Was ist neu

Leuchtturm

Mitglied
Beitritt
09.05.2004
Beiträge
49
Zuletzt bearbeitet:

Leuchtturm

Ich bin zu spät zur Fete gekommen, weil ich nicht recht Lust hatte. Christian wurde achtzehn, was sicher ein Grund zum Feiern sein mag; aber ich kannte ihn nur mehr oder weniger flüchtig über den Fotografie-Kurs der Schule und so hatte ich das Gefühl, lediglich eingeladen zu sein, um eben die Menge der Gäste zu erhöhen; als lebender Beweis dafür, wie bekannt und beliebt er doch war.
Christian standen die Jugendräume der Kirche zur Verfügung; es waren zwei recht kleine Zimmer, in denen Musik wie auch Gäste aufgedreht waren und es nach Zigaretten stank. Ich suchte nach dem Gastgeber und entdeckte ihn schließlich am Tresen. »Schön, dass du da bist, Eva«, schrie er, damit ich ihn verstand, und ich nickte nur, lächelte ein wenig und versuchte, den Qualm zu ignorieren. Ich hatte eine Flasche Sekt mitgebracht, zeigte sie ihm, er grinste mich an, und ich stellte sie auf den Tisch.

***

Die Musik war auch vor dem Gebäude noch gut zu hören, jetzt aber in angenehmer Lautstärke. Ich vergrub meine Hände in den Jackentaschen, atmete gierig die klare Luft ein und versuchte, einen Stern am Himmel zu finden; doch es war viel zu bewölkt. Nicht einmal der Mond blitzte hervor.
Ein Stück entfernt hörte ich gedämpfte Stimmen und erkannte im Halbschatten vage Silhouetten; so ging ich ein paar Schritte in entgegengesetzter Richtung.
Drei oder vier Häuser weiter ging eine Beleuchtung an, ohne dass jemand zu sehen war, und ich hielt einen Moment Ausschau nach einer Katze; dann hörte ich plötzlich Scherben zerbersten, die Musik ging aus und jemand fluchte. Ich hatte keine Lust, mich umzudrehen, zurück zu gehen, in den Qualm, und mich zu den anderen Gaffern zu stellen; also blieb ich, wo ich war und beobachtete die Lichter der Autos, die in der Ferne in einer unendlichen Kette von links nach rechts und von rechts nach links fuhren. Gedämpft hörte ich aufgeregte Stimmen, jemand versuchte, beruhigend zu klingen und schließlich ging die Musik wieder an.
Ich überlegte, ob ich nach Hause fahren oder der Feier doch eine Chance geben sollte, als ich noch jemanden wahrnahm: Ein weiterer Schatten, ein Stück vom Gebäude entfernt, unter einem Baum sitzend. Allein.
Einen Moment lang wog ich ab, ob ich feststellen wollte, wer im Moment so allein war wie ich. Dann schlenderte ich langsam auf den Schatten zu.

****

Nele hatte die Beine angezogen und die Arme darum geschlungen. Ihre Stirn war auf den Knien aufgestützt, die langen Haaren ließen keinen Blick auf sie zu. Auf dem Boden lag das Handy.
Ich setzte mich neben sie auf die alte Parkbank und überlegte einen Moment, was ich sagen sollte. Nele war in der Schule eine Stufe unter mir; ich hatte sie schon ein paar Mal auf einer Feier oder im Ort gesehen, aber unsere Unterhaltungen waren nie über ein »Hi, wie geht’s?« hinausgegangen. Ich hatte immer den Eindruck gehabt, sie sei nett und zurückhaltend. Ein eher stilles Mädchen, das aber genügend Selbstvertrauen besaß und der die Meisten in der Stufe zu vertrauen schienen.
Jetzt, dachte ich, scheint sie diejenige zu sein, die Hilfe braucht. Aber ihre Freunde waren nicht da. Nur ich.
Ein wenig unsicher legte ich ihr die Hand auf die Schulter und fragte leise, was geschehen sei.
Zuerst rührte sie sich nicht. Dann schließlich antwortete sie: »Er hat sich umgebracht.« Es klang erstickt, gefiltert durch den Stoff ihres Pullovers und angereichert mit all den Tränen, die sie geweint haben musste.
»Wer?«, fragte ich und hörte mich selbst kaum.
»Alex.«
Ich kannte niemanden, der Alex hieß, und überlegte, ob ich sie in letzter Zeit mit einem Jungen gesehen hatte. »War das ... dein Freund?«
Jetzt hob sie doch ein wenig den Kopf, strich sich mit der rechten Hand hastig über die Augen und dann die Haare hinter die Ohren. Ihr Blick ging irgendwo ins Leere. »Wir waren nicht zusammen«, sagte sie. Ihre Worte stockten immer wieder. »Aber er war mein Freund. Seit Jahren. Und jetzt ... er hat sich umgebracht! Ich meine ... er hat sich vor einen Zug geworfen!«
Sie sah mich nun doch an und trotz des fahlen Lichtes sah ich Tränen in ihren Augen blitzen. »Wie konnte er das tun? Wie ... wieso ... ich verstehe das nicht ...«
Ihre Worte brachen ab, als ich sie in den Arm nahm.

***

Nachdem ich Nele nach Hause gefahren hatte, blieb ich ein, zwei Seitenstraßen weiter stehen, schaltete den Motor aus und wartete.
Ich fragte mich, was ihn dazu bewogen hatte, diesen Schritt zu tun. Der Gedanke an die Verzweiflung, die ihn gequält haben musste, tat mir beinahe körperlich weh. Ich stellte mir vor, wie es sein musste, neben den Gleisen zu stehen und den Zug näher kommen zu sehen; zu wissen, dass du die Chance hast, zu gehen, alles in Ordnung zu bringen. Und dann doch zu springen.
Mir lief ein Schauer über den Rücken und ich schloss für einen Moment die Augen. Er hat sich vor einen Zug geworfen!
Nele musste bei diesem Gedanken verrückt werden. Sie sagte, sie habe nichts bemerkt. In mir sträubte sich alles dagegen. Das kann nicht sein, dachte ich, das ist unmöglich. Er muss verzweifelt gewesen sein, und Verzweiflung merkt man den Menschen doch an. Sie sagte, sie hatte ihn gut gekannt, sie waren befreundet. Das muss man merken, wollte ich schreien, warum, verdammt, hast du nichts getan?
Ich dachte mir das nur, ich habe sie nicht gefragt; ich wusste, sie tat es selbst. Ständig.

***

An meiner Wand zu Hause hing ein Bild. Es war ein Leuchtturm, wie man ihn sich vorstellt, rot und weiß gestreift, das Meer im Hintergrund. Und die Sonne, die langsam untergeht.
Ich hatte das Bild geschenkt bekommen, von Mattis, zum achtzehnten. »Eigentlich zeigt das Bild dich«, hatte er gemeint, aber nicht näher erklärt, so sehr ich auch drängte.
Später habe ich mir gesagt, er meinte damit, dass ich den Menschen wie ein Leuchtturm Orientierung gebe. Dass ich ihnen zeige, wo der sichere Hafen ist. Meinen Freunden und natürlich Mattis. Denn Mattis war auf dem Meer draußen, viel weiter als die anderen, und segelte mit seinem kleinen Boot um die Welt. Bei ruhiger See hatte er die Oberhand, bestimmte den Kurs, aber bei schweren Stürmen, da wies ich ihm in meinem Leuchtturm den Weg zu einem Ankerplatz , wo ihm kein Sturm etwas anhaben konnte.
So saß ich auf meinem Sofa und betrachtete das Bild und fragte mich, was ich tun würde, wenn einer meiner Freunde sich das Leben nähme. Wenn Mattis sich das Leben nähme.
Nein, dachte ich, nein. Denn ich bin für sie da. Ich merke, wenn etwas nicht stimmt, wenn sie Probleme haben, die ihnen über den Kopf wachsen. Ich bin der Leuchtturm, der ihnen hilft und ihnen den Weg aus den Stürmen weist.
Ich dachte wieder an Nele, dachte daran, wie ich sie eingeschätzt hatte – als ein Mädchen, dem die anderen vertrauten, der sie ihre Sorgen erzählten. Wie hatte sie seine Sorgen nicht ernst nehmen können? Oder vielleicht einfach nur nicht ernst genug? Weil Selbstmord einem immer so weit weg scheint, das ist wie Krebs oder AIDS, das passiert immer nur anderen, nie einem selbst. Meine Freunde? Meine Freunde haben doch mich ...

Ich betrachtete das Bild an der Wand und ich fragte mich, ob Mattis doch etwas anderes gemeint hatte. Vielleicht, dass ich mich aus den Widrigkeiten des Lebens zurückzog, dass ich das Unangenehme nicht wahrhabe wollte, sondern mich in meinem Leuchtturm einsam verbarrikadierte. Den Sternen nahe und Licht ausstrahlend, aber immer auf dem festen Grund, nie fremde Ufer erreichend.
Ich hatte die Stürme des Lebens aus meiner Welt ausgesperrt, aber wenn meine Freunde da draußen waren, dann reichte es vielleicht nicht, Licht auszusenden. Dann musste man selbst hinaus.

 

Hallo Leseratte,

ich frage mich ein bisschen, warum du deine Icherzählerin zum Ende der Geschichte hin zu so einer selbstgerechten Kuh degradierst?
Denn bis zu diesem Leuchtturmabsatz, der deiner Geschichte den Titel gibt, finde ich diese Form der Suizidgeschichte gelungen. Und dann maßt sich sich das Mädchen ein Werturteil über ein anders Mädchen an, das sie laut eigener Aussage kaum kennt.
Gut, die Leser können sicherlich einschätzen, was sie von diesem Werturteil zu halten haben, nur frage ich mich, was du als Autorin mit diesem Schwenk uns Unsympathische beweckst.
Details:

allerdings, es war viel zu bewölkt
diese Konstruktion leuchtet mir leider gar nicht ein.
Nele war eine in der Schule eine Stufe unter mir
ein "eine" zu viel
Mein Eindruck von ihr war immer nett und zurückhaltend gewesen.
Wie hält sich denn ein Eindruck zurück?
das aber genügend Selbstvertrauen besaß und die das Vertrauen der meisten ihrer Stufe zu besitzen schien.
"die" ist überflüssig, Meisten wird groß geschrieben, da keine ergänzendes Objekt folgt.
Aber von denjenigen, denen sie so oft geholfen hatte, war niemand da. Nur ich.
damit macht sich die Icherzählerin, die gerade noch gesagt hat, außer hi wie geht's, hätte sie nie mit ihr gesprochen, zu einen Menschen, dem Nele schon geholfen hätte. Auch weiß sie für den geringen Kontakt schon zu viel.
Sie sagte, sie hat ihn gut gekannt, sie waren befreundet.
Da der grundlegende Tempus die Vergangenheit ist, muss dieser Satz im Perfekt stehen, denn Nele sitzt ja nicht mehr im Auto.
wenn einer meiner Freunde sich selbst das Leben nähme
"selbst" liegt schon im "sich" und ist im Vergleich überdies falsch, denn Alexander hat einen Zugfahrer gezwungen, ihm das leben zu nehmen.
Wie hatte sie seine Sorgen nicht ernst nehmen können?
Ich finde es ja unglaublich, wie deine Icherzählerin Nele hier bewertet.
Dann muss man selbst hinaus.
Ich verstehe schon, warum du den Satz im Präsens hast, grammatisch wirkt es aber dadurch schräg und in der Deutlichkeit der Aussage etwas gezwungen.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo sim!

Vielen Dank für deinen Kommentar; das hilft mir sehr.

Wie hatte sie seine Sorgen nicht ernst nehmen können?
Ich finde es ja unglaublich, wie deine Icherzählerin Nele hier bewertet.

Absicht war weniger, zu bewerten, zu richten; der Gedankengang der Icherzählerin war schlicht: Wenn sich jemand selbst tötet, muss er/sie sehr verzweifelt sein - und das muss doch jemand realisieren!
Sie geht davon aus, dass Nele diese Verzweiflung bemerkt haben muss und fragt sich, warum diese nicht gehandelt hat, es wohl nicht ernst genommen hat - Die Erzählerin relativiert es ja aber selbst sofort wieder:
Oder vielleicht einfach nur nicht ernst genug? Weil Selbstmord einem immer so weit weg scheint, das ist wie Krebs oder AIDS, das passiert immer nur anderen, nie einem selbst. Meine Freunde? Meine Freunde haben doch mich ...

Die Rechtschreibfehler sind natürlich unentschuldbar ;) Danke fürs Finden, ich werde sie sofort entfernen.

und ist im Vergleich überdies falsch, denn Alexander hat einen Zugfahrer gezwungen, ihm das leben zu nehmen.
Gut, natürlich war's faktisch der Zugfahrer. Aber wenn er sich vor den Zug wirft, seinen eigenen Tod durch diese Handlung herbeiführt, dann ist das doch Selbstmord?

Immerhin:

Denn bis zu diesem Leuchtturmabsatz, der deiner Geschichte den Titel gibt, finde ich diese Form der Suizidgeschichte gelungen
Das freut mich :)

Vielen Dank nocheinmal fürs Lesen und kritisieren. Ich werde überlegen, wie ich den Gedankengang deutlicher machen kann.

Liebe Grüße,
Leseratte

 

Die Idee zu der Geschichte gefällt mir. Was mir aber nicht so recht gefallen will, ist die wortreiche Ausführung. Die Tonlage der Geschichte entspricht meiner Ansicht nach nicht dem Inhalt, zu zerfasert, zu wortreich, zu sehr "hi wie gehts". Estrel

 

Hi Estrel,

zu zerfasert, zu wortreich, zu sehr "hi wie gehts".
Was genau meinst du? Schwafelnd? Oberflächlich? Ich bring das nicht unbedingt mit "zerfasert" in Einklang ... :schiel:

Es wäre schön, wenn du mir noch einmal eine - konkretere - Rückmeldung geben könntest, was genau ich verbessern kann. :)

Aber danke schon mal, und liebe Grüße,
Leseratte

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom