Lebensmelodie
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Keiner Lacht. Das dachte ich zumindest. Doch irgendwie war etwas anders geworden. Die Sonne konnte es nicht sein, denn die schien schon lange nicht mehr auf die Erde herab. Und da der Himmel fast jeden Tag zu weinen schien, wunderte es mich, dass die Menschen die unter ihn wandelten, plötzlich so anders waren. Jeder schien ein Lächeln auf den Lippen zu haben. Jeder. Und ich, ich verstand es nicht.
So ging ich durch die Straßen. Die Tränen des Himmels perlten an meinen Wangen, sammelten sich an meinem Kinn und fielen trostlos zu Boden. Ich sah wahrscheinlich tierisch deprimiert aus. Doch war ich es nicht. Ich war nur der Einzige, den die letzte Nacht nicht verändert hatte. Waren es doch alle anderen um mich herum, die von nun auf jetzt eine Maske aufsetzten und nett zueinander waren, lächelten und manchmal sogar lachten.
Oder war es gar keine Maske? Aber wenn es keine Maske war, was war dann in der letzten Nacht, der Nacht, in der es mir zum ersten Mal seit Monaten wieder gelang ruhig durchzuschlafen, geschehen?
Normalerweise hatte ich nie ein Problem damit Fremde anzusprechen, doch heute war etwas anders geworden. Irgendetwas hatte sich verändert. Und es schien alle Menschen zu betreffen, nur mich nicht. Aus welchem Grund auch immer. Vielleicht hatte ich Angst, mich zu blamieren, denn jeder andere schien ja von der Veränderung zu wissen. Ob es nun bewusst oder unbewusst war, sie wussten etwas. Etwas das ich nicht sehen, hören oder gar fühlen konnte. Unweigerlich kam mir der Gedanke, dass die Welt sich freute eine Nacht ohne mich verbracht zu haben.
So ging ich durch die Straßen Berlins, meiner Heimatstadt. Ich ging durch den Regen, durch die großen Täler zwischen den steinernen und gläsernen Bergen dieses Gebirges.
Und alles was ich sah, war in Freude und Glück getaucht. Alles was ich sah, hatte sich verändert. Es war anders geworden. Das Leben zog Fratzen, die ich nicht verstand. Denn alles was ich sah, waren unglückliche Menschen, die nun glücklich waren, böse Menschen die nun gut waren und dreckige Fassaden, die nun trotz des Regens vor Reinheit glänzten.
Die Polizisten vor den Botschaften waren nicht mehr da, die Quadriga lächelte mich an. Berlin, gestern noch eine der dreckigsten Städte die ich kenne, war nun sauber.
Natürlich hatte ich Angst mich zu blamieren, wenn ich das nicht eh schon tat. Immerhin war ich der einzige, der sich vor den Regen schützte. Oder war es etwa so, dass ich der einzige war, der den Regen bemerkte?
Ich ging zum Holocaust-Mahnmal. Zum ersten Mal, sah ich keine Jugendlichen auf den Stelen umherspringen. Die Bäume blühten mitten im Winter. Die Wache, die sonst aufpasst, dass niemand auf die Stelen klettert, war zum Fremdenführer mit Sonnenbrille geworden.
Eine Sonnenbrille. Sie war dem Regen trotzend trocken geblieben.
Niemand außer mir schien des Himmels Tränen zu bemerken. Oder waren es gar meine Tränen?
Ich nahm den Regenschirm herunter, ließ die Tropfen meine Haut umspielen. Und sie spielten. Eine bittersüße Melodie erklang auf meinen Wangen, lief an ihnen herunter, ehe sie nach einer kurzen Pause mit Becken und Pauken auf dem Boden zerschellte, ihren Höhepunkt und Tod fand. Eine tote Melodie der Befreiung umspülte mein Gesicht, umspülte meinen Körper, erweckte kleine Haare zum Leben und überdeckte sie dann mit einem leichten Hauch der Freiheit, ehe sie sie zudeckte und in den Schlaf wog.
Und ich sah auf die Stelen, sah die Jugendlichen auf ihnen klettern, sah den Wachmann meckern, sah die betrübten Mienen der Menschen, sah dem Himmel zu, wie er wieder zu Leben erwuchs und fragte ihn vorsichtig „geht es meinem Papa gut bei dir?“
Und die Sonne spielte eine Melodie des Lebens auf meinen Wangen…