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Liebe endet mit Ejakulation oder die Kunst der poetischen Weltsicht
„Das unfassbar geistesarme an der Tatsache, dass wir glauben, dass das Leben einen Sinn haben muss, ist doch, dass wir es als absurd betrachten, strebsam in etwas Sinnfreiem zu sein, im gleichen Atemzug aber nicht zögern würden, die Beziehungen zu anderen menschlichen Wesen als eine Essentialität eben diesen Lebens zu begreifen. Und, lieber Freund, eingestehen wirst du mir müssen, dass die Beziehung zu einem anderen Menschen mit Nichten etwas Sinnvolles ist. Nicht wenn man, wie heute üblich, alle poetische Weltsicht verloren hat.“
„Manchmal glaube ich, du machst das mit Absicht, Henry“, sagte er und ließ sich unachtsam in den engelsblauen Flokatisack fallen, der dem Fenster auf dessen Rahmen ich saß gegenüber stand und - diese Art Strapaze ungewohnt - eine nicht unerheblich Menge Staub von sich gab um sich schließlich der Sitzfläche seines Meisters anzupassen. “Ich meine, wen interessiert das? Selbstbezüglichkeit, Henry, Selbstbezüglichkeit. Ich habe eine Beziehung um einer Beziehung willen, so wie jeder andere Mensch auch. Das ist es, was du tun solltest. Hör’ auf mich, Henry. Kein Mensch glaubt an die Liebe, sonst hätten sie wohl andere Prüfsteine bei der Partnerwahl, als die Treue, oder?“
„Treue ist ein physischer Akt, wenn überhaupt. Verstehst du ein Wort von dem was ich sage?“ Fragte ich. „Poesie, verdammt. Es geht nicht um Menschen, es geht nie um Menschen, schon gar nicht um jeden anderen.“
„Aber was haben Gedichte damit zu tun, Henry, du redest wirr!“, erwiderte er mit leicht gereiztem Ton in der Stimme und einem etwas dümmlichen Ausdruck in seinem kleinen, blassen Gesicht.
Ich wusste, dass er mich nicht verstehen konnte. Ich wusste, dass es nur wenige Momente in meinem Leben gab, an denen ich mich selbst wirklich verstanden hatte, aber dieser Gedanke, er ließ mich nicht mehr los. Poesie. Alles ist so einfach mir ihr. Alles ist silbrig, unwirklich; alles ist wohltuend, erstrebenswert und des Begriffes Schönheit am würdigsten. Schmerzen, Verzweiflung, Enttäuschung, Leiden, selbst der Tod bleibt Pracht in der Poesie. Dennoch ist sie kein eigentlicher Sinn, kein Grund und darum dem Leben wieder so vertraut, so einleuchtend, so spielerisch plausibel. Alles Seelenheil liegt in der poetischen Sicht der Welt, sofern man eine Sicht auf die Welt hat.
„Aber was sieht man, wenn man auf die Welt blickt?, fragte ich, wie aus einem Traum gerissen.
„Seine Füße?“, entgegnete er, erhob sich mühsam aus seinem Flokatibrunnen und deutete mir mit einer nicht eben subtilen Geste, dass auch ich mich erheben sollte. „Geh’ jetzt, es ist spät.“
Ich stieg von der Fensterbank und schaute ihm eine Weile sprachlos in das kleine, blasse Gesicht.
„Ich geh’ jetzt, es ist spät.“, sagte ich und versuchte, so ernst wie irgend möglich zu bleiben. Auf dem Weg zum Auto verdichtete sich mein Gedanke.
Wie betörend unhöflich von ihm. Es war viertel nach Zehn. Ein eindeutig emotional motivierter Rauswurf also. Ärgerlich? Poetisch, reizvoll. Denn wäre es wirklich nur zu spät, wäre es gleichsam emotionslos, so mir doch jeder zustimmt, dass die Schläfrigkeit an Sich keine Gemütserregung ist.
„Viertel nach Zehn. Ich hasse es, wie der Abend die Gedanken verändert.“
„Bleibst du heute hier?“, fragte sie, ohne auf meine Beiläufigkeit einzugehen und mit dem wohligen Wissen, dass ich ihrem nackten Körper nicht widerstehen wollte.
„Ja.“, sagte ich.
„Bleibst du morgen auch?“
„Ja.“, sagte ich und ließ mir nicht anmerken wie unwohl ich mich in diesem Augenblick fühlte.
Sie lächelte. „ Liebst du mich?“
„Natürlich.“, sagte ich, während ich mich zur Seite lehnte um sie zu küssen.
Ich zog sie zu mir heran und genoss alles Leben und Beben in ihrem Körper. Bis die Natur ihren Lauf nahm und ich mich gesättigt von ihr rollte.
„Poesie.“, sagte ich kaum hörbar.
Ich stand auf, sammelte meine Sachen auf und zog mich an. Sie sagte kein Wort.
Auf dem Weg zur Tür machte ich kurz kehrt.
Wären ihre Tränen Spiegel gewesen, so hätte ich mein Lächeln sehen können.