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Lenz 2006
Lenz 2006
Den 15. November fährt Lenz in aller Früh mit dem Fahrrad übern Kiesberg.
Vom fernen Christ König schlägt’s sieben und es ist dunkel und kalt an diesem Mittwoch, doch immerhin trocken. Das Wetter aber lässt Lenz diesen Herbst als einen nicht enden wollenden April erscheinen.
Lenz nimmt seinen beschwerlichen Weg vom Beginn der Göttinger Straße an, die er in östlicher Richtung befährt. An der Cloppenburger Straße schlägt er einen linken Haken und wird beinah von einem polternden Müllwagen umgenietet. Nun nimmt er den Weg am westlichen Rand des Darmer Waldes entlang bis er die Kiesbergstraße erreicht. Lenz schlägt einen rechten Haken und erklimmt den Hügel, der sich als ein Berg gebärdet, nach Osten hin. Rechter Hand auf sandigem Boden der graue Nadelwald, vorbei an Friedensschule, Tennisplätzen und einer Wohnanlage des Christopherus Werkes geht es über die Anhöhe in einem weitausholenden linken Bogen wie im Rausch den Kiesberg hinab Richtung NNO. Da kaum Verkehr ist, kann Lenz sich 40 km/h leisten und auf der Straße fahren, denn der Fahrradweg ist in schlechtem Zustand und ab & an von Abfalltonnen versperrt. Lenz hat kein Auge für die Landschaft, aber auch nicht für das bisschen Straßenverkehr, allein für die verbliebenen Pfützen der vergangenen Regentage interessiert er sich, um sie mit leichten Schlenkern zu umfahren, denn Lenz ist für seine Verhältnisse fein gekleidet und die Hosenbeine sollen keinen Spritzer abbekommen: Nicht am ersten Tag! Es gilt, um 7.30 Uhr an der neuen Arbeitsstelle am alten Flugplatz zu sein.
Genau vier Wochen und elf Stunden später wird Lenz die andere Straßenseite befahren. Ein starker Wind wird ihm entgegenblasen, um die Heimfahrt zu erschweren. Ihm wird sein als führ’ er auf dem Kopf und es purzelten schlimme Gedanken aus dem Schädel und der reichliche autoimmobile Verkehr linker Hand, - der ihm anmutete wie der Verkehr in einem der vielen Ballungsgebiete dieser Welt, - wälzte die Gedanken platt. Der Kopf wird schließlich leer sein und Lenz wird doppelt so lange für den Rückweg brauchen als in den Wochen zuvor.
Doch noch ist der 15. November und nicht Mittwoch, der 13. Dezember 2006. Abwärts führt die sausende Fahrt. Selbst als die Kiesbergstraße abflacht fährt er einen guten Lauf. Wo die Frerener Straße seinen Weg kreuzt nimmt Lenz den Kreisverkehr mit hohem Tempo, doch nach einem kurzen Stück Josefstraße wird der Lauf durch eine rote Ampel abgebremst. Lenz fährt nahezu im Stand an die Ampel heran und muss doch anhalten und den rechten Fuß aufs Pflaster setzen.
Lenz wird bald meinen & behaupten, dass diese Ampelanlage geschaltet sei zugunsten der Verkehrsteilnehmer auf der Lengericher Straße, obwohl sich vom Kreisverkehr bis weit hinter der Ampelanlage der Verkehr auf der Josefstraße staut, wenn er in den Feierabend fahren will. Was uns hier nur am Rande interessieren muss.
Eine Woche bevor er das erste Mal im Angesicht St. Josephs auf ein grünes Zeichen warten muss, fand sich eine Stellenanzeige der Ltd. Co. KG, - offensichtlich ein Unternehmen der Metallbranche, - in der Tagespost, auf die Lenz sich ohne Zögern per Fax bewarb. Für solche Fälle hatte Lenz ein Paket Bewerbungsunterlagen bereitliegen, - sowohl virtuell als auch real, - dass er nur noch ein Anschreiben verfassen musste, in welchem er auf die Anzeige einging, und das er eigenhändig unterschrieb. Am Tag darauf wurde bereits ein Vorstellungstermin vereinbart für den folgenden Montagmorgen, den 13. November, 9.00 Uhr.
An diesem Montagmorgen verhandelte Lenz mit Frau & Herrn Ltd, beide wohl an die 60 und mehr Jahre alt und, wie der Name verriet, Eigentümer des Unternehmens. Nach der Vorstellung und dem Austausch von Floskeln und Höflichkeiten, - Lenz sollte bald erfahren, dass es wirklich Höflichkeiten waren, die ausgetauscht wurden, - und ersten Informationen deuteten die Eheleute an, dass sie Lenz sofort bräuchten, eher noch Gestern als Morgen. Lenz hatte also trotz seiner 56 Jahre die Stelle gewonnen, doch wurde vorher seine Gehaltsvorstellung um ein Viertel heruntergeschraubt, mit der Aussicht, dass ein Drittel wieder drauf käm’, sobald er eingearbeitet wär. Denn das Unternehmen befand sich in einer Betriebsprüfung und der vormalige Buchhalter, der zugleich Prokurist der Firma gewesen war, ein Herr Uriah Heep, dieser Mensch also war der Geschäftsführung unterdes durch fristlose Kündigung abhanden gekommen. Man einigte sich auf den Mittwoch, also Übermorgen als Dienstbeginn.
Die Ampel springt auf grün und wie besessen tritt Lenz in die Pedale, um in die Gänge zu kommen und wieder anständig an Fahrt zu gewinnen. An der Josefstraße nutzt er nun den Fahrradweg, der schlecht gepflastert ist und holprig, was dem Gesäß nicht gut tut. Auf der geruhsameren Fahrt zwei Tage zuvor hat er sich gemerkt, dass er an einem Hinweisschild „Zur Bowlingbahn“ rechts abbiegen muss.
Nach dem Vorstellungsgespräch an diesem Montag war Lenz mit seiner Lebensgefährtin chinesisch essen gegangen. Zufällig trafen sie hier Wolfram, einen ehemaligen Wirtschaftsprüfer, der Ende der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts seinen mehr als gut bezahlten Dienst bei der Treuhand quittierte, da die Verhökerung ostdeutschen Vermögens an die westdeutsche Konkurrenz gegen weniger als einen symbolischen Wert seinem Sinn für Gerechtigkeit zuwiderlief. Die drei kamen ins Gespräch und Wolfram freute sich mit dem Paar über die gefundene Anstellung. Wolfram warnte aber auch: an dem Stellenangebot musste etwas faul sein, denn ungewöhnlich sei, dass ein Bewerber vom einen auf den andern Tag mit der Arbeit beginnen könne, kaum dass er noch notwendige Angelegenheiten wie zum Beispiel Besorgung und Abänderung der Lohnsteuerkarte regeln könnte. Lenz war bisher nur aufgefallen, dass seinem Vorgänger von einem Tag zum andern die Arbeitsstelle und der Titel aufgekündigt worden war und zwar genau an dem Donnerstag, an dem der Vorstellungstermin vereinbart wurde. Diese Tatsache löste in Lenz ein Unbehagen aus, dass er das Essen schon als Henkersmahlzeit ansehen wollte. Denn wie sollte ein Ahnungsloser das Unternehmen durch die Betriebsprüfung lotsen?
Da sieht Lenz den Hinweis „Zur Bowlingbahn“ und biegt rechts ab. Es ist noch ein ganzes Stück durch brachliegende Ackerflächen zu fahren, dann unter der Umgehungsstraße hindurch ins Gewerbegebiet am Funkturm. Bei Sauwetter wird’s auf diesem letzten Stück schweinisch werden, denkt Lenz.
In einer halben Stunde wird Lenz manches über den Betrieb erfahren. Frau Ltd obliegt die Geschäftsführung und sie heiße nicht Ltd, wie die Firma vorgaukele, vielmehr sei sie eine geborene Gräfin Marizza und sie lege Wert auf eine korrekte Anrede. Dem Bewerber und Unwissenden von Vorgestern sehe man diesen Mangel der inkorrekten Anrede großmütig nach. So sei denn auch ihr Gatte, Herr Ltd nur in diesen bürgerlichen Namen hineingeboren und durch die Heirat durchaus zum Grafen aufgestiegen. Zudem wird Lenz erfahren, dass der Graf, der sich als Sabbeltasche und Dummschwätzer herausstellen wird, ein begnadeter Hubertusjünger ist und jeder Rock von ihm erlegt würde, der nicht bei drei auf dem Baume sei!
Bald wird Lenz durch den Betrieb geführt werden. Er wird Gesichter sehen, Namen hören, die er erst einmal wieder vergessen wird. Lenz wird erfahren, dass der Produktionsbetrieb dreischichtig fahre und zugleich zweigleisig: in der Metallverarbeitung wie auch am Bau. Man sei keinem Arbeitgeberverband angeschlossen und somit an kein Tarifrecht gebunden. Die gesetzlichen Vorgaben knechteten den Unternehmer eh schon genug.
Die Verwaltung arbeite in der 39,5-Stunden-Woche von Montag bis Freitag ab ½ 8 bis 17 Uhr. Wie er sich leicht ausrechnen könne bedeute das 90 Minuten Pause, die er sich einteilen mag, wie er wolle. Das will Lenz freilich vorkommen wie ein geteilter Dienst, den er nur aus dem Gesundheitswesen und dem Einzelhandel kennt. Sechs Leute bilden die Verwaltung: das Unternehmerehepaar, ein gerade fertig gewordener Auszubildender der Ltd. Co. KG und zwei Auszubildende. Schon bei der Vorstellung im Produktionsbetrieb ist Lenz aufgefallen, dass es hier keine Auszubildenden gibt. Er wird denken, dass ein Azubi nur den Ausbilder von der eigentlichen Arbeit, eben der Produktion abhalte. Nicht dagegen die beiden kaufmännischen Auszubildenden, bei denen die Geschäftsführung bedauert, dass sie durch zwei Berufsschultage in der Woche der produktiven Arbeit und der Mehrung des Volksvermögens, insbesondere aber der Mehrung des Vermögens der Familie von Marizza ausfielen, denn die kaufmännischen Azubis können bereits nach kurzer Einarbeitung so weit als möglich vollwertig eingesetzt werden, da die Tätigkeiten weitestgehend automatisiert sind.
Von Anfang an wird die Automatisierung ein besonderes Problem darstellen, durch das es auch einen ersten Reibungspunkt zwischen Lenz und der Geschäftsführung gibt: in der Verwaltung wird überwiegend mit einer Software gearbeitet, in der Lenz sich gut auskennt und mit der er wie im Schlaf umzugehen weiß. Leider hatte Herr Heep, der gewesene Prokurist, für seinen Bereich eine andere Software ausgewählt, mit der kein anderer im Betrieb Beschäftigter umzugehen weiß und deren Bezeichnung Lenz zum ersten Mal hört. Nun gut, er wird damit umzugehen lernen, aber auf seine Anfrage hin, ob und wann er denn ein Seminar in der Software besuchen könne, - und sei’s nur ein Crash-Kurs, - da wird ihm beschieden, dass er sich darum selber zu kümmern habe, denn er komme dem Hause Marizza eh teuer genug. Seine Aufgabe sei auch weniger das eDV-System als zunächst herauszufinden, welchen Schaden Uriah Heep angerichtet habe. Dazu habe Lenz innerhalb des Betriebes freie Hand!
Nach Einsicht erster Bücher wird Lenz auffallen, dass das Rechnungswesen seit Jahren nicht ordnungsgemäß geführt wurde, dass ihm für seine Zukunft zunächst fürchterliches schwant. Transaktionen können oft nicht nachvollzogen werden. Periodische Endbestände stimmen nicht überein mit den Anfangsbeständen der nachfolgenden Periode.
Neugierig wird Lenz nun auf das Ergebnis der Betriebsprüfung.
Vierzehn Arbeitstage lang wird Lenz nachmittags vom Grafen genervt, der konkrete Ergebnisse wissen will und von seiner Jagdleidenschaft plappert und was für ein toller Hecht er sei. Nach drei Wochen, 30 und mehr Ordnern mit Kassenbelegen, Bankauszügen, Aus- und Eingangsrechnungen, Beleg über Belegen, hunderten von Buchungsjournalen und einem Wust von Lenz’ eigenen Notizen wird der Schaden sich beziffern lassen. Doch nun wird Lenz durch die Steuerfahndung geschockt werden: drei Pkws fahren auf den Betriebshof und spucken jeweils zwei junge dynamische Burschen aus, die den Betrieb für einen halben Tag blockieren und auf den Kopf stellen. Lenz wird keine Auskunft geben (können) und kommt über die Arbeitsstelle stark ins Grübeln.
Am nächsten Tag wird Lenz der Geschäftsführung erste konkrete Ergebnisse seiner Forschung geben. Als er dann nach der Mittagspause vom Stuhlgang zurückkommt liegt ein Arbeitsvertrag in doppelter Ausfertigung auf seinem Schreibtisch: ein Zeitvertrag. Langsam hätt’ er wissen müssen, dass jede Neueinstellung der Ltd. Co. KG nur auf Zeit erfolgt und er mit Sicherheit keine Ausnahme dieser Regel bildet. Dennoch wird Lenz schlucken: erst vor Enttäuschung, dann den Vertrag. Rasch wird die Geschäftsführung das Thema wechseln und Verstärkung durch den Gatten bekommen, denn beide sind aufgeregt und nervös und es klagen beide, dass sie für diesen Freitag vors Arbeitsgericht geladen seien. Was ihnen noch nie passiert sei! Also meint Lenz locker, dass Herr Heep, der gewesene Prokurist, eine Abfindung erzwingen will, und verrät denen von Marizza, wie man sich beim Gütetermin tunlichst verhalten sollte und dass man selber am Verhalten des Arbeitsrichters erkennen könnte, zu welcher Partei der neige.
Lenzens Engagement wird noch fünf Arbeitstage andauern und nach genau vier Wochen bei der Ltd. Co. KG wird die Geschäftsführung Lenz verraten, dass man ihn nicht mehr bräuchte. Was sie nicht verrät ist, dass die Kündigung des gewesenen Prokuristen von formalen Fehlern strotzte und der Gekündigte am besten wieder einzustellen sei, - am besten sofort. Andernfalls drohe eine hohe Abfindung
Den 15. November fährt Lenz um ¼ nach 7 Uhr auf den Hof und stellt sein Fahrrad vor die Werkshalle der Ltd. Co. KG. Der Anbau zur Rechten mit der Verwaltung ist noch dunkel, die Tür geschlossen und wird erst Punkt ½ 8 Uhr vom Hausherrn aufgeschlossen werden. Der Bungalow links von der Werkshalle ist hell erleuchtet. Hier leben die Ltd relativ bescheiden und in der Nähe Schwerins leben die von Marizza wie die Fürsten.
Was Lenz hier in den nächsten vier Wochen wirklich erleben wird, lässt sich nicht in einer 1/4 Stunde erzählen und ist eine andere Geschichte.