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Liebe macht blind

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14.01.2007
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Liebe macht blind

Der vertraute Geruch von Schmierseife und Zitronen im Hausflur. Nein, nein, nur kein Licht. Sie fand ihren Weg im Dunkeln. Langsam, tastend, an der rauen Wand entlang. Langsam, vorsichtig. Sei achtsam und tue alles mit Bedacht, sagte Buddha. Leben ist Leiden. Barbara glaubte daran. Sie wusste es. So sicher wie sie wusste, wer Horst war. Der Mann, den sie liebte.

Der Weg ist das Ziel. Der Weg ist das Ziel? Was war das Ziel? Die Sonne auf der Fußmatte lachte. Lisas Lachen. Etappenziel Wohnungstür. Staffelübergabe nach dreimaligem Hertie, Aldi und zurück im Schneckentempo - ja, ja, so ein Schneckenhaus ist schwer und macht langsam - vorbei an den Schaufenstern mit den Dingen, die sie niemals kaufte. Der Weg ist das Ziel.

Lisa war seit drei Stunden glücklich zu Hause, zu Hause bei Horst, der ihr Vater war.
Friedlich und ruhig. Nur die leise Melodie der Tagesschau und das heimelige Flackern des Fernsehers hinaus in den Flur.
Absolute Dunkelheit mit einem Schlag.

Horst, wo bist du? Wo ist er, mein Horst? Wo ist er in diesem Gesicht? Oh ja, sie kennt dieses Gesicht. Das schüttere blonde Haar, die kleinen blauen Augen, die nur blitzende Schlitze sind, der Schweiß, der ihm auf der Stirn und der Kerbe über der Oberlippe steht und sein rotes, rundes Gesicht mit dem Grübchen in der Wange. Aber wo ist Horst?
Horst, bitte! Horst, bitte, nein! Horst oder der, der mal Horst war. Leise ganz leise. Lisa! Wimmern und winden wie ein Wurm, flehen, aber es ist sinnlos. Sie weiß es. Leben ist Leiden. Das sagt Buddha, der Erleuchtete.

Es ist kalt auf den Fliesen im Bad, warm in ihrem Gesicht. Sie zieht sich am Rand des Waschbeckens hoch. Leben ist Liebe, Leben ist Leiden. Ihr Rücken, ihr Gesicht, ihr Körper lebt. Ist schon Morgen? Jeden Tag ein neuer Morgen, eine neue Chance. Draußen im Wohnzimmer spricht Horst mit Lisa. Sie kann sie sprechen hören, laut und eindringlich. Sie lässt Wasser über das Gesicht laufen, bis das Gesicht so kalt ist wie das Wasser. Erst dann ein Blick in den kristallklaren Spiegel.

Womit habe ich das verdient, Horst? Womit? Was habe ich getan? Was ist passiert? Ist es, weil ich nichts vom Einkaufen heimgebracht habe? Weil, du mich nicht mehr begehrst? Weil du mich nicht mehr liebst? Leben ist Liebe.
Ist es, weil ich es verdient habe? Ist es, weil ich die Badezimmermatte, Lisas Matte mit den blauen Fischen, die Matte auf der sie sich, mit Benno im Arm, warm und zu Hause fühlt, wenn ihr Bett wieder kalt und nass ist, wieder mit Blut besudelt habe? Dass ich Lisa ihr zu Hause, ihre Geborgenheit, ihre Kindheit genommen habe? Nein, nein, Lisa. Lisa lacht.

Ein bleierndes Band legt sich um ihre Kehle, ein Band aus Schuld und Scham.
„Was habe ich getan? Was? Es tut mir so leid!“, sagt sie halblaut- immer wieder. Sie weiß es, sie weiß es ja.

Die kleine Hand, die nichts vom Einkaufen heimgebracht hat, das Gesicht brennt. Ihre unsäglichen, unaussprechbaren Makel sind hinein geschrieben wie Brandzeichen. Seine Brandzeichen im Gesicht wie auf einem Stück Vieh. Ihr geschwollenes, blutunterlaufenes Gesicht, das aus sich heraus zu schreien scheint: Ich bin fehlerhaft! Sie schlägt sich mit der unsäglichen, unnützen Hand in ihr unnützes Gesicht. Das bleiernde Band um ihren Hals blitzt dazu in einem auffordernden, fast kecken Stakkato, der einmal ein Walzer war. Leben ist Leiden. Zuckend wie eine Peitsche pulsiert das Halsband. Ihre Fingern berühren die vertraute Narbe unterhalb der Hüfte. Das tut gut in solchen Momenten. Die Erinnerung an eine erfolgreiche Etappe. Aber sie ist noch nicht am Ziel. Nur wieder eine Staffelübergabe. Sie wird weiter laufen. Ja, sie versucht, sich zu ändern und es richtig zu machen. Sie wird es besser machen und aus ihren Fehlern lernen. Denn Leben ist Liebe.

Rasch steckte sie die Badematte in die Waschmaschine.
Sie musste sich für Horst herrichten. Sie wollte ihm gefallen. Nachdem sie die gröbsten Makel überschminkt hatte, warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel. Sie war mit sich zufrieden.
Dann trat sie in den dunklen Flur.

 

The Raven schrieb über ihre Geschichte:

Hallo! Meine zweite KG, die mal ein Fragment aus etwas Größerem war.
Ich weiß, ich bin mit den Interpunktionszeichen sehr frei umgegangen, vor allem was Anführungszeichen betrifft...

Hallo The Raven,

herzlich Willkommen auf Kurzgeschichten.de!

Derartige Anmerkungen bitte immer in einem Extrapost unter die Geschichte. Danke.

Lieben Gruß, Bella

 

Hallo TheRaven,

auch dieser Text ist sehr leidensfokussiert, man wittert ein schlimmes Schicksal.
Man könnte an ihm eine wunderbare Diskussion anzetteln, nicht über das Thema, sondern über den Sinn des Verhaltenen.
Dazu müsste ich natürlich erstmal Gedanken, eine Interpretation oder wenigstens eine Assoziation zu dem Text haben, die eindeutig ist.
Es geht um zwei Frauen und einen Mann.
Es könnte sein, dass Barbara Lisas Mutter ist, Horst der später hinzugekommene Freund. Und Barbara glaubt, da Liebe Leiden ist, ist es in Ordnng, wenn sie leidet.
Irgendjemand misshandelt oder missbraucht Lisa oder Barbara oder beide? Aber auch Barbara scheint zu misshandeln oder nur die Augen davor zu verschließen, was Lisa geschieht.
Alles bleibt im Nebel, wird lyrisch verkleistert, Andeutungen, schwere Schmierseifenatmosphäre erzeugt spießige Miefigkeit, gegen die kein Zitronenduft etwas ausrichten kann.
Und genau da setzt für mich die grundsätzliche Überlegung ein. Welchen Sinn hat es, die Dinge nicht zu benennen, sondern schönzuschreiben? Welchen Sinn hat diese lyrische Schmierseife über Grauen? Soll sie es abmildern, konsumierbar machen oder soll sie den Autor nur selbst vor der direkten Auseinandersetzung schützen?
Soll sie vielleicht Schweigegelübbde einhalten, noch die Mitteilung mit der Lüge versehen: Ich habe doch gar nichts gesagt?
Klartext wird in den folgen geredet, Brandzeichen, blutunterlaufenes Gesicht, Autoaggressio, Narben.
Natürlich brauchen Opfer Schutz und genauso natürlich schützt es sie, sich nur nebulös auszudrücken. Und auch Täterperspektive neigt meist zum Nebel, zur Verschleierung.
In den siebziger Jahren, als (sexuelle) Gewalt aus der Tabuzone ins Licht der Kunst gezerrt wurde, war es sicher gut, für den Missbraucher erstmal Bilder zu finden, wie etwa im Theaterstück "Frostnacht", in dem das Bild eines Vogels, der über das Mädchen kommt für den Missbraucher verwendet wird. Ich persönlich finde aber diese Verkleisterung heute nicht mehr notwendig, sondern eher ärgerlich.

Aber vielleicht habe ich auch den ganzen Text nicht verstanden.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo sim,

[auch dieser Text ist sehr leidensfokussiert]
Ja, denn aus Sicht Barbaras ist leben=lieben und lieben=leiden. Und sie will ja leben.

[Es geht um zwei Frauen und einen Mann.
Es könnte sein, dass Barbara Lisas Mutter ist, Horst der später hinzugekommene Freund. Und Barbara glaubt, da Liebe Leiden ist, ist es in Ordnng, wenn sie leidet.
Irgendjemand misshandelt oder missbraucht Lisa oder Barbara oder beide? Aber auch Barbara scheint zu misshandeln oder nur die Augen davor zu verschließen, was Lisa geschieht.]

Ja, Barbara ist mit Horst verheiratet und sie haben eine Tochter. Horst schlägt Barbara und sie sucht die Schuld bei sich, weiß aber gar nicht so genau, was ihre Schuld ist. Da sie ihn aber liebt oder zumindest denkt, es zu tun, agiert sie nicht.
Sie weiß aber, dass sie mit ihrem "Nicht-Handeln" schuldig an ihrer Tochter wird und ihre Tochter eben nicht immer "lacht", sondern sich mit ihrem Stofftier auf die Badezimmermatte legt, wenn sie wieder ins Bett gemacht hat. Aber diese Erkenntnis kommt nur kurz hoch und sie redet es sich wieder schön bzw. verdrängt es.

[Alles bleibt im Nebel, wird lyrisch verkleistert, Andeutungen, schwere Schmierseifenatmosphäre erzeugt spießige Miefigkeit, gegen die kein Zitronenduft etwas ausrichten kann.
Und genau da setzt für mich die grundsätzliche Überlegung ein. Welchen Sinn hat es, die Dinge nicht zu benennen, sondern schönzuschreiben? Welchen Sinn hat diese lyrische Schmierseife über Grauen? Soll sie es abmildern, konsumierbar machen oder soll sie den Autor nur selbst vor der direkten Auseinandersetzung schützen]

Nein, nichts dergleichen. Es soll zeigen, wie eine misshandelte Frau denkt, wie sehr sie versucht irgendeinen Sinn darin zu finden, was passiert, versucht, den "Schmierseifenmief" und die heimlige Atmospäre nicht zu zerstören, sich einredet, es ist schon alles gut und richtig, sich sogar einredet, sie sei im Unrecht und sie habe das alles verdient, wie sehr sie mit Komplexen beladen ist, dass sie noch nichtmals aufwacht, sehend wird, denn Schleier der Blindheit lüftet, wenn sie eigentlich doch weiß, dass all dies ihrem Kind, das sie zweifelsohne sehr liebt, schadet.

[Klartext wird in den folgen geredet, Brandzeichen, blutunterlaufenes Gesicht, Autoaggressio, Narben.]

Sie hat schon eine lange Leidensgeschichte, denn er schlägt sie schon sehr lange und sie sagt sich, sie habe immer alles überstanden, sei weiter gerannt in ihrem Staffellauf zum Ziel, das sie nicht kennt. In diesem Ziel, das sie nicht kennt, gibt es eine Entwicklungsmöglichkeit. Sie sieht im Spiegel wie er sie degradiert, erkennt, dass er sie fürs Leben gebrandmarkt hat und erkennt auch, dass es Lisa dabei nicht gut geht. Aber in diesem Moment ist der Wunsch, nicht "ganz sehen" zu wollen doch noch stärker, sie überschminkt ihr Makel und geht hinaus zu Horst.

[Ich persönlich finde aber diese Verkleisterung heute nicht mehr notwendig, sondern eher ärgerlich]

Ich verstehe, was du meinst. Mir ging es darum, die Innensicht einer Misshandelten darzustellen und die "verkleistert" sehr gern. Sie muss es, sie kämpft mit sich und ist zwischen dem Sehen des Offensichtlichen und dem Nicht-Sehen, nicht sehen wollen, hin-und hergerissen.

Vielen Dank für die Rückmeldung! So ist es mir doch gelungen, genau das zu beschreiben, was ich beschreiben wollte und ich habe die "richtigen Mittel" dafür gewählt. Ob ich das Thema befriedigend ausgeführt habe, liegt natürlich im Auge des Betrachters. Aber ich bin schon ganz stolz ;-), dass das, was ich sagen wollte, für dich dabei zum Ausdruck kommt.

Wie gesagt, der Text kommt aus einer längeren Geschichte. Ich wollte dieses Figuren-Cluster um ein anderes herum bauen, um zwei Entwicklungen parallell ablaufen zu lassen, habe dann aber festgestellt, dass es ausufern würde. Deswegen habe ich es rausgenommen. Das war soz. die Einführungsepisode zu Baraba-Horst-Lisa. Sie hätte sich noch entwickelt, ihr Sehen wäre umfangreicher geworden und sie hätte ihren Mann verlassen.

Es ist eine Krux...an KGs muss ich noch viel üben...Ich bin zu Längerem berufen...*g

Herzliche Grüße, T.
PS: Noch eine praktische Frage: Wie kriege ich Zeilen so schön zitiert wie ihr das hier macht. So, dass sie farbig unterlegt sind?

 

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