Liebe
Es war ein kleiner Samen unter tausenden bei unserem ersten Zusammentreffen. Aber schon damals fühlte ich die Ader des Lebens in ihm pulsieren. So habe ich ihn neugierig beobachtet und mich an seinem Gedeihen erfreut. Zugegeben, bald habe ich ihn selbst gegossen, gepflegt und zu Größe verholfen. Aus dem kleinen Sprössling, der eben über die langen Grashalme hinwegblicken konnte, war ein kleines Bäumchen geworden. Noch war es den erbitterten Naturgewalten schutzlos ausgeliefert, doch stemmte es sich mutig gegen sie und wuchs tapfer in den Himmel empor. Auf diese Weise sah es alle Jahreszeiten. Heiße Sommer und kalte Winter. Herbststürme, die dunkle Zeiten ankündigten und das Frühjahrsdrillern kleiner Grünfinken, die freudig ihre Jungen begrüßten.
Im zweiten Jahr, sieh da, hatte er sich zu einem ansehnlichen Bäumchen weiterentwickelt. Alte Geheimnisse waren bald gelöst, verloren ihren Zauber. Aber wo sich alte Türen schlossen, öffneten sich natürlich Neue.
Mittlerweile hat der klitzekleine Samen einen langen Weg zurückgelegt. Manchmal, da könnte man trotzdem meinen, es wäre alles erst gestern passiert. So schnell ist die Zeit verronnen. Wenn sich der Baum allerdings umblickt, sieht er manch Riesen, tief verwurzelt im Boden, neben ihm in den Himmel ragen. Dann weiß er, dass noch viel kommen mag. Er kann noch davon träumen, die Wolken zu kratzen und das Himmelgewölbe zu berühren. Aber auch wenn er einmal sein Ende erreichen sollte, wird er nicht vergehen. Er wird als Nährboden für neues Leben und neue Samen dienen, die wiederum hoch in den Himmel wachsen können und irgendwann wieder die Basis für das Kostbarste darstellen werden. So wird der kleine Baum bis in die Ewigkeit bestehen.