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Liebst Du mich?
Stella schattierte mit einem weichen Bleistift verschiedene Äpfel und Birnen. Das Stillleben war Teil einer Hausarbeit für den Kunstunterricht und das Ergebnis würde dreißig Prozent der Gesamtnote ausmachen.
Sie befeuchtete ihren Daumen und verrieb die feinen gezogenen Linien als sich plötzlich die Tür öffnete, und Anton, ihr Vater, ins Zimmer trat.
„Stella, Frank ist hier. Eine Stunde, habe ich ihm gesagt. Keine Minute länger.“
Hinter Anton erschien Frank. Ein hagerer Mann Mitte Dreißig, der vor allem durch zwei hervorstechende Merkmale auffiel: seine schwarzen Zähne und die Kassenbrille, deren Gläser, wie es schien, aus den Böden von Colaflaschen geschnitten worden waren. Diese zwei Dinge waren so prägnant, dass man gar nicht mehr so sehr auf das schlecht geschnittene Haar Acht gab, das in der Mitte gescheitelt war und platt und fransig zu beiden Seiten über die Ohren fiel.
„Und das mir keine Klagen kommen. Haben wir uns verstanden?“
Stella legte stumm Block und Bleistift zur Seite und während sie noch ihre Sachen wegpackte, fiel die Tür wieder ins Schloss.
Später an diesem Tag.
„Hey Stella. Jetzt komm doch mal zu mir rüber. Du kennst doch meine CDs schon in- und auswendig.“
Stella ließ sich durch Nicos Worte nicht beirren und durchforstete weiter gedankenverloren sein Regal.
„Habe bei Ebay ein Album von The Cure ersteigert. Die fandest Du doch so toll. Sind ein paar coole Stücke drauf. Sollen wir die mal rein tun?“
Stellas Augen begannen zu glänzen. Wortlos nickte sie Nico zu, der sich schon dran gemacht hatte, den Silberling einzulegen.
„Weißt Du noch? Das Lied spielte in der Nachtwache. In drei Tagen ist das nun schon zwei Jahre her.“
Stella lächelte stumm und blickte, ein wenig verlegen, in seine Augen.
Von ihrem Blick angezogen, ging Nico um sie herum und legte ihr die Arme um die Schultern. Stella lehnte ihre Wange an Nicos Arm und genoss die Wärme und die Nähe, die er ihr gab.
Robert Smith gequälte Stimme drang indes aus den Boxen und erfüllte das Zimmer rings um sie.
In Nicos Armen zu liegen und ihn so nah zu spüren, versetzte Stella stets in eine andere Gedankenwelt. Es hob sie auf eine Ebene, auf der sie sich sicher und geborgen fühlte. Aber jetzt wollte sich dieses angenehme Gefühl partout nicht einstellen.
An diesem Tag war ihr die kalte Realität, der sie so oft entflohen war, heimtückisch gefolgt, hatte ihr aufgelauert und ihre dürren, eisigen Finger nach ihr ausgestreckt.
Stella erzitterte. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Ein Gefühl der Verzweiflung schlich in ihr Herz und füllte ihre Augen mit Tränen, die sie aber nicht freigeben wollte, nicht vor ihm.
Nico war immer ihr Zufluchtsort gewesen, auch wenn er selbst sich dessen nicht bewusst war. Nur dieses eine Geheimnis hatte sie ihm nie anvertrauen wollen. Zu sehr befürchtete sie von ihm zurück gestoßen zu werden.
Wie könnte jemand sie noch lieben, wenn die Wahrheit erstmal ans Tageslicht käme?
Nico beobachtete Stella von der Couch aus. Er mochte es, Stella einfach nur anzusehen. Die Stille und die faszinierende Ruhe, die von ihr aus ausgingen, zogen ihn magisch an. Für seine Freunde war Stella nur ein Mädchen mit einem Spleen. - Was willst Du denn von der, Nico? Du kannst jede haben und gibst dich mit so was ab!
Aber sollten doch diese Typen sagen, was sie wollten. Sie hatten doch schließlich nicht die geringste Ahnung. Diese oberflächlichen Pseudo-Intellektuellen waren doch nicht in der Lage, das zu sehen, was er sah. Dafür fehlten ihnen sämtliche Einsicht und das nötige Einfühlungsvermögen.
Hingegen wusste Nico vom ersten Moment an, dass in Stella viel mehr steckte, als das, was andere an ihr sahen.
Doch heute erschien sie ihm auf eine merkwürdige Weise fremd.
„Stella, was ist mit dir? Du wirkst heute so abwesend. Hast Du überhaupt mitgekriegt, was ich gesagt habe?“
„Nico, wie sehr liebst Du mich?“
„Ach, ihr Frauen. Ihr seid doch alle …“
„Nico, ich mein` es ernst, also hör auf mit deinen Späßchen und gib mir eine scheiß Antwort auf meine scheiß Frage!“
„Mensch Stella, was ist denn mit dir los? So kenn` ich dich doch gar nicht!“
„Liebst Du mich, Nico? Ich muss es wissen! Liebst Du mich? Sag schon!“
„Schatz, natürlich liebe ich dich. Das weißt Du doch.“
„Ja, aber wie sehr liebst Du mich? Was hält unsere Liebe aus? Wie stark ist diese Liebe? Welchen Prüfungen würde sie standhalten können? Kannst Du mir das sagen?“
„Stella, jetzt reicht´s mir aber. Was ist hier eigentlich los?“
Stella hatte sehr viel Kraft aufgebracht, doch mit einem Male war die Anspannung verflogen. Ihr Kinn bebte. Ihre Muskeln erschlafften und ihre Knie wurden ganz weich. Sie sackte auf die Couch und dicke Tränen fanden ihren Weg nach draußen. Sie versuchte sich ihrer zu erwehren, doch ihr Wille war gebrochen. Erleichtert nahm sie zur Kenntnis, dass Nico seine Arme um sie schloss.
Als Anton die Haustüre öffnete, war er überrascht Nico zu erblicken.
Er hatte den Jungen schon oft mit Stella gesehen, hatte die Beziehung geduldet, solange sie ihm nicht in Quere kam. Als er nun jedoch in Nicos wütende Augen blickte, bereute er es, dass er nicht schon längst dafür gesorgt hatte, dass Stella diese Beziehung abgebrochen hatte. Dieses Versäumnis erregte nun gleichermaßen Antons Gemüt.
„Was willst Du hier? Stella ist nicht hier. Ich dachte, sie wäre bei dir. Habt wohl gestritten, was? Na ja, was soll`s? Das wollte ich dir sowieso schon lange sagen. Stella ist nicht das richtige Mädchen für dich. Vergiss sie! Kapiert?“
Antons Atem stank nach Bier und seine Kleidung nach kalten Rauch. Nicht nur, dass es Nico zutiefst anwiderte. Der empfundene Ekel steigerte auch noch seinen Zorn, der schließlich aus ihn brach.
„Du Schwein, ich weiß alles. Hörst Du? Alles. Ich zeig dich an, du Schwein!“
Anton packte Nico am Kragen und zog ihn mit einem kraftvollen Ruck in die Wohnung, wobei er gleichzeitig mit dem Fuß die Tür zutrat, die mit einem lauten Knall ins Schloss fiel.
„Was weißt Du, was? Was meinst Du … was glaubst du, hier abziehen zu können, du kleiner Scheißer? Sieh dich vor! Ich reiß dir deinen kleinen Kopf ab und häng in mir als Trophäe an die Wand. Du hast wohl lange keine richtige Abreibung mehr bekommen, was?“
„Du Schwein. Stella hat mir alles erzählt. Ich weiß, wozu sie gezwungen wurde. Wie konnten Sie nur? Ihre eigene Tochter! Aber dafür werden Sie büßen. Ich zeig dich an, du Dreckskerl. Du wanderst in den Knast, das schwöre ich dir.“
„Mich willst Du anzeigen? In den Knast soll ich? Sagst Du mir auch wofür bitteschön?“
„Jetzt tu bloß nicht so scheinheilig. Stella hat mir schließlich alles erzählt.“
Anton rümpfte die Nase und seine Hände lösten sich von Nicos Kragen.
Er drehte sich auf dem Absatz und ging in Richtung Küche weg.
„Ich weiß nicht, wovon Du redest und jetzt verschwinde hier. Du vergeudest meine Zeit. Und was Stella angeht, die kann sich noch auf was gefasst machen. Mit der werde ich heute noch ein Hühnchen rupfen.“
„Stella ist bei mir und da bleibt sie auch. Meinst Du, ich lass es zu, dass sie hierhin zurückkommt. Zu einem solchen Dreckskerl von Vater, der seine eigene Tochter verkauft.“
Trotz der angespannten Situation wurde Nico von Antons erneuter Drehung und dem Aufwärtshaken überrascht. Mit einer blutigen Nase ging Nico zu Boden. Panik überfiel ihn augenblicklich und er wollte rasch wieder auf die Beine kommen, doch der zusätzliche Tritt, der ihm versetzt wurde, nahm ihm die Luft und hielt ihn unten.
Anton ging in die Hocke neben ihm runter und hielt seine Lippen an Nicos Ohr.
„Du kleiner Bengel. Was dachtest Du, hier abziehen zu können, heh? Willst mich anzeigen? Na mach doch. Gehst Du wirklich davon aus, dass irgendein Richter euch beiden Rotzlöffeln glauben wird. Meine Tochter pflegt lediglich einige lose Bekanntschaften. Welcher Vater kann das heute schon noch seinen Töchtern verbieten? Das ist nun mal ein freies Land und wir leben nicht mehr im Mittelalter. Meinst Du wirklich …“
Anton brach mitten im Satz ab. Die Hand, die er um die Kehle des Jungen gelegt hatte, wurde kraftlos und erschlaffte.
Was war soeben mit den Augen des Jungen geschehen? Hatten sie eben tatsächlich die Farbe gewechselt? Doch nicht nur dies. Sie hatten sich grundlegend gewandelt, hatten nichts Menschliches mehr an sich, hatten sich zu katzenartigen Schlitzen verengt, dessen Blick ihn nun mit Furcht erfüllte.
Und dient die Angst gewöhnlich den Menschen als Schutz vor Schlimmeren, so kam sie doch in Antons Fall zu spät. Während er noch nach einer rationalen Erklärung suchte, war Nicos Metamorphose unaufhaltsam fortgeschritten.
Das Gesicht wurde spitzer, die Arme länger, ebenso wie die Finger seiner Hände wuchsen, dessen Nägel sich zu langen Krallen krümmten. Mit jeder weiteren Transformation des Jungen nahm Antons panischer Zustand zu.
Mit einem von Furcht ergriffenen Herzen stand er nun plötzlich diesem katzenähnlichen Wesen gegenüber. Anton bot sich ein grotesker Anblick, denn der Junge hatte sich zwar in ein Furcht einflößendes Wesen verwandelt, trug aber immer noch die jugendliche Kleidung an sich.
Antons Lippen bebten und die Knie drohten ihm wegzuknicken.
Das Wesen, das einst der Freund seiner Tochter gewesen war, schritt in geschmeidigen Bewegungen auf ihn zu.
Anton stolperte weiter rückwärts durch den Raum und wurde unsanft durch eine Wand gebremst.
Nico, nun vielmehr das Katzenwesen, schnellte in diesem Augenblick nach vorne und während noch Antons Augen über die ungeheuerliche Schnelligkeit jener Bewegung erstaunt waren, zerschnitten messerscharfe Krallen gleichzeitig Stoff und Hautschichten und hinterließen vier blutende Wunden.
Anton jaulte vor Schmerz wie ein getretener Hund auf. Im seinen Kopf hatte sich bereits die Bitte um Verschonung gebildet, als ihm ein weiterer Hieb die Wange in einem bedauerlichen Zustand hinterließ. Der Schmerz brannte nun in ihm, wie eine feurige Lösung, die man ihn eingeflößt hatte. Er schien nur noch aus Schmerz zu bestehen, so dass er die weiteren zwei Treffer, die das Katzenwesen bei ihm landete, weder wahrnahm, geschweige denn verspürte. Nur die Konsequenz blieb ihm nicht erspart.
Anton taumelte durch das Zimmer, stürzte, kroch und zog sich mit letzten Kräften über das Linoleum, eine blutige Spur hinterlassend.
Dann plötzlich wurde seine Flucht gestoppt. Am Boden robbend war er auf ein paar Schuhspitzen gestoßen, die sich ihm nun in den Weg stellten und den Fluchtweg verbauten. Wie schnell war bloß dieses Wesen? Verzweifelt blickte er hoch, in der Erwartung in die grauenvolle Fratze des Katzenwesens zu blicken, doch zu seiner Überraschung war es nicht das Gesicht dieser Kreatur, die er erblickte.
„Stella, Du hier … wir müssen, du musst … hilf mir …. Es will mich umbringen. Du musst ihn aufhalten. Es ist Nico, er ist …“
In Antons Herz hatte sich wieder Hoffnung breit gemacht. Seine Tochter würde dieses Ungeheuer schon aufhalten. Wenn jemand dazu in der Lage war, dann sie.
Sie war schließlich sein eigen Fleisch und Blut. Sie würde dieses unmenschliche Geschöpf davon zurückhalten, ihrem Vater noch weiter Leid hinzuzufügen.
Mit etwas Glück würde er doch noch glimpflich aus der Sache kommen.
Doch die Hoffnung hatte seine Einschätzung der Lage getrübt.
Stumm hatte Stella auf ihren auf den Boden liegenden Vater geblickt, hatte mit einem empfindungslosen Herzen sein Bitten und Flehen gehört, doch die Antwort sollte anders ausfallen, als Anton es sich erwünschte.
Erst jetzt bemerkte Anton, dass Stella eine Hand hinter ihrem Rücken verbarg. Nun schwang sie langsam den Arm zur Seite, an dessen Ende der Stahl des Messers in ihrer Hand eine stumme Drohung aussandte, indem es im Licht kurz aufblitzte.
„Stella, was …?“
„Warum?“ unterbrach Stella ihren Vater und die eisige Kühle in ihrer Stimme ließ ihn dabei erschaudern.
„Warum Vater? Warum hast Du mir das angetan?“
„Aber Kind. Ich habe doch immer nur dein Bestes gewollt. Du weißt nicht, wie viel schlechtes es da draußen gibt. Davor habe ich dich immer bewahren wollen.“
Über Stellas Wange floss langsam eine Träne, dann sauste das Messer auf Anton hinab. Zerschnitt seine Heuchelei, seine Lügen, nahm ihm die Maskerade der väterlichen Fürsorge, hinter der er sich bis zuletzt zu verbergen suchte.
„Warum, warum?“ schrie Stella, während das Messer auf all die Männer einstach, die ihr soviel Leid angetan hatten.
„WARUM?“
Plötzlich fühlte sie zwei Hände auf ihren Schultern und eine Stimme ertönte, die sanft ihren Namen rief.
„Stella. Stella.“
Und die Stimme, die sie vernahm veränderte diese Realität, ließ sie zunächst verblassen und schließlich löste sie sich ganz auf und in diesem Moment erwachte Stella aus dem Traum und fand sich in Nicos Armen wieder, der sie an sich drückte und versuchte, sie zu beruhigen.
„Nico, da war mein Vater … und Du warst …“
Tränen brachen aus Stella wie Blut aus einer tiefen Wunde.
„Ist ja gut, Stella. Jetzt ist alles wieder gut. Ich bin hier bei Dir. Ich werde immer für dich da sein und ich werde dafür sorgen, dass er Dir nichts mehr antun kann. Ich habe es Dir doch versprochen. Ich schwöre es Dir, Stella. Er wird Dir nie mehr was tun, nie mehr.“
Stella versank noch tiefer in Nicos Umarmung und Nico schloss seine Arme noch ein wenig fester um sie und einander haltend, hüllte die Dunkelheit der Nacht sie ein und legte sich wie ein Schutzmantel um sie.
Als Anton am nächsten Tag die Haustüre öffnete, waren es Nicos wütende Augen, die er als erstes bemerkte.