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Leistungskurs
„He!“, rief eine Stimme so unvermittelt, dass Eric vor Schreck den Spaten fallen ließ und mit aufgerissenen Augen aus der Grube, in der er sich befand, starrte. „Was tust du denn da?“
Gute Frage, dachte er und überlegte angestrengt, was er antworten könnte. Für einen Friedhofswärter im Überstundendienst war er offenkundig zu jung und eine vernünftig klingende, andere Ausrede fiel ihm partout nicht ein.
„Ich betreibe wissenschaftliche Untersuchungen für meinen Bio-Leistungskurs“, sagte er zu dem im Mondlicht nur schwach ausgeleuchteten Mann über ihm.
„Klar“, meinte dieser und stieß ein spöttisches Lachen aus.
Erics Herz schien sich zwischen den Lungenflügeln verstecken zu wollen. Ärger mit der Polizei hatte ihm gerade noch gefehlt! Den Überfall auf einen halbblinden Penner hatte er noch mit übersteigertem Drogenkonsum erklären können, und das Abfackeln des nachbarlichen Schäferhunds der Jugendrichterin gegenüber zum feurigen Schrei um Liebe und Anerkennung verklärt. Aber bei Grabschändung schienen selbst naive Jugendrichterinnen keinen Spaß zu verstehen.
„Bitte“, begann Eric und bemühte sich um eine weinerliche Stimmlage, „zeigen Sie mich nicht an! Wenn –“
Plötzlich sprang der Mann zu ihm hinab und zischte: „Pscht!“
Der Junge glotzte ihn an, bemerkte den wütenden Blick seines Gegenübers und verkniff sich die Frage, warum er still sein sollte.
„Ich habe ein Geräusch gehört“, flüsterte der Mann und stellte sich auf Zehenspitzen, um über den Grubenrand zu blicken. Ehe er sich wieder Eric zuwandte, verharrte er ein paar Sekunden lang in dieser Position. „Die Luft ist rein. Hast du eine Zigarette?“
Eric schüttelte den Kopf.
„Und wieso trägst du dann ein Feuerzeug mit dir herum?“
Mit dem Kinn wies er Richtung Hemdtasche. Eric drückte den nach oben gerutschten Feuerzeugkopf tief nach unten. „Ach, nur so. Ich verbrenne gern kleine Hunde.“
„Hm“, brummte der Mann. „Wirst mir richtig sympathisch! Ich finde Hunde auch zum Kotzen. Kratzen, beißen, stinken, kosten Geld. Da kann man sich ja gleich ’ne Frau halten. Bin der Mike.“
Sie schüttelten einander die Hände.
„Jetzt mal ernsthaft: Was machst du hier? Das ist mein Grab.“
Eric schluckte hart. „Tut mir echt Leid! Das wusste ich nicht.“
„Das wusstest du nicht? Was hast du denn gedacht, als du ein halb freigelegtes Grab vorgefunden hast? Dass hier ein Jahrestreffen von Wühlmäusen stattfindet?“
Der Junge schob seine Brille auf der Nasenspitze gerade. „Ich mache das zum ersten Mal“, sagte er entschuldigend.
Mike winkte ab. „Na, nun zieh mal kein Gesicht wie Michael Jackson im Puff. Ich wollte dich nicht entmutigen. Bei meinem ersten Mal habe ich mich mit dem Spaten bewusstlos geschlagen.“
Eric gluckste hell auf. „Tatsache?“
“Klar“, erwiderte Mike. „Bin so mitten im Buddeln und denk mir nichts dabei und – Zack! Einfach so abgerutscht und volle Pulle auf die Birne geknallt! Soll ich’s mal vormachen?“
„Nee“, sagte Eric rasch. „Ich kann mir auch so gut vorstellen, dass du eine weiche Stelle an der Birne hast. Darf ich jetzt weitermachen?“
Mike blickte ihn kurz verständnislos an. „Mit dem Graben? Sicher. Buddle dir einen runter, junger Freund! Und dann wird die Beute geteilt.“
Das Spatenblatt fraß sich, von Eric in Bewegung gesetzt, in den lockeren Erdboden. „Ich brauche nur den Unterkiefer.“
Geschickt warf er einen Schwung Erde über den Grubenrand. „Als Beweis für meine neuen Freunde von der Okkultistenvereinigung, dass ich eine Leiche ausgebuddelt habe. Ist eine der beiden Aufnahmebedingungen.“
Tatsächlich wollte er nur eines der Mitglieder, ein Mädchen namens Kim beeindrucken, das ihn auf geradezu abartige Weise scharf machte. Sie trug ausschließlich schwarze Klamotten und verwendete schwarze Schminke. Angeblich war sogar ihre Seele schwarz. Jedes Mal, wenn er sie sah fragte er sich, wie ihre langen schwarzen Haare riechen würden, nachdem er sie angezündet hatte.
„Sagen wir, einen Unterschenkelknochen“, schlug Mike vor.
„Ich habe denen aber einen Unterkiefer versprochen.“
Der Mann zuckte mit den Achseln. „Na schön. Obwohl Franz gar nicht glücklich darüber sein wird.“
„Wer ist Franz?“, wollte Eric wissen und wischte sich Schweiß von der Stirn. Dieses Hobby war ihm eindeutig zu anstrengend und unkreativ: Jemanden einzugraben musste weitaus spannender sein. Beim Familienurlaub auf Ibiza hatte er zu seiner Enttäuschung festgestellt, dass sich trockener Sand wenig dafür eignete. Sein kleiner Bruder hatte sich mühelos wieder von selber rausgebuddelt.
„Wer Franz ist? Na, der Untermieter hier!“, spie ihm Mike beinahe verächtlich ins Gesicht. „Junge! Du musst ja noch viel lernen.“
Eric murmelte eine Entschuldigung und überlegte einen Moment lang, ob er seine theoretischen Kenntnisse aus Horrorfilmen in die Praxis umsetzen und Mike mit dem Spaten köpfen sollte. Aber ehe er den Gedanken weiter verfolgen konnte, bemerkte er auf Grund des schabenden Geräusches, dass er auf den Sarg gestoßen war.
„Na, wer sagt’s denn!“, rief der andere fröhlich aus und wischte mit den blanken Händen die Erde vom Sargdeckel. Dann zog er aus der Jackentasche ein kurzes Stemmeisen hervor.
Der Höflichkeit halber erbot der Junge seine Hilfe.
„Nein, das mach ich schon“, schmetterte Mike ab, was Eric ganz recht war. Nach der ungewohnten Plackerei schmerzten seine Hände und Arme.
Knirschend splitterte das Holz der Kiste. „Mindere Qualität. Wird heute gar nicht mehr hergestellt.“
„Wohl aus Sargentinien“, meinte Eric und erntete ein verächtliches Schnauben.
„Lass die Kalauer. Ah, ja! Gleich haben wir’s. Nur noch einmal kräftig drücken.“
Mit einem Ruck hebelte er den Deckel aus, der fast unhörbar zur Seite und dann auf die weiche Erde fiel. „Na bitte. Darf ich die Herren bekannt machen?“
Neugierig trat der Junge einen Schritt nach vorne und blickte in den Sarg. Er befand den Anblick für enttäuschend: In den Filmen wirkten Skelette weitaus eindrucksvoller. Das hier war einfach nur das zu groß geratene Pendant zu einem Haufen Hühnerknochen.
„Nachdem du die Hälfte der Arbeit erledigt hast, will ich mich nicht lumpen lassen“, sagte Mike und überreichte ihm den gesamten Totenschädel, der ihn aus Augen, so leer wie jene mancher Mitschüler, angrinste.
Eric bedankte sich und wartete bis Mike erneut in den Knochen wühlte, ehe er ihm mit dem Spaten eins überzog. Ein dumpfes, comicartiges Geräusch erklang beim Rendezvous des Spatenblatts mit Mikes Hinterkopf. Begeistert klatschte der Junge in die Hände: Beide Aufnahmebedingungen auf einen Streich absolviert! Stolz räumte er die Knochen aus dem Sarg und wuchtete Mikes Körper hinein. Dann zog er sich hoch und begann, das Loch mit der ausgehobenen Erde wieder zu bedecken.
In ein paar Wochen würde er sich vom Fortschritt seiner wissenschaftlichen Untersuchung überzeugen und dafür bestimmt eine Eins in Bio erhalten.
Pfeifend ging er zwei Stunden später nach Hause und grübelte darüber nach, warum so viele Jugendliche die Schule nicht mochten, wenn sie doch so viel Spaß und sinnvolle Freizeitbeschäftigung bot.