Letzte Probe
Das wichtigste Requisit, die Rasierklinge, kommt auf den Badewannenrand.
Dann der Hauptdarsteller: dieser Klumpen von Körper, der im eigenen Saft schmoren soll.
Aber nicht heute. Heute ist nur die Generalprobe. Erst muss ich all die Tagebücher mit den Wutreden gegen die Menschheit zerschreddern und die blutroten Wasserfarben-Exzesse. Nichts darf bleiben. Es soll ein Rätsel sein.
Nein, man hat der jungen Dame doch nix angemerkt. Höflich war sie und zurückhaltend. Na ja, sie war oft allein. Ein bisschen komisch war sie ja schon, so im Nachhinein. Aber warum hat sie sich denn keine professionelle Hilfe geholt? Das ist doch nun wirklich keine Schande mehr heutzutage!
Mein großer Zeh zuckt zurück, doch ich lasse mich nicht mehr herumkommandieren von diesem elenden Körper und zwinge ihn in den Kochtopf: Hummer auf Crème Larmoyante, Schildkröte in Soup à la Apathie. Chili und Pfeffer müssen mit rein. Verkocht an meiner Wut. Versalzen von meinen Tränen. Davon können sie dann kosten, wenn sie mich finden.
Wer wird mich finden? Wer vermisst mich denn? Meine Schwester ruft nur alle paar Monate an. Die im Büro werden sich wundern, aber bestimmt nicht gleich die Polizei alarmieren. Mich gibt es nicht, hat es nie gegeben. Ein fetter, aufgeblasener Ballon, der allen nur im Weg lag. Einmal dagegentreten, drübertrampeln, anpieksen, zerplatzt schon nicht.
Doch! Die Luft wird aus dem Ballon entweichen, die Hülle wird zusammenfallen, wieder aufquellen und zu stinken anfangen. Aber nicht heute! Das ist nur die Generalprobe.
Die Rasierklinge ist dampfbeschlagen, glitzert nicht mehr gefährlich. Ich lasse sie über der Stelle am Handgelenk schweben, wo ich den Schnitt ansetzen werde – nicht heute.
Oder vielleicht doch ein Abschiedsbrief: Ich entschuldige mich dafür, dass meine Eltern ungeschützten Geschlechtsverkehr hatten und ich dabei rausgekommen bin. Ihr wart schlechte Eltern, aber das wart ihr ja nur, weil ich ich war und nicht jemand anders. Ich entschuldige mich dafür, dass ich nie fröhlich war wie die anderen Kinder, sondern ängstlich und blutarm. Was sollten sie anderes tun, als mich rumzustoßen? Wenn es mich nicht gegeben hätte, wären sie alle nette Menschen geworden, nur meine Gegenwart hat sie zu Bösem getrieben. Ich entschuldige mich für den Platz, den ich eingenommen, und für die Lebewesen, die ich gegessen habe. Ich entschuldige mich für die Atemgase, den Urin und die Scheiße. Ich laufe nicht schießend durch die Gegend, bereite keinem Zugführer Albträume und springe nicht von Hochhäusern auf schwangere Frauen. Ich will niemandem schaden, will die Welt nur von mir befreien.
Natürlich wird jemand die aufgedunsene Ballonhülle aus der Badewanne hieven und entsorgen müssen, jemand wird das Blut aus der Badewanne wischen und die Wohnung ausräumen müssen. Selbst nach meinem Tod werde ich noch genug Schaden anrichten. Könnte ich mich nur in Nichts auflösen!
Ein zaghafter Schnitt in die Hand, nicht an der gefährlichen Stelle. Brennen, ein roter Faden im Wasser. Das reicht, um mich aus der Wanne zu jagen. Zitternd wische ich mit der unverletzten Hand den Dampf vom Spiegel und blicke der Gefangenen hinter der Scheibe fest in die Augen. Sie kann sich nicht aus ihrem gläsernen Kerker befreien ohne mich, und ich lache ihr höhnisch ins Gesicht. Nein, sie ist die Lachende, sie verspottet mich, weil ich die Generalprobe vermasselt habe und das Stück niemals auf die Bühne bringen werde.