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Liebe macht blind
Der vertraute Geruch von Schmierseife und Zitronen im Hausflur. Nein, nein, nur kein Licht. Sie fand ihren Weg im Dunkeln. Langsam, tastend, an der rauen Wand entlang. Langsam, vorsichtig. Sei achtsam und tue alles mit Bedacht, sagte Buddha. Leben ist Leiden. Barbara glaubte daran. Sie wusste es. So sicher wie sie wusste, wer Horst war. Der Mann, den sie liebte.
Der Weg ist das Ziel. Der Weg ist das Ziel? Was war das Ziel? Die Sonne auf der Fußmatte lachte. Lisas Lachen. Etappenziel Wohnungstür. Staffelübergabe nach dreimaligem Hertie, Aldi und zurück im Schneckentempo - ja, ja, so ein Schneckenhaus ist schwer und macht langsam - vorbei an den Schaufenstern mit den Dingen, die sie niemals kaufte. Der Weg ist das Ziel.
Lisa war seit drei Stunden glücklich zu Hause, zu Hause bei Horst, der ihr Vater war.
Friedlich und ruhig. Nur die leise Melodie der Tagesschau und das heimelige Flackern des Fernsehers hinaus in den Flur.
Absolute Dunkelheit mit einem Schlag.
Horst, wo bist du? Wo ist er, mein Horst? Wo ist er in diesem Gesicht? Oh ja, sie kennt dieses Gesicht. Das schüttere blonde Haar, die kleinen blauen Augen, die nur blitzende Schlitze sind, der Schweiß, der ihm auf der Stirn und der Kerbe über der Oberlippe steht und sein rotes, rundes Gesicht mit dem Grübchen in der Wange. Aber wo ist Horst?
Horst, bitte! Horst, bitte, nein! Horst oder der, der mal Horst war. Leise ganz leise. Lisa! Wimmern und winden wie ein Wurm, flehen, aber es ist sinnlos. Sie weiß es. Leben ist Leiden. Das sagt Buddha, der Erleuchtete.
Es ist kalt auf den Fliesen im Bad, warm in ihrem Gesicht. Sie zieht sich am Rand des Waschbeckens hoch. Leben ist Liebe, Leben ist Leiden. Ihr Rücken, ihr Gesicht, ihr Körper lebt. Ist schon Morgen? Jeden Tag ein neuer Morgen, eine neue Chance. Draußen im Wohnzimmer spricht Horst mit Lisa. Sie kann sie sprechen hören, laut und eindringlich. Sie lässt Wasser über das Gesicht laufen, bis das Gesicht so kalt ist wie das Wasser. Erst dann ein Blick in den kristallklaren Spiegel.
Womit habe ich das verdient, Horst? Womit? Was habe ich getan? Was ist passiert? Ist es, weil ich nichts vom Einkaufen heimgebracht habe? Weil, du mich nicht mehr begehrst? Weil du mich nicht mehr liebst? Leben ist Liebe.
Ist es, weil ich es verdient habe? Ist es, weil ich die Badezimmermatte, Lisas Matte mit den blauen Fischen, die Matte auf der sie sich, mit Benno im Arm, warm und zu Hause fühlt, wenn ihr Bett wieder kalt und nass ist, wieder mit Blut besudelt habe? Dass ich Lisa ihr zu Hause, ihre Geborgenheit, ihre Kindheit genommen habe? Nein, nein, Lisa. Lisa lacht.
Ein bleierndes Band legt sich um ihre Kehle, ein Band aus Schuld und Scham.
„Was habe ich getan? Was? Es tut mir so leid!“, sagt sie halblaut- immer wieder. Sie weiß es, sie weiß es ja.
Die kleine Hand, die nichts vom Einkaufen heimgebracht hat, das Gesicht brennt. Ihre unsäglichen, unaussprechbaren Makel sind hinein geschrieben wie Brandzeichen. Seine Brandzeichen im Gesicht wie auf einem Stück Vieh. Ihr geschwollenes, blutunterlaufenes Gesicht, das aus sich heraus zu schreien scheint: Ich bin fehlerhaft! Sie schlägt sich mit der unsäglichen, unnützen Hand in ihr unnützes Gesicht. Das bleiernde Band um ihren Hals blitzt dazu in einem auffordernden, fast kecken Stakkato, der einmal ein Walzer war. Leben ist Leiden. Zuckend wie eine Peitsche pulsiert das Halsband. Ihre Fingern berühren die vertraute Narbe unterhalb der Hüfte. Das tut gut in solchen Momenten. Die Erinnerung an eine erfolgreiche Etappe. Aber sie ist noch nicht am Ziel. Nur wieder eine Staffelübergabe. Sie wird weiter laufen. Ja, sie versucht, sich zu ändern und es richtig zu machen. Sie wird es besser machen und aus ihren Fehlern lernen. Denn Leben ist Liebe.
Rasch steckte sie die Badematte in die Waschmaschine.
Sie musste sich für Horst herrichten. Sie wollte ihm gefallen. Nachdem sie die gröbsten Makel überschminkt hatte, warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel. Sie war mit sich zufrieden.
Dann trat sie in den dunklen Flur.