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Liebesbrief
19.01
...gerade brandaktuell hereingekommen: Kai K., dunkelbraune Haare, grüne Augen, einsneunundachtzig groß, vermutlich mit rotem Hemd und Bluejeans bekleidet, wird von seiner Familie vermisst. Wenn Sie Hinweise auf seinen Aufenthaltsort haben, dann rufen Sie bitte unter folgender...
Cara mia,
es ist etwas passiert (endlich, würdest Du sagen, in diesem Dorf, aber Du siehst ja nicht, was passiert).. Du bist gespannt?
Kai, ja genau, der Kai ist verschwunden, weg, keiner weiß wohin. Sein Bild ist in der Zeitung. Vielleicht bringe ich sie mit, wenn ich Dich besuche. Sogar seine herzallerliebste Melanie, die ihn doch mit seinem eigenen Vater hintergangen hat, hat vor der Lokalpresse ein paar Tränchen verdrückt! Was sagt man dazu?
22.01.
Surreal. Wie ein starker Lichtreiz, der die Augen blendet und das Salzwasser provoziert. So echt, wie kein gestelltes Bild je sein kann. Das Foto: Ein Zimmer, ein Männerkörper. Wenn man ihn noch so nennen will, ohne Nägel, gepellt aus seiner Haut bis über die Gürtellinie, den Rücken fein säuberlich verbrannt, die Genitalien separat auf Meißener Porzellantellerchen. Sie haben ihn – wohl um es veröffentlichen zu dürfen - auf den Bauch gelegt. Man munkelt allerdings, sein Gesicht sei heil und der Gesichtsausdruck authentisch.
Ich kann nicht schlafen. Mein Radio habe ich in die Küche gestellt und höre, wann immer ich kann.
...heute bei uns zu Besuch: Kommissar W. aus M.. Kommissar, was tut denn die Polizei nach dieser unbegreiflichen Gräueltat?“ “Wir haben einige sehr fähige Leute zur Unterstützung geholt, die uns helfen, seinen Sohn ausfindig zu machen...
Die Boulevard-Presse zeigt Interesse. Eine skurrile Situation: Die Mischung aus essentieller Angst und brutaler Neugier, die ich in allen Augen sehe. Faszination des Verbrechens.
24.01.
Heute haben sie Melli gefunden, sauber geteilt in Sonder-, Rest- und Biomüll, ordentlich verpackt in reguläre richtigfarbene Müllsäcke. Ihr Oberkörper war eingeritzt, kunstvoll, in mühseliger Kleinarbeit. Man kann den Geruch der verwesenden Körperteile förmlich aus den Bildern riechen.
...Waltraud K., die Mutter des verschwundenen Kai K. und Tochter des Opfers Helmut K., wurde heute in die nahegelegene Psychiatrie eingeliefert...
Hättest Du die Bilder gesehen – Du hättest geweint. Aber jetzt bist Du weg, unerreichbar. Ich kann nicht weinen.
25.01.
Fernsehteams und Reporter belagern die Stadt. Keinen Schritt kannst du im ganzen Ort tun, ohne einem von diesen geleckten Fuzzis über den Weg zu laufen. Überall wabert kalt-kriechende Bedrohung. „Wir erstellen ein Profil“ sagen die Männer mit den eleganten grauen Anzügen und den filmreifen Sonnenbrillen. Wo doch alle schon ihr Urteil gefällt haben. Die Warnmeldungen gehen stündlich heraus, die Fahndung nach Kai läuft auf Hochtouren. „Kai K. auf Rachefeldzug“ „Killersohn on Tour“ – die Schlagzeilenerfinder überschlagen sich, versuchen sich gegenseitig zu übertrumpfen, auszustechen. Widerliche Ausschlachtung der Situation, wie die Aasgeier fallen sie herein. Es herrscht Krieg.
26.01.
Ich habe Dich besucht, aber wieder warst Du nicht da. Ich habe es schon so oft versucht. Wann kommst Du endlich zurück? Ich brauche Dich, verdammt!
28.01.
Tack...Tack... die Zeit scheint stillzustehen. Angst, überall.
...„Warum unternimmt nicht endlich jemand etwas?“ „Wir tun, was in unserer Macht steht.....
Mein Radio läuft auf Hochtouren. Wo zunächst Musik mit gelegentlichen Nachrichtenunterbrechungen waren, sind jetzt Nachrichten und Diskussionen mit seltenen Musikeinschüben. Sie spielen nur noch Trauerzeugs, furchtbar. Lachen verboten. Alles falsch.
30.01.
Sie haben ihn!
... Heute vor Gericht: Der junge Kai K., dessen Amoklauf das ganze Land in Furcht und Schrecken versetzte. Sein Verteidiger gab überraschenderweise bekannt, sein Mandant wolle auf „nicht schuldig“ plädieren, obwohl keine reelle Chance besteht, dieses Urteil zu erreichen. K. gibt an, er sei von einem unbekannten Entführer „gezwungen“ worden, diese Morde zu begehen. Hören Sie morgen...
Ich habe ihn nicht gezwungen, ich habe ihm geholfen. Die Schönheit seiner Seele ist rein. Mein Meisterwerk, meine Abschlussarbeit. Das Leben, dass er dir nahm, deine Unschuld, wurde ihm gegeben. Wie oft habe ich in meinen Träumen ihn gesehen, wie er Deinen Willen bricht, Dein Lachen löscht, Deine Träume kippt. Ich habe ihn gesäubert, bis auf den Grund seines Geistes. Nie war er so gut, wie in dem Moment, als er die Qual verübte und mitlitt mit den Menschen, die er liebte. Der Tod war zu gut für ihn, bevor ich ihn auf sich stieß – er kennt sich nun, wie sich sonst keiner kennt. Er ist verurteilt – seinen, Deinen, unsern Frieden herzustellen, Dich hierher zurückzuholen.
Deine Pfleger sagen, man kann nichts tun, man muss warten, Geduld haben. Ich werde warten, geduldig (jetzt, da ich meine Ruhe gefunden habe) und für Dich da sein.
Immer, geliebte Schwester.