedeuten hatte. Und wenn, ob es etwas Gutes war.
„Mein Freund hat mich verlassen.“ Sie hatte es gar nicht sagen wollen, doch nun war es heraus.
„Das tut mir leid“
„Braucht es nicht. Er fand, ich sei zu kindisch. Vielleicht bin ich das ja auch...“ Ihre Gedanken verloren sich.
***
Ihre eigene Tochter hatte sie ausgeschimpft. Hatte ihr vorgeworfen, realitätsfern zu sein. Sie habe keinen Bezug zur Wirklichkeit, hatte sie gesagt. Damit habe sie auch Papa vertrieben. Und Alexander. Ihre Tochter hatte Alexander sehr gerne gehabt. Als er auszog, folgte sie ihm kurz darauf nach München. Dort wolle sie nun wohnen und arbeiten.
Elena hatte nur dagesessen und ihre Comicsammlung betrachtet.
***
„Wird dir eigentlich nie langweilig?“ Er schüttelte den Kopf.
„Warum?“
„Ich dachte immer, wenn man ewig lebt, wird es einem irgendwann langweilig.“
„Vielleicht, wenn man so ist, wie du. Nicht, wenn man so ist, wie ich.“
„Was passiert eigentlich, wenn ich hier bleibe?“
„Ich... weiß nicht.“ Das leichte Zögern war ihr aufgefallen.
***
„Du kannst das Zeug doch nicht mitnehmen ins Heim!“, schimpfte Anja. Elena betrachtete nachdenklich ihre Tochter. Wann hatten sie eigentlich aufgehört, zu reden und angefangen, zu streiten. Es musste schon lange her sein.
„Warum nicht?“ Sie wusste, dass sie sich stur anhörte. Wie eine alte Frau, dachte sie. Aber das war sie ja auch. Anja seufzte und drehte sich zu ihrem Bruder um. Elena wusste, dass sie jetzt die Augen verdrehte. Lukas trat lächelnd zu ihr.
„Schau, Mutter, es gibt doch gar nicht so viel Platz dort. Ich bin sicher, die Kinder freuen sich, wenn du ihnen die Comics schenkst. Sie werden auch gut drauf aufpassen.“ Er fasste die Hand seines Sohnes fester, der mit großen Augen zu Elena aufsah. Sie drehte sich um, ging in ihr Schlafzimmer und setzte sich aufs Bett. Sie wollte nichts mehr hören.
Im Wohnzimmer unterhielten sich ihre Kinder. Elena mochte alt sein, aber sie hatte immer noch gute Ohren.
„Warum glaubt sie eigentlich, dass wir sie ins Heim bringen? Doch nur wegen diesem Schund!“ Sie konnte den Zorn in Anjas Stimme hören. „Ich will nicht, dass die Leute sagen, meine Mutter sei eine Irre.“
Lukas seufzte. „Das tun sie doch sowieso schon.“
***
So angenehm der Geruch, der über der Prärie hing. Warmes Gras wogte im lauen Sommerwind und irgendwo in der Ferne zogen Büffel dahin. Die Sonne war riesig vor dem weiten Horizont. So riesig und rot, wie sie es nie zu Hause war.
„Es wird spät“, mahnte er leise. „Du musst nach Hause!“
„Sag mir, was mit dem passiert ist, der geblieben ist. Ist er gestorben?“ Er leugnete nicht.
„Nein. Es war ein kleiner Junge. Er wollte nicht mehr nach Hause, da hat er hier übernachtet. Am nächsten Morgen erwachte er und war erwachsen. Er konnte auch nicht mehr zurück. Er ist zu einem Teil dieser Welt geworden, wie wir alle. Er hat das nie verkraftet. Ein Jahr später hat er sich umgebracht. Wahrscheinlich wollte er hier gar nicht leben.“
Sie sah ihn lange an. Die Sonne sank allmählich tiefer. Gleich würde er wieder singen. Er hatte eine sehr angenehme Stimme.
Mit einem leichten Lächeln streckte sie sich auf dem Rücken aus und sah zum Himmel auf. Die ersten Sterne traten empor. Sie fragte sich, wie alt sie sein würde, wenn sie am nächsten Morgen erwachte.