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Leere
Er hatte mich verletzt.
Nicht körperlich, nein. Physisch fehlte mir nichts. Die tiefe Wunde, die er mir zugefügt hatte, war auf meiner Seele.
Warum hatte er mich verletzt? Mich, den Menschen, der ihn so abgöttisch liebte, der alles für ihn gegeben hätte? Er hatte mit mir gespielt, meine Gefühle ausgenutzt. Hatte mich immer mehr zu einem Teil von ihm gemacht, bis ich nicht mehr ohne ihn existieren konnte. Und dann, als ich so abhängig von ihm gewesen war, hat er mich fallen lassen. Mir keine Beachtung mehr geschenkt, seine Zeit mit anderen verbracht, während ich einsam auf seinen Anruf gewartet habe. Er hat mir meine Selbstständigkeit geraubt, mich zu einem Schatten meiner Selbst gemacht.
Es ging ganz langsam.
Zuerst begann er, für mich zu planen. Jeden Tag verbrachten wir zusammen.
Dann führte er mich von meinen Freunden weg, bis ich fast den Kontakt zu ihnen verlor.
Er sagte mir, was ich zu tun hatte, und ich tat, was er mir sagte.
Ich war kein eigener Mensch mehr, ich stellte mein Leben immer mehr auf ihn ein.
Alles was mir mal wichtig war, verabscheute er, und so begann auch ich, es zu hassen. Wenn er begann, etwas zu mögen, mochte ich es auch. Unsere Interessen waren immer dieselben, weil sie seine waren.
Er sagte immer wieder, wie viel ich ihm bedeutete. Er tröstete mich, wenn es mir schlecht ging, munterte mich auf, wenn ich niedergeschlagen war.
Ich fühlte mich geliebt und gebraucht.
Aber eigentlich brauchte ich ihn.
Er war mein Leben. Wenn er nichts mit mir unternahm, unternahm ich nichts. Ich lauerte vor dem Telefon, immer in der Hoffnung, er könnte sich melden.
Ich verabredete mich nicht mehr mit anderen Freunden, weil ich Angst hatte, keine Zeit für ihn zu haben.
Diese Leere… kein eigener Mensch mehr zu sein, erfüllt einen mit endloser Leere, aber wenn ich bei ihm war, füllte er diese Leere aus. Er war meine Seele, meine Gedanken und mein Leben. Er war wie eine Droge für mich. Ihn zu besitzen… von ihm besessen zu sein. Ich gab alles für ihn auf, schenkte ihm mein Herz, doch er wollte es nicht.
Manchmal spielte er mir Gefühle vor, die er nicht für mich empfand, andere Male sagte er mir ganz klar, dass er mich nicht wollte.
Aber ich konnte ihm nicht glauben, schließlich war er… irgendwie ich. Er musste mich doch lieben, musste ein Teil von mir sein, sonst wäre meine Existenz nicht möglich.
Wenn ich dachte, so sprachen meine Gedanken mit seiner Stimme zu mir.
Ich vertraute ihm wie keinem Menschen zuvor.
Früher war ich von Misstrauen beherrscht, bis ich ihn traf. Stundenlang konnte ich zu ihm reden, endlich mit dem Gefühl, verstanden zu werden.
Er war das, was ich schon solange gesucht hatte.
Bei ihm fühlte ich mich wohl und geborgen.
Bis er mich vernachlässigte. Er hatte andere Freunde gefunden. Menschen, die früher meine Freunde gewesen waren.
Sie hatten ihn mir weggenommen.
Er hatte sie mir weggenommen.
Er hatte mich ihnen weggenommen.
Ich war alleine.
Aber ich war nicht mehr ich.
Es gab kein „ich“ mehr.
Nur noch ihn.
Von da an beobachtete ich ihn.
Wie er lachte, wie er spaß hatte. Mit ihnen.
Es tat weh. Sehr weh. Er war doch mein, so wie ich sein war. In dieser Welt war kein Platz für die anderen. Nur für uns beide. Für ihn. Ich musste ihn wiederhaben, denn ohne ihn war ich kein Mensch mehr, nur noch eine Hülle. Er war mein zweiter Teil, alles, was ich hatte und brauchte.
Doch je mehr ich versuchte, ihn zurückzubekommen, desto mehr distanzierte er sich. Hatte keine Zeit mehr für mich. Rief mich nicht mehr zurück. Beachtete mich nicht mehr.
Ich wollte sterben. Ohne ihn lebte ich nicht mehr.
Doch was ich auch versuchte, ich starb nicht. Ich gab mir nicht genug Mühe. Von mir war nicht einmal zum sterben genug übrig.
Und dann ging ich zu ihm.
Ich wollte ihm alle meine Gefühle beichten, doch wagte ich dies nicht. Er hatte viel von dem, was ich ihm erzählt hatte, gegen mich verwendet, und so würde ich ihm nur das eine sagen.
Ich liebe dich
Mehr auch nicht.
Er kam wieder zu mir zurück, verbrachte seine Zeit mit mir. Die Leere füllte sich. Ich war glücklich.
Zumindest eine Zeit lang.
Doch er wandte sich wieder ab.
Aber ich wollte ihn immer noch nicht aufgeben. Er war doch ich.
Ich versuchte, ihn wieder zurückzuholen, doch er fand mich nicht mehr wichtig. Seine – eigentlich meine – Freunde traten wieder an den Platz, der eigentlich mir zustand. Nur mir.
Er hat mir mein Leben genommen.
Ich verdiene einen Platz in seinem.
Aber… er wollte mich nicht. Er sagte es mir ganz deutlich.
Ich habe dich nie geliebt.
Keine Erklärung.
Keine Entschuldigung.
Er hatte sich von mir geholt, was er wollte.
Und nun ließ er mich fallen.
Meine Zuneigung verschwand. Die Wärme, die er mir gegeben hatte, als er bei mir gewesen war, als er mich mit in sein Leben genommen hatte, verschwand. Zurück blieb nur Hass. Tiefer, kalter Hass.
Liebe und Hass sind nicht weit voneinander entfernt.
Und wieder arbeitete ich daran, ihn zurückzubekommen.
Aber nicht mehr, um seine Liebe zu erfahren.
Auch wenn er keine Gefühle für mich hatte, so bestand doch körperliche Anziehungskraft.
Und genau diese nutzte ich nun aus.
Jetzt bin ich wieder bei ihm.
Heute Morgen noch habe ich ihn belauscht, wie er zu einem meiner alten Freunde sagte, wie dumm ich wäre, dass ich immer noch etwas von ihm wollte.
Oh ja, ich will etwas von ihm.
Aber keine Liebe mehr.
Er liegt auf der Couch.
Sieht mich an.
Lächelt.
Ein kaltes, überlegenes Lächeln.
Denkt, er könnte immer noch alles von mir haben.
Winkt mich zu sich.
Ich trete näher.
Krabble langsam auf ihn.
Streiche mit meiner Hand über sein schönes Gesicht.
Wie Porzellan.
Schön, fehlerlos… aber doch kalt und gefühllos.
Ich beuge mich zu ihm hinunter.
Zu einem letzten Kuss berühre ich seine Lippen.
Mein Todeskuss.
Meine Hände schließen sich um seinen Hals.
Ich drücke ganz langsam zu.
Er kann sich nicht befreien.
Er versucht mich wegzustoßen, doch seine Kraft reicht nicht aus.
Immer noch küsse ich ihn, aber den sanften Kuss, den er von früher von mir kannte, gibt es nicht mehr.
Ich beiße.
Ich schmecke sein Blut.
Ich spüre seine sinnlosen Versuche, sich zu wehren.
Süß scheint mir der metallische Geschmack in meinem Mund.
Seine Bewegungen werden schwächer.
Ein letztes Stöhnen erstirbt in seinem Mund.
Immer noch drücke ich zu.
Immer noch genieße ich sein Blut.
Und dann ist es vorbei.
Er hat mir mein Leben genommen.
Und ich ihm seins.
Unser beider Münder sind blutverschmiert.
Langsam krabble ich von ihm hinunter.
Leblos liegt sein Körper da.
Innerlich genauso tot wie ich.
Er hat mir mein Leben genommen.
Ich verdiene das seine.
Um die Leere zu füllen.