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Liebe
Glücklich schaute sie auf das kleine Wesen in ihren Armen.
Satt und zufrieden war er eingeschlafen, nachdem es ihre Brüste mit der warmen Muttermilch geleert hatte.
Sieben Wochen war er nun bei ihr. Keine Wochenbettdepression hatte sie ereilt, kein Milchstau plagte sie. Jasmin genoss jede Sekunde mit ihrem kleinen Wunder.
Dass es keinen Vater zu dem Kind gab, bereute sie nicht, ihre kurzfristige Affäre wusste nicht einmal, dass er existierte.
Sie kam gut alleine klar und war froh, ihren Schatz mit niemandem teilen zu müssen, auch wenn sie es bedauerte, dass ihre Mutter nicht mehr lebte. Sie hatte sich immer so sehr ein Enkelkind gewünscht, hatte Jasmin mit ihrem Wunsch sogar permanent in den Ohren gelegen, aber im letzten Jahr war sie plötzlich und unerwartet verstorben. Ihr Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen.
Zuerst dachte Jasmin, dass sie den Verlust ihrer Mutter nicht überwinden könnte und fiel in eine tiefe Ohnmacht aus Schmerz und Antriebslosigkeit.
Doch als sie hörte, dass sie ein Baby erwartete, schöpfte sie neuen Mut und ihre tiefe Traurigkeit verwandelte sich in freudige Erwartung.
Einige Wochen vor der Geburt hatte sie ein Haus außerhalb der Stadt aus dem Erbe ihrer Mutter gekauft, da ihr die kleine Zweizimmerwohnung für ein Baby nicht passend erschien.
Kinder brauchen Platz zum spielen und toben, daher war sie glücklich, das kleine Häuschen mit dem großen Garten so günstig bekommen zu haben.
Das warme Paket in ihren Armen seufzte zufrieden, als sie ihn in seinen Stubenwagen legte, der in ihrem Schlafzimmer stand.
Da er noch alle drei bis vier Stunden wach wurde, war es so einfach bequemer für sie, als wenn er in seinem Zimmer schlafen würde.
Sie strich ihm über den zarten Babyflaum und deckte ihn mit der blauen Decke gut zu.
Sie lächelte und beobachtete ihn noch einige Minuten beim Schlafen. Er war so wunderschön, so einzigartig.
Dann legte sie sich auf ihr einfaches Kiefernbett und schlief beinahe umgehend ein.
Da sie seit sieben Wochen nicht mehr durchschlief, hatte ihr Körper gelernt, in der kurzen Zeit des Schlafes so viel Kraft wie möglich zu schöpfen.
Als sie erwachte, war es dunkel.
Ungewöhnlich, denn als sie sich hingelegt hatte, waren es erst vier Uhr nachmittags gewesen.
Normalerweise hätte er sie um sechs, spätestens sieben wecken müssen.
Ruckartig setzte sie sich auf.
Der Plötzliche Kindstod schoss in ihre Gedanken und sie befiel eine panikartige Angst, denn auch jetzt war es immer noch still in ihrem Schlafzimmer.
Sie tastete nach dem Lichtschalter neben ihrem Bett und drückte ihn. Nichts geschah.
Der Raum blieb dunkel.
„So ein Mist“, fluchte sie in Gedanken.
Sie stand auf und ging vorsichtig durch das Zimmer, die Hände vor sich ausgestreckt, um nicht zu stolpern.
„Paul?“ „Schatz?“ fragte sie dabei laut in die Dunkelheit hinein.
Es blieb still. Normalerweise hätte zumindest etwas Licht durch die Fenster fallen müssen, aber der Himmel war so bewölkt, dass sie nicht einmal ihre eigene Hand vor ihren Augen ausmachen konnte.
Plötzlich rutsche sie auf etwas Feuchtem aus und fiel unsanft auf ihre Hüfte.
Ein stechender Schmerz durchfuhr sie und sie gab einen lauten Schmerzensschrei von sich.
Ihre Finger ertasteten beim Aufstehen etwas Gallertartiges, Schleimiges auf dem Boden, aber die Angst um ihr Kind hatte sich so sehr gesteigert, dass sie sich darüber momentan keine weiteren Gedanken machte.
Spätestens bei ihrem lauten Sturz hätte er erwachen müssen, aber es war nach wie vor still hier.
Beinahe wäre sie noch einmal auf dem glitschigen Boden ausgerutscht, doch dann hatte sie den Stubenwagen ihres Kindes erreicht und tastete unruhig hinein, um ihn herauszunehmen und sich zu überzeugen, dass er noch atmete, ihn an sich zu drücken und abzuküssen, seine warmen, kleinen Fäustchen zu halten.
Aber der Stubenwagen war leer.
„Nein!“ schrie sie verzweifelt und gleichzeitig verwirrt.
Wo sollte er hin sein? Sie hätte doch bemerkt, wenn jemand hier eingedrungen wäre, dann wäre sie doch sofort erwacht. Oder?
„Paul?“ „Paaaaaauuul!“
Heiße Tränen strömten über ihr Gesicht. Wo war das Liebste, was sie in ihrem Leben besaß, hin?
Wer hatte ihr den Lebensinhalt genommen? Sie tastete sich schluchzend zur Schlafzimmertür und öffnete diese. Auch der Rest des Hauses lag in tiefer Dunkelheit.
Nachdem sie den Lichtschalter im Flur ausfindig gemacht hatte, musste sie feststellen, dass es auch hier keinen Strom gab.
Jasmin sank auf die Knie und weinte lautstark.
„Gebt mir mein Baby zurück, er braucht seine Mama, bitte bringt ihn mir zurück, bitte“, flehte sie schluchzend in die Dunkelheit ihres Hauses.
Aber es blieb still.
Erst jetzt bemerkte sie den beißenden Geruch, der in der Luft lag. Es roch stark nach Verwesung und Erde. Der Geruch war so intensiv, dass sie das Gefühl hatte, genau vor ihr müsste eine tote Katze oder ein toter Hund liegen.
Es gelang ihr nicht, das Würgen zu unterdrücken, das sie plötzlich befiel und schaffte es gerade noch, die Kontrolle über ihren Körper zurückzuerlangen, bevor ihr Mittagessen endgültig den Rückweg aus ihrem Magen forderte.
Immer noch schluchzend ertastete sie vorsichtig den Boden vor sich. Doch er war trocken.
Keine tote Katze lag in ihrem Flur.
Da erinnerte sie sich an den glitschigen Boden in ihrem Schlafzimmer und rutschte auf Knien zurück dort hin.
Jasmin griff mit zitternder Hand auf den Holzboden vor sich.
Irgendwie schlich sich ihr der Gedanke ein, jemand könnte ihren kleinen Paul bestialisch umgebracht haben und der Geruch würde von seinen Überresten kommen.
Sie schluckte dieses Gedanken runter, als sie in etwas Waberndes, Glitschiges fasste, dass sich anfühlte wie zu lange gekochte Nudeln in Gelatine.
Sie führte etwas davon zu ihrer Nase und roch daran. Der Gestank ließ sie fast ohnmächtig werden, so ekelhaft und stark war er, aber plötzlich merkte sie, dass sich in ihrer Hand etwas bewegte und als sie begriff, was die zu weich gekochten Nudeln waren, übergab sie sich direkt auf ihren Schlafzimmerboden. Selbst als sie nur noch Galle spuckte, konnte sie den Würgereiz nicht unterdrücken.
Während sie würgte und schluchzte, kroch sie auf allen vieren in Richtung Badezimmer.
Auf ihrem Weg stieß sie sich mehrmals den Kopf an der Wand oder dem Treppengeländer, dann hatte sie das Bad erreicht. Auch hier betätigte sie den Lichtschalter vergeblich. Sie drehte den Hahn vom Waschbecken auf und schrubbte sich hektisch die Hände, während sie immer noch würgte. Danach schöpfte sie etwas Wasser in ihre Hände und wusch sich damit das Gesicht. Langsam ließ der Würgereiz nach, aber die Verwirrung und Angst steckte tief in ihren Knochen und ließ sich nicht so leicht vertreiben. Sie wusste nicht, was hier los war und sie wollte am liebsten das Haus auf dem schnellsten Wege verlassen, aber die Liebe zu ihrem Kind überwog jede Angst. Sie musste bleiben und ihren Paul finden. Und wenn es sie selbst das Leben kosten würde, wäre das immer noch besser, als ohne ihren kleinen Schatz weiterleben zu müssen.
Sie musste sofort die Polizei anrufen.
Jasmin drehte den Hahn zu und atmete einmal tief durch. Das Telefon war unten, sie musste die Treppe im Dunkeln hinunter.
Gefasst und fest entschlossen, alles Notwendige für die Rettung ihres Babys zu unternehmen, tastete sie sich aus dem Bad in Richtung Treppe.
Der Gestank war immer noch sinnesbetörend, aber sie riss sich zusammen und erreichte die erste Treppenstufe.
Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und stützte sich dabei auf dem Geländer ab.
Als sie ungefähr die Hälfte der Treppe erreicht hatte, hörte sie ein Geräusch.
Jasmin erstarrte in ihrer Bewegung und lauschte.
Hatte sie sich das nur eingebildet?
Sie hielt inne und bemerkte erst, dass sie aufgehört hatte zu atmen, als sich ihre Lunge schmerzhaft bemerkbar machte.
Sie nahm einen tiefen Atemzug, als sie es wieder hörte.
Diesmal gab es keinen Zweifel. Das war Paul, den sie da hörte. Er maunzte zwar ganz leise, aber sie erkannte ihn eindeutig.
Vergessen war ihre Vorsicht beim hinabsteigen und sie hastete die restlichen Stufen in völliger Dunkelheit hinunter. Auf der letzten Stufe rutschte sie abermals auf etwas Schleimigem aus und fiel vornüber auf die Kommode, die dort stand.
Als Jasmin mit dem Kopf auf der Kante aufschlug sah sie einen Moment Sterne, verlor allerdings nicht die Besinnung. Benommen blieb sie einige Sekunden lang sitzen und fasste mit ihrer linken Hand an die schmerzende Stelle an ihrer Stirn. Warme Flüssigkeit rann auf ihre Finger. Blut. Wahrscheinlich hatte sie sich eine Platzwunde eingefangen.
Doch darauf konnte sie nun keine Rücksicht nehmen. Sie war etwas wacklig auf den Beinen, als sie endlich stand. Ihr Kopf schmerzte und ihre Brust spannte furchtbar. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihr Shirt vorne völlig durchnässt war. Milch war ausgelaufen, Milch, die für ihren Paul bestimmt war. Und irgendjemand oder irgendwas hatte dafür gesorgt, dass er sie nicht bekommen hatte. Sie war nun ziemlich wütend.
So ruhig wie möglich schlich sie in die ungefähre Richtung des Wohnzimmers, obwohl der Eindringling- wenn es einen gab- ihren Sturz wohl kaum überhört haben konnte.
Sie stieß mehrere Sachen um. Unter anderem einen Kerzenleuchter, den sie sogleich ergriff. Das kalte Metall fühlte sich gut an in ihrer Hand und es beruhigte sie irgendwie. Sie nahm ihn mit.
Wieder hörte sie Paul. Er schrie nicht, schien nicht verletzt zu sein. Er maunzte lediglich.
Aber die Geräusche kamen ganz klar aus dem Wohnzimmer.
Je näher sie kam, umso bestialischer wurde wieder dieser Gestank. Sie musste aufpassen, dass sie nicht stürzte, bei fast jedem Schritt rutschte sie und brauchte einige Sekunden, um ihre Balance zu halten.
Als sie die Wohnzimmertür erreichte, blieb sie stehen.Ihre Halsschlagader pochte heftig. Aber sie durfte jetzt nicht aufgeben, ihr Körper durfte nicht aufgeben, sie musste ihr Kind holen.
Jasmin öffnete den Mund, aber es kam nur ein „Pffffffft“ heraus. Sie befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge, schluckte und versuchte es noch einmal.
„Wer…wer ist da?“, fragte sie ängstlicher als sie hoffte, dass es klingen würde.
Sie lauschte, ihre Beine zitterten. Dann erklang ein anderes Geräusch, eine Stimme, aber wieder auch keine Stimme. Etwas Undefinierbares, etwas nicht Menschliches.
„krrrraaasssssssssiiiii“, erklang es leise und monoton.
Jasmin nahm ihren Finger in den Mund und biss feste darauf, um nicht laut aufzuschreien.
Das musste ein Tier sein, ein Tier war irgendwie hier eingedrungen und hatte es geschafft, Paul aus seinem Bettchen zu zerren.
Paul maunzte wieder. Er musste ziemlichen Hunger haben, bald würde er schreien. Jasmin hoffte, dass dieses Ding ihn nicht umbringen würde.
Wieder erklang die tiefe, gleichförmige Stimme. Aber diesmal etwas deutlicher.
„Saaaassssnniiiiin“.
Das war ihr Name. Dieses Viech kannte ihren Namen. Aber Tiere sprechen nicht. Was war es dann, was zur Hölle saß hier mitten in der Nacht in ihrem Wohnzimmer mit ihrem Baby?
„Bitte“, sagte sie nun flehend, „bitte tun Sie meinem Sohn nichts. Bitte, er ist doch nur ein Baby, er braucht seine Milch.“
Ermutigt, ihr Kind zu retten und andererseits voller Todesangst ging sie einen Schritt in das Wohnzimmer hinein.
Unter ihren Füßen knirschte irgendwas.
„Ahhhhhmmeeeee“, erklang es einen Meter vor ihr. Da, wo sie ihr Sofa vermutete.
„Bitte, wer sind Sie? Wollen Sie Geld? Ich habe nicht viel, alles was ich habe, liegt in der Kommode im Flur, das können Sie nehmen, aber bitte geben Sie mir mein Kind“, bettelte sie nun unter Tränen.
„Ahhhhhmmmeeeee“, sagte die Kreatur nun bestimmt.
„Was…? Ich weiß nicht…ich kann Sie nicht verstehen“, heulte Jasmin. Paul wurde langsam lauter, bald würde er brüllen.Seine Stimme kam aus der gleichen Richtung wie die der Kreatur.
„Ahhhhmmeeee eeeeby“, erklang es nun wieder in einem fürchterlichen Ton, der ihr näher erschien als noch vor wenigen Sekunden.
Dieses Biest kam auf sie zu.
Jetzt hörte sie auch ein schleifendes Geräusch auf dem Parkett. So, als würde man einen Sandsack über Holz ziehen.
Ahhmmme, überlegte sie. Natürlich, Name. Es wollte den Namen von ihrem Baby wissen.
„Paul“, stieß sie schnell hervor. „Er heißt Paul, bitte, tun Sie uns nichts“. Ein kalter Windzug streifte ihr Gesicht und der Gestank nach Fäulnis ließ sie beinahe ohnmächtig werden. Aber sie roch noch etwas. Etwas Süßes, Blumiges. Paul.
Das Ding musste direkt vor ihr stehen und Paul dabei haben.
Entweder werde ich jetzt sterben, oder ich werde mein Kind retten.
Nun gab es kein Zurück mehr.
Vorsichtig streckte sie die linke Hand nach vorne, das Zittern bemerkte sie nicht.
Und dann erfasste sie etwas, das so eklig war, dass sie dieses Gefühl niemals vergessen würde. Es war eisig kalt. Nur eine Sekunde berührte sie ihr Gegenüber, eine Sekunde, die allerdings völlig reichte. Noch eine Sekunde und sie wäre auf der Stelle wahnsinnig geworden. Sie fühlte etwas Hölzernes, umgeben von Fetzen von Schleim und vielleicht auch Stoff. Und der Schleim bewegte sich. Das wirre Treiben fühlte sich an wie klitzekleine elektrische Impulse. Und es war kalt, so kalt.
Schnell zog sie ihre Hand zurück und atmete in kleinen, flachen Stößen. Sie wollte sich umdrehen, aber etwas umfasste ihr Handgelenk. Etwas Hölzernes, Knochiges.
„Sssssssssööööne Nnnnahhhmmme, guuuuuut auffffbassssssssn“, erklang es direkt neben ihrem Ohr. Jasmin verlor die Kontrolle über ihre Blase und fiel ihn Ohnmacht.
Sie erwachte von dem Geschrei ihres Kindes.
Sie riss die Augen auf. Immer noch war alles dunkel. Etwas wand sich in ihrem Schoß und sie atmete erschrocken auf, wollte es von sich stoßen, als sie im letzten Moment bemerkte, dass es ihr Baby war. Ihr Sohn, ihr Paul. Sie hatte ihn wieder. Sie betastete sein kleines Gesicht. Dann küsste sie das schreiende Bündel glücklich weinend immer wieder.
Er roch etwas nach Fäulnis, aber im Großen und Ganzen hatte sich der Gestank in ihrem Haus gelegt. Das Ding war weg.
Paul riss seinen Kopf hin und her. Er suchte seine Nahrung, die Quelle, er wusste, dass er ihr nahe war.
Jasmin hob ihr Shirt und der kleine Mund fand sofort die Brustwarze und begann begierig zu saugen.
Sie streichelte über sein Köpfchen und weinte.
Vor Erleichterung ihr Baby wieder zu haben und zu leben.
Sie schluchzte in die Dunkelheit hinein und weinte bittere Tränen, bis die plötzliche Erkenntnis sie wie ein Blitz traf und ihre Tränen trockneten.
Sie hatte keinen Grund, Angst zu haben und hatte nie einen gehabt.
Jemand passte immer auf sie auf. Sie lächelte, als der kleine Paul zufrieden seufzte.