Legende
Dies ist die Lebensgeschichte der Dragons, von ihrem Ursprung bis in unsere heutige Zeit. Von Generation zu Generation wurde sie überliefert, schon den Jungen mit in die Wiege gelegt, doch jetzt, da ich der letzte Überlebende eines einst so glorreichen Geschlechtes bin, ist es an der Zeit, das Wissen um die Legende der Dragons niederzuschreiben, ehe auch ich einfach ausradiert werde. Unsere Geschichte ist älter als die Menschheit, und ich habe wahrscheinlich nicht mehr genügend Zeit, um alles schriftlich festzuhalten. Deswegen werde ich mich darauf beschränken, nur mein Leben genauer zu beschreiben. Was davor war, das sei hier - ich hoffe ausführlich und verständlich genug - festgehalten:
"Blutrot schleppte sich einst die Sonne über den Horizont nach oben, doch nur, um gleich wieder hinter einer dicken Aschenwolke zu verschwinden. In den letzten Monaten hatte es unzählige Vulkanausbrüche gegeben und ein Meteorit hatte die Erde getroffen. Milliarden Kubikmeter Asche hatten den Tag zur Nacht werden lassen. Tausende von Pflanzen waren grau geworden, und auch schon etliche unserer Vorväter, der Dinosaurier, waren gestorben. Die Temperaturen sanken immer weiter herunter, und mancherorts tobten schon die eisigen Schneestürme über das Land. Sie brachten nichts als den Tod, doch schon unsere großen Alten waren intelligent genug, in die großen Höhlen unter der Erde zu flüchten und durch die Wärme zu überleben.
Die Vegetation war mehr als spärlich, so daß auch hier noch viele von ihnen aus dem Lieben schieden. Großes Leid und endloses Wehklagen breitete sich unter der Erde aus. Es hörte sich an, als würde die Erde selbst weinen über all den Schmerz. Doch auch die Eiszeit fand ein Ende.
Die großen Alten kamen aus ihren Höhlen hervor und wurden mit einer neuerlichen Gefahr konfrontiert: dem Menschen.
Anfangs gab es große Verluste auf beiden Seiten. Im Einzelkampf war jenes unwürdige Geschlecht der Menschen den großen Alten stets unterlegen, doch oft rotteten sich etliche von ihnen zusammen, bauten Fallen oder lockten meine Vorväter in einen Hinterhalt. Nach und nach erkannten beide Seiten, daß sie einander nützlich sein konnten. Und das war der Beginn einer distanzierten Freundschaft.
Die Menschen öffneten sich dem Wissen der Dinosaurier, und im Laufe der Zeit wurde ihnen klar, daß es sich hierbei um göttliche Geschöpfe handeln mußte. So lange Feindschaft herrschte, wurde der Mensch immer bestraft, doch seit er den Dinosauriern diente, ihnen opferte und ihnen friedlich gesonnen war, überkam ihn ein neues Lebensglück.
Jenes Wissen, das die Dinosaurier vor der Eiszeit bewahrt hatte, half beim Heraufziehen einer neuen Kältewälle auch dem Menschen, zu überleben. Er folgte seinen Göttern an allen Ecken und Enden der Welt in das unterirdische Reich. Doch wie schon Jahrtausende zuvor, so war auch diesmal das natürliche Nahrungsangebot mehr als spärlich. Meine Vorväter und auch die weisen Alten der Menschen wußten, daß es eine neue Rasse geben mußte, um den Gefahren der Natur trotzen zu können.
Weil sie wußten, daß es mit ihnen langsam aber sicher dem Ende näher ging, ließen die Dinosaurier ihr Heulen durch die unterirdischen Höhlen erschallen. Überall auf der ganzen Welt war es zu hören, und so kam es, daß sich alles, was unter der Erde lebte, auf einen langen und beschwerlichen Weg machte. Irgendwann trafen dann alle zusammen, und es müssen wohl viele Tausende von beiden Völkern gewesen sein. Damals kommunizierten sie nur durch die Macht ihrer Gedanken, weil bei den Dinosauriern nicht die nötigen Organe vorhanden waren, um Worte formulieren zu können. Das machte natürlich so manches schwieriger, denn unzählige Gedankenströme durchdrangen den unterirdischen Raum.
Doch in einem waren sich alle einig: Wenn sie ihre Völker vereinigen könnten, dann wäre die Zukunft gesichert. Und aus diesem Wirrwarr an Gedankenströmungen kristallisierte sich ein unvorstellbares Ritual heraus.
Mensch und Saurier verschmolzen miteinander, wurden eins mit den Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde. Das Feuer lag in ihrer Stimme, die Erde schenkte ihnen Zuflucht, das Wasser erquickte sie und die Luft diente ihnen, um sich schneller fortbewegen zu können. Eine neue Rasse war geboren: die Dragons.
Anfangs mißglückten ein paar Versuche, und es kamen Lebewesen heraus, die eher wie Menschen aussahen, als wie Dragons.
Doch schließlich und endlich wurde eine Unzahl geschlechtsloser Dragons geschaffen, robuste Gestalten von der Statur eines Dinosauriers, listig und schlau, mit großen Hautflügeln auf dem Rücken und feurigem Atem. Sie sollten die Zukunft der Welt sein, denn in ihnen lag das Wissen der Ewigkeit.
Keiner vermag heute zu sagen, wie viele Jahre oder gar Jahrhunderte die beiden Geschlechter unter der Erde verbracht hatten, doch inzwischen hatte die Eiszeit ein Ende gefunden und jene Menschen, die auf der Erdoberfläche überlebt hatten, fingen allmählich an, Hütten und Häuser zu bauen.
Nun aber kehrten die Menschen, die Saurier und die Dragons an das Tageslicht zurück, und abermals hatte man Angst vor ihnen. Ehe jene Menschen, die die Eiszeit unter der Erde überdauert hatten, ihre auf Erden lebenden Gefährten überzeugt hatten, waren auch die letzten Dinosaurier vernichtet. Die Dragons erhoben sich Kraft ihrer Flügel gen Himmel und blieben für lange Zeit verschwunden. Manche glaubten sogar, sie seien ausgestorben.
Wie schon gesagt gab es auch ein paar Dragons, die eher wie Menschen aussahen, und so, wie die Völker einstens unter der Erde zusammengeströmt waren, so teilten sie sich seinerzeit auch wieder und verstreuten sich in alle Winde. Doch die Dragons machten sich ihr Wissen zunutze und begannen, an allen Ecken und Enden der Welt ihre eigenen Kulturen aufzubauen. Die Ägypter, die Mesopotamier, die Azteken, die ersten chinesischen Kulturen, all das, was heute als die Wiege der Kulturgeschichte gilt, baut allein auf dem Wissen der Dragons auf, denn sie waren es, die die Menschen zu dem gemacht haben, was sie heute sind. Und durch die Verschmelzung von Mensch und Dinosaurier hatten die Dragons eine sehr hohe Lebenserwartung, weshalb sie als selbstgekrönte Könige über viele Jahrzehnte hinweg über ihr jeweiliges Volk regieren konnten.
Lange Zeit noch gab es Verbindungen zwischen den menschlichen Dragons und denen, die wie Flugsaurier aussahen, doch irgendwann überfluteten Seuchen, Krankheiten und Epidemien den Globus und ganze Völker wurden einfach so von der Landkarte gewischt, als hätte es sie nie gegeben.
Und so ging denn auch das Wissen um die Existenz und den Nutzen der Dragons verloren. Weil diese herrlichen Geschöpfe kaum mehr einen Bekannten fanden, zogen sie sich in die Höhlen und Wälder zurück und genossen dort die Einsamkeit. Sie waren liebe und verspielte Lebewesen, doch als eines Menschen Auge sie eines Tages erspähte, nannte man sie Dämonen, Kreaturen der Hölle, Monster, Lindwürmer oder Drachen.
Rund um die Welt bekamen sie viele Namen, und es galt als eine Heldentat, einen von ihnen zu vernichten. Die Menschen hatten Angst vor ihnen, wie schon Jahrtausende zuvor, und versuchten, sie gänzlich auszurotten.
In jener Zeit, die man heute das Mittelalter nennt, gab es wohl nur noch zwanzig oder dreißig von ihnen, über die ganze Erde verstreut. Und die Dragons spürten, daß ihrer Rasse das sichere Ende bevorstand. Eine Flut von Depressionen überrollte sie und sie wußten, nur ein gemeinsames Werk konnte ihre völlige Vernichtung verhindern.
So trafen sie sich denn ein letztes Mal. Wo, das vermag heute keiner mehr zu sagen, denn dieses Wissen ist nicht überliefert. Mit der Kraft des Feuers formten sie aus Mutter Erde ein Symbol, in welches jeder von ihnen all sein Wissen einfließen ließ. Dann wurde dieses Symbol zerbrochen, damit nicht ein Lebewesen allein über all dieses Wissen, diese unbeschreibliche Macht, verfügen konnte. Fünf Dragons trugen die letzte Generation dieses sagenhaften Geschlechtes im Leib und verteilten sich über die einzelnen Kontinente. Die anderen beendeten ihr irdisches Dasein gemeinsam in einem letzen großen Ritual.
Eingebettet in den Schoß der Erde lagen nun lange Zeit fünf Eier, die letzten Zeugen eines einst gewaltigen Geschlechtes, und warteten darauf, eines Tages das Licht der Welt erblicken zu dürfen.
Ich selbst nun war der letzte Vertreter von einst fünf Dragons. Wie auch bei meinen Gefährten wurde neben meinem Ei ein Fünftel des großen Machtsymbols gefunden. Das erhielt ich allerdings erst mit sechzehn Jahren, als der Mann, den ich bis dahin für meinen Vater gehalten hatte, auf dem Sterbebett lag. Ich sah aus, wie ein Mensch und war auch als solcher erzogen worden, doch als mein Vater mir mit letzter Kraft das Symbol um den Hals hängte, da traf mich die geballte Wissensflut meiner Vorfahren wie ein Blitzschlag.
Wie mir meine vermeintliche Mutter später erzählte, hatte er mich in der Taiga im Unterholz in einer kleinen Höhle gefunden und mit nach Hause genommen, weil sie beide selbst keine Kinder hatten. So war ich also in der Mitte des 19. Jahrhunderts inmitten einer russischen Kolchose herangewachsen, bis zu dem Tag, an dem mich meine Vergangenheit einholte.
Mit dem Wissen machte sich in mir der Drang breit, meine letzten überlebenden "Verwandten" zu finden und ich nahm Abschied von meiner Mutter. Da ich keine Ahnung hatte, welchen Weg ich nur einschlagen sollte, wandte ich mich immer der Sonne nach. Wo es eine Möglichkeit gab, verdiente ich mir meine Nahrung und mein Nachtlager durch Arbeit, wo es keine gab, hielt ich mich an den reichen Tisch, den uns die Natur immer deckt.
Der Rest ist im Prinzip schnell erzählt: Fünfzehn Jahre lang war ich unterwegs, ehe ich einen weiteren Dragon aufspüren konnte. Ich fand ihn in der Schweiz, wo ihn ein alter Mann in einem Bergwald entdeckt hatte. Allein dadurch, daß wir unsere Bruchstücke vom Symbol der Macht aneinander hielten, ging auf jeden von uns das Wissen des anderen über.
Gemeinsam machten wir uns dann auf den Weg nach Afrika, denn wir wußten mittlerweile, daß auf jedem Kontinent einer von uns zu finden sein mußte. Wiederum gingen zwölf Jahre ins Land, ehe unser Streben vom Erfolg gekrönt war, und im hohen Norden dieses Kontinents, inmitten des Atlas, fanden wir den dritten im Bunde. Abermals wurde das Wissen ausgetauscht, und wie jeder von uns spürte auch ich diese unbeschreibliche Energie durch meinen Körper fluten. Nun stellten wir uns die Frage, ob wir nach Osten oder Westen reisen sollten, und schließlich entschieden wir uns für Amerika.
Siebenundvierzig Jahre zogen an uns vorüber wie der Wind. Da wir mit einem Schiff nach Brasilien gekommen waren, suchten wir zuerst den südlichen Teil des Kontinents ab, denn wir wußten, wir würden es spüren, wenn einer der letzten beiden in unserer Nähe war.
Wir kamen hinunter bis nach Feuerland, und als wir schließlich auf dem Weg nach Norden die Grenze Mexikos überschritten, waren beinahe fünfzig Jahre vergangen. Ich kann es heute noch immer nicht fassen, wie wir diese endlosen Wegstrecken zu Fuß hinter uns gebracht haben, doch allein die Erinnerung daran macht mir klar, daß es so war und das nichts etwas daran ändern kann.
Inmitten der Rocky Mountains waren wir endlich am Ziel unserer Suche angelangt, doch anstatt nur einen unserer Artgenossen vorzufinden, fanden wir beide. Wie wir selbst, so war auch unser Gefährte aus dem Himalaja auf die Suche gegangen - und schließlich fündig geworden.
Doch scheinbar war ich der einzige, der von Anfang an Mißtrauen gegen unseren asiatischen Freund hegte, denn in seinen Blicken lagen Habgier und Verschlagenheit, Machtsucht und List. All das nützte trotzdem nichts, denn ich war nicht in der Lage, meine Gedanken in Worte zu fassen. Irgend etwas blockierte mich, und so wurde zum ersten Mal nach mehreren Hundert Jahren das Symbol der Macht der Dragons wieder vereint.
Ich schrie vor Schmerz auf, als all das Wissen in mein Gehirn drang. Es war, als würde ich von einem Blitz gepeinigt, der Tausende von Volt durch meinen Körper jagte. Das Symbol in unseren Händen schien immer heißer zu werden, ja, es schien, als würde es beginnen, zu glühen. Ich hatte das Gefühl, als würden meine Handflächen verbrennen und wollte loslassen, doch eine unsichtbare Macht zwang mich dazu, all den Schmerz zu ertragen und all das Wissen in mich aufzunehmen.
Plötzlich war alles vorbei. Das Symbol war verschwunden und sein Wissen in uns übergegangen. Unser asiatischer Freund war auch verschwunden und schon bald sollte sich mein Verdacht bestätigen.
Wie schon unsere Vorväter, so ließ auch ich mich mit meinen drei Gefährten in der Stille der Berge und Wälder nieder, um in aller Abgeschiedenheit die Zukunft unseres Volkes planen zu können. Wir trainierten die neu erlangten Fähigkeiten unsere Gestalt zu verändern oder unsere Größe, Gedanken zu lesen oder einfach nur Kraft unseres Willens in die Lüfte emporzusteigen.
Als wir uns unserer Kräfte dann endlich bewußt genug waren, um mit ihnen umgehen zu können, kehrten wir in die Zivilisation zurück. Jeder von uns war in Gedanken bei unserem fünften Mitglied, doch nach ihm brauchten wir nicht lange zu suchen.
Er hatte all sein oder auch all unser Wissen vermarktet, Bücher und Filmrechte verkauft, unzählige sinnlose Souvenirs unters Volk gebracht und uns alle in Verruf. Natürlich war er damit zu großem Reichtum gekommen, doch er hatte dafür das Gut seiner Ahnen verraten. Wir überlegten, wie wir diesem unwürdigen Treiben Einhalt gebieten konnten, und schließlich blieb uns nichts anderes übrig, als diesem Verräter ein Ende zu bereiten.
In scheinheiliger Freundschaft luden wir ihn ein, um der alten Zeiten und der gemeinsamen Vergangenheit willen, und es war schwer, unsere wirklichen Gedanken vor ihm zu verbergen. Irgendwie mußte dann doch etwas passiert sein, denn kaum war er bei uns angekommen, da sah ich schon zwei meiner Freunde sterben.
Die modernen Feuerwaffen waren uns noch zu unbekannt, doch für ihn waren sie schon zu ständigen Wegbegleitern geworden, aus Angst, irgendwo überfallen zu werden. Glücklicherweise war sein Magazin schnell leer und er stand allein gegen uns beide.
Und dann passierte alles in Sekundenschnelle: Er, der er der asiatischen Kampfsportarten mächtig war, tötete bei unserem Angriff meinen letzten treuen und ehrlichen Freund mit einem Schlag auf den Kehlkopf. Mich verfehlte er glücklicherweise und mir blieb nur wenig Zeit zum Überlegen. So schnell ich nur konnte, riß ich den Vorschlaghammer hinter dem Vorhang hervor, holte weit aus und zerschmetterte diesem Verräter den Schädel.
Nun war alles vorbei, und ich der letzte meiner Art. Ich trug noch immer all dieses Wissen in meinem Kopf, doch es wird wohl nie mehr einen neuen Dragon geben.
Und um nicht selbst in Versuchung zu geraten, dieses Wissen zu mißbrauchen, setze ich meinem kümmerlichen Dasein ein Ende. Wenn all das Wissen unserer Vorväter wahr ist, so werde ich eines Tages in einem anderen Körper wiederkehren, doch ich denke, daß es noch sehr lange Zeit dauern wird. Die Menschheit ist noch nicht reif genug für die Macht der Dragons.