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Lebensmüde
Schwermut hatte von ihm Besitz ergriffen. Er saß in der Stube seines friesischen Hauses und starrte auf die nebelumhüllte doppelte Baumreihe, die den Gartenweg säumte. Nicht nur draußen vor dem Fenster war es Herbst, auch in seinem Inneren standen alle Zeichen auf den kommenden Winter. Der Winter, dem er mit Bangen entgegensah, weil er nichts von ihm erwartete als Schmerz, Leid und Einsamkeit. Er hatte soviel erlebt, soviel gesehen, doch im Gegensatz zu vielen Altersgenossen, von denen er gelegentlich in der Zeitung las, wollte er nicht den Rest seiner Tage damit verbringen, die Vergangenheit wiederzuleben, damit die Gegenwart nicht ganz so unerträglich erschien. Er war einfach nur müde, von einer Erschöpfung erfüllt, die sich langsam, aber stetig in seinem Körper ausbreitete. Sicher, er könnte gegen die Mattigkeit ankämpfen, die ihn bald eingelullt haben würde, aber wozu? Wofür lohnte es sich noch zu kämpfen? Für ihn war die Zeit der großen Schlachten eindeutig vorbei. Und er hatte auch gar nicht mehr die Kraft zur Rebellion, zum Widerstand. Er sehnte sich nur noch nach Ruhe und Schlaf.
Ruhig war es dieser Tage häufig in seinem kleinen Haus. Die einzige, die ab und zu mal Lärm machte, war die Nachbarin, die zweimal die Woche kam, um sauber zu machen und für ihn einzukaufen. Montags reinemachen, donnerstags den Kühlschrank füllen. Er konnte es nicht leiden, wenn sie in ihrer tollpatschigen Art gegen den weißen Emailleeimer stieß oder das gerade hereingebrachte Gemüse polternd auf dem Küchenfußboden verteilte. Noch weniger konnte er es ausstehen, wenn sie ihren Köter mitbrachte, diese kleine Töle, die überall herumwuselte, ständig kläffte und nicht selten vor lauter Hysterie auf den Wohnzimmerteppich pinkelte. Aber zum allem Überfluss war die besagte Nachbarin die einzige, die sich seine Launenhaftigkeit noch bieten ließ. Und auf Hilfe war er nun mal angewiesen. Seufzend beugte er sich aus seinem Sessel vor, gab mit der Zuckerzange Kluntjes in seine Tasse, goss schwarzen Tee darüber und ließ ein paar Tropfen Sahne hinterdrein fallen. Gedankenverloren rührte er in seinem Getränk. Ohne dass er Einfluss darauf nehmen konnte, reiste sein Geist in die Dreißigerjahre zurück.
Nach der Volksschule hatte er auf Drängen seiner Eltern eine Lehre gemacht und sich danach für den Militärdienst gemeldet. Dass er diesen Dienst nicht in seiner Heimatstadt machen konnte, war ihm nur recht. Der räumliche Abstand zu seiner Familie tat ihm gut. Er konnte sich entfalten, aufleben. Freilich, er hatte Verpflichtungen, und der Spieß wachte mit Argusaugen darüber, dass sich seine Soldaten ordentlich betrugen. Aber diese Autorität war nicht mit der zu vergleichen, die seine Eltern innehatten. Hier wurde er für voll genommen, hier wollte ihn niemand vor sich selbst und „schlimmen Fehlern“ beschützen.
Eines Abends hatte er sie in einem Wirtshaus kennen gelernt: Margret. Eine hübsche, dralle, lebenslustige, junge Frau. Wenn sie lachte, hatte sie so niedliche Grübchen in den Wangen. Ihr langes, blondes Haar roch immer ein bisschen nach Sommer. Ihren Fingern wohnten magische Eigenschaften inne. Ihre üppigen Brüste mit den dunklen Brustwarzen waren die Wucht. Und was für einen Hintern sie hatte!
Zuletzt hatte er sie im Herbst 1939 gesehen. Sie waren sehr in einander verliebt gewesen, hatten sich schon verlobt, doch dann kamen der Krieg und der Marschbefehl. So oft er konnte hatte er ihr Post von der Front geschickt, sich in vielen sehnsuchtsvollen Nächten zu ihr geträumt. Den goldenen Ring, auf den er so lange gespart hatte, mit dem eingravierten Verlobungsdatum und Margrets Namen, hatte er immer an einer Kette um seinen Hals getragen. Eines Tages wurde er verwundet, verlor ein Bein und kehrte schließlich in die Stadt zurück, in der Margret auf ihn warten würde. Und dann, kurz vor seiner Ankunft, kam die Schreckensnachricht: Die Stadt war bombardiert worden! Von zahllosen Toten und Verwundeten war damals die Rede gewesen; das Ausmaß der Schäden war zu dem Zeitpunkt noch nicht abzusehen.
Plötzlich wurden die Sekunden zu Minuten, die Stunden zu Tagen. Eine würgende Angst kroch in ihm hoch. In seinem Kopf entstanden Grauen erregende Bilder, die von seinen Kriegserlebnissen nur noch verstärkt wurden. Er sehnte die Ankunft am Zielbahnhof herbei – und fürchtete sie gleichzeitig mehr als alles andere auf der Welt.
In dem Teil der Stadt, in dem sie einst gewohnt hatte, stand kein Stein mehr auf dem anderen. Fassungslos stand er später vor den Trümmern ihres Elternhauses, wühlte wie von Sinnen mit bloßen Händen im Schutt, suchte in allen Krankenhäusern und Lazaretten nach ihr und ließ sie auf die Vermisstenliste setzen, während Ohnmacht und Verzweiflung bis weit über die Unerträglichkeit hinaus in ihm wuchsen. Alles vergebens. Er sah sie nie wieder. Irgendwann, vielleicht nach einigen Monaten (oder waren es doch Jahre?) wich der brennende körperlose Schmerz, der ihm immer wieder Tränen in die Augen trieb, endlich einer betäubenden Leere.
Der Krieg hatte ihn völlig verändert. Er war nicht nur seines Beines und seiner Verlobten sondern auch seiner Illusionen beraubt worden. Er hatte nicht für sein Vaterland, sondern für die wahnsinnigen Ideen eines Verrückten gekämpft, der durch geschickte Schachzüge und die Leichtgläubigkeit der anderen an die Macht gekommen war. Von den 68ern musste er sich als Nazi beschimpfen lassen. Er wurde kauzig, ja unausstehlich, verlor eine Arbeit nach der anderen und wurde sehr früh auf das Abstellgleis der Rentner geschoben. Irgendwann machte er eine Reise nach Schleswig-Holstein und verliebte sich sofort in das raue Klima, das an der Nordsee herrscht, die unberechenbare See und die Menschen von dort, die Außenstehende gelegentlich als zugeknöpft und ob ihrer direkten, trockenen Art als ungehobelt bezeichnen. Er kaufte dieses kleine Haus in Küstennähe und verschanzte sich regelrecht darin. Selten, dass jemand zu Besuch kam. Noch seltener, dass dieser Jemand dann länger blieb. Er hatte es verlernt, mit Menschen umzugehen und jeder Gast, der ob seines eigenen unmöglichen Benehmens rasch wieder aufbrach, hinterließ tiefe Wunden in seiner Seele. Denn entgegen allen Behauptungen sehnte er sich nach fast nichts mehr als nach Gesellschaft. Seine anderen beiden großen Wunschträume galten Margret und einem raschen Tod. Doch so wie es im Moment aussah, würde er keine dieser Sehnsüchte in absehbarer Zeit erfüllt wissen. Er hatte zwar ein Bein verloren, erfreute sich aber ansonsten bester Gesundheit, wie sein Hausarzt nicht müde wurde zu sagen.
Er seufzte und trank in kleinen Schlucken aus der Teetasse. Lustlos griff er danach zur Regionalzeitung auf dem Tisch und blätterte sie gelangweilt durch.
Elvyra la Douse bietet ungewöhnliches Seminar an
,Herrje, schon wieder so eine verdammte Esoterikerin.’
Er regte sich immer sehr über solche Leute auf, die von sich behaupteten, Kontakt zu Verstorbenen aufnehmen zu können oder über hellseherische Fähigkeiten zu verfügen. Alles Humbug, fauler Zauber! Und dennoch konnte er nicht umhin zu lesen, was diese Betrügerin zu sagen hatte.
Die einwöchige Veranstaltung, die fernab von Straßenlärm und Großstadttrubel stattfinden solle, diene dazu, sich einen Platz zu schaffen, an dem man sich geborgen und ungestört fühle, so dass man in angenehmer Atmosphäre, ohne neugierige oder überwachende Augen, die Person, von der man sich zu Lebzeiten nicht verabschieden konnte, zu einem letzten Gespräch zu sich einladen können. Frau la Douse sehe ihre eigene Funktion darin, neben der Einführungsrunde Hilfestellungen zu geben, um störende Elemente zu beseitigen, für jeden einzelnen Gesprächsmöglichkeiten anzubieten, so das gewünscht werde und darüber hinaus einmal täglich, morgens nach dem Frühstück, ein Treffen aller Teilnehmer zu leiten, bei dem man sich über seine bisherigen Erfahrungen austauschen könne.
Er musste sich eingestehen, dass das Konzept gar nicht so töricht war wie er ursprünglich angenommen hatte. Aber er war ja schon viel zu alt für so etwas. Und ob seiner sozialen Unfähigkeit ja auch gar nicht dazu in der Lage, eine ganze Woche so eng mit Menschen zusammenzusein. Wahrscheinlich waren das sowieso nur Hausfrauen und solche, die „mit den kosmischen Schwingungen nicht im Einklang waren“. Alles Verrückte! Obwohl ...
Ärgerlich griff er nach seinen Gehhilfen und ging ins Bad. Er musste langsam wirklich senil werden, dass er sich mit so einem Schwachsinn näher beschäftigte. Wenn es überhaupt so etwas wie ein Leben nach dem Tod und die Gelegenheit gab, alle wiederzutreffen, die vor einem gegangen waren, dann würde er es erst wissen, wenn er selbst tot war. Erst dann würde es ein Wiedersehen mit Margret geben – wenn überhaupt. Niemals würde sie ihm erscheinen, nur weil er sie zu sich einlud. Was für ein Quatsch! ,Aber wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, kann ich vielleicht den Tod zu mir einladen.’ Hätte er die Möglichkeit dazu gehabt, diesen Gedankengang abzublocken, weil er so gar nicht seinem Naturell entsprach: Er hätte es getan. Doch dieser verselbständigte sich, bohrte sich tief in sein Bewusstsein und zwang seinen Geist unter seinen Befehl. Sein Selbst sträubte sich mit aller Macht dagegen. ,Absurd! Lächerlich!’, schrie es in ihm. Trotzdem ging er in die Stube zurück, legte die Zeitung ordentlich auf den Tisch, trank den letzten, inzwischen kalten, Rest Tee, setzte sich in seinen Sessel und wartete.
Komm, oh Tod, du Schlafes Bruder.
Er hatte keine Ahnung, woher ihm dieser Satz bekannt war, der sich nun in den Vordergrund schob und binnen Augenblicken sein ganzes Denken beherrschte.
Komm. Komm!
Es war wie eine fremde Macht, wie ein Virus, der seinen Körper überschwemmte, von seiner Person Besitz ergriff und sich in rasender Geschwindigkeit ausbreitete. Viel zu schwach, um diesem massiven Angriff zu trotzen, ließ er jedwede Verteidigung fallen. Von einer großen Müdigkeit erfüllt sank er in einen tiefen Schlaf.
Als er aufwachte, war er nicht mehr allein.
„Margret!“ Sein Atem stockte, sein Herz schlug wie wild bis hoch in seinen Hals. Tränen schossen ihm in die Augen. Das konnte doch nicht wahr sein! Das war doch unmöglich! Nur, weil er es sich gewünscht hatte, konnte sie doch nicht-
Er kniff die Augen zu, wie um einen bösen Geist zu vertreiben.
„Hallo Wilhelm“, drang ihre sanfte Stimme an sein Ohr. Er zuckte zusammen und riss die Augen wieder auf. Da stand sie vor ihm. Immer noch vor ihm. Wirklich vor ihm, und war so schön wie damals, bei ihrem Abschied. Ihre tiefblauen Augen strahlten ihn an, und er konnte sogar-
„Margret.“ Seine Stimme war auf einmal ganz dünn und bebte. Er wollte aufspringen, wollte sie stürmisch umarmen, ihr Gesicht mit Küssen bedecken, seinen Kopf an ihrer Schulter vergraben und den sommerlichen Duft ihrer Haare in sich aufsaugen. Doch er konnte sich nicht rühren. „Ich habe dich so vermisst“, flüsterte er stattdessen tonlos und fing an zu schluchzen.
Als er sich wieder gefasst hatte, sagte er: „Komm, setz dich, ich mache uns noch einen Tee und hole dir eine Tasse aus der Küche.“ Schon machte er Anstalten aufzustehen.
Lächelnd schüttelte die junge Frau den Kopf. „Das geht leider nicht mehr, Wilhelm. Ich kann auch nicht lange bleiben. Aber willst du nicht mit mir kommen?“
„Ja.“ Die Intensität an Sehnsucht und Vorfreude, die aus diesem einen Wort hervor-quoll, war überwältigend. „Ja.“
„Dann lass uns gehen.“
Gewohnheitsgemäß griff er nach den Gehhilfen, die neben seinem Sessel an der Wand lehnten. „Ach, Wilhelm“, gluckste Margret, „die wirst du nicht mehr brauchen.“
Ungläubig stand er auf, aber sie hatte wirklich recht. Galant bot er ihr seinen Arm, und sie hakte sich bei ihm unter. Kurz darauf ging er mit Margret die Allee hinunter und verschwand allmählich im Nebel.