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Letzter Tag der Probezeit
Erik schaute auf das Türschild.
„Günter Nagel, Steuerberater“ war dort zu lesen. Er öffnete die Haustür und ging die Treppe hinauf.
Heute war ja der letzte Tag der Probezeit. Er hatte solange nach einer Stelle gesucht und war endlich hier untergekommen.
In den letzten 3 Monaten hatte er sehr ordentlich gearbeitet. Er war sich sicher, dass sein Chef ihn weiter arbeiten lassen würde und er sich eines schönen Tages ebenfalls mit dem Titel Steuerberater schmücken konnte.
Er spazierte ins Büro und sah, das Herr Meyer-Kahlen und Frau Hornig schon auf ihren Plätzen saßen und … arbeiteten? Jedenfalls hatten beide ihren PC hochgefahren, starrten auf den Monitor und betätigten gelegentlich Maus und Tastatur.
„Guten Morgen!“, begrüßte Erik die Beiden.
Keine Antwort. Die beiden beachteten Erik überhaupt nicht, sondern gingen kommentarlos weiter ihrer Beschäftigung nach.
Diese „Reaktion“ kannte er ja eigentlich schon. An normalen Arbeitstagen setzte er sich dann einfach auf seinen Arbeitsplatz und begann mit seiner Tätigkeit.
Aber heute war es anders.
Beflügelt von der Aussicht, bald selbst Steuerberater und damit etabliert zu sein, öffnete er den Mund und gab Folgendes zum Besten:
„Chuck Norris ist das größte Poker-Face aller Zeiten. 1983 hat er die Weltmeisterschaft im Pokern gewonnen, obwohl er nur folgende Karten auf der Hand hatte: Einen Joker, eine “Sie kommen aus dem Gefängnis frei“ - Karte vom Monopoly, eine Kreuz – 2, eine Pik – 7 und eine grüne 4 aus einem UNO-Game.“
Nichts. Keine Reaktion.
Erik ärgerte sich. Sein bester Freund hatte ihm gestern an die 20 Chuck Norris-Witze erzählt, und sie hatten sich königlich amüsiert. Er setzte erneut an:
„Als Gott sprach “es werde Licht” antwortete Chuck Norris: “Sag bitte.” und verpasste ihm einen Roundhousekick.“
Meyer-Kahlen tippte etwas, Hornig öffnete eine weitere Applikation … und Erik setzte sich hin und fuhr seinen PC hoch.
Als Erstes schaute er in sein Postfach. Dort war eine Email von Meyer-Kahlen.
„Mach die Ablage!“, las Erik.
Erik ging zum Briefkasten, nahm die Post an sich, ging zurück an seinen Platz und begann, die Post zu öffnen und alphabetisch und kategorisch zu sortieren.
Da öffnete sich die Tür und Günter Nagel betrat das Büro.
„Guten Morgen, wie war das Wochenende?“, fragte Hornig gut gelaunt.
„Guten Morgen!“ wünschte Meyer-Kahlen ebenfalls, sprang auf, lief zu Nagel und fragte:
„Darf ich ihre Aktentasche auf ihr Zimmer tragen?“
„Warte mal. Erst muss ich einen Witz zum Besten geben“, antwortete Nagel und setzte an:
„Chuck Norris ist das größte Poker-Face aller Zeiten.“
Meyer-Kahlens Augen begannen zu leuchten und sein Mund öffnete sich bereits jetzt, um eine Hundertstelsekunde nach der Pointe ein brüllendes Gelächter termingerecht freisetzen zu können.
Hornig schaute gespannt auf Nagel, als wäre er der Weihnachtsmann und sie das kleine Mädchen, das gespannt auf Geschenke wartete.
Nagel fuhr fort: „1983 hat er die Weltmeisterschaft im Pokern gewonnen, obwohl er nur folgende Karten auf der Hand hatte: Einen Joker, eine “Sie kommen aus dem Gefängnis frei“ - Karte vom Monopoly, eine Kreuz – 2, eine Pik – 7 und eine grüne 4 aus einem UNO-Game.“
Eine Tausendstelsekunde nach „Game“ enttoste ein Tornado des Lachens Meyer-Kahlens Atemwege. Die Pointe war so stark, dass er sich zu Boden fallen ließ und mehrere Minuten lang lachend hin- und herwälzte.
Aus Hornigs Mund perlte ein schrilles Lachen. Ihre Lungenkapazität und ihr Atemrhythmus modulierten die Tonlage von „schrillst“ bis „erträglich schrill“.
Oder wurde die Mittfünfzigerin gar durch diesen Witz entjungfert? Alles war möglich.
Nagel verschwand schließlich in seinem Gemach.
Meyer-Kahlen und Hornig fuhren fort mit ihrer Tätigkeit.
Erik fühlte in sich hinein und dachte nach.
„Probezeit bedeutet ja, dass beide Seiten ausprobieren. Der Betrieb und der Auszubildende. Hmmmmmmmmmm……..“
Er schaltete seinen PC aus, erhob sich, ging die Treppe hinunter und schaute noch ein letztes Mal auf das Türschild „Günter Nagel, Steuerberater“.
Dann drehte er sich um und ging fort. Er würde nie mehr an diesen Ort zurückkehren.