Lillys letztes Geheimnis
Lilly und ich kennen uns seitdem ich denken kann, und das ist nicht erst seit ein paar Tagen, wie meine Mutter gerne lächelnd sagt.
Wir sind schon immer Freunde gewesen. Lilly war immer da und ich war immer da. Und das sollte sich auch nie ändern.
Ich habe nie darüber nachgedacht, dass ich Lilly liebe oder, das Lilly mich liebt. Liebe ist zu anstrengend, sagt Lilly. Wenn ich genau darüber nachdenke, gab es nie eine andere für mich und ich liebte nie eine andere als Lilly. Das habe ich erst jetzt verstanden.
Es sollte nur uns geben. Wir hätten uns eine Zukunft ohne einander nie vorstellen können. Das war so, seitdem wir klein waren.
Den Begriff Freundschaft mussten wir uns gegenseitig nie erklären, wir lebten sie einfach ohne darüber nach zu denken. Seit dem Sandkasten bis hin zur Universität, waren wir zusammen. Ich kenne sie als kleines Mädchen im roten Kleid mit weißen Punkten und liebte sie als junge Frau. Ich war der Lausbub mit Schoko verklebten Händen in kurzen Hosen und ich war ihr Kommilitone in Wirtschaftsrecht.
Ich stehe auf dem Deich und schaue auf das Meer hinaus. Hier standen wir oft gemeinsam und zählten die Wellen. Das Spiel der Wellen hat mich immer sehr fasziniert und in Bann gezogen. Das Auf und Ab der Wellen bei stürmischem Wetter, die riesigen grauen Wolkenbänke, die ineinander und miteinander zu kämpfen schienen, hielten mich gefangen. Ich konnte mich selten von diesem Schauspiel der Natur lösen. Lilly und ich liebten das Meer, besonders wenn es stürmte.
Wenn ich Lilly suchte, fand ich sie immer auf dem Deich. Es schien, dass sie dort Tage und Nächte, Zeit ohne Unterlass verbrachte. Der Deich war ihr Zuhause und Lilly ist mein Zuhause.
Lilly trotzte dem Wind, er ging über sie hinweg und gerbte ihre Seele, denn wenig an ihrem Äußeren verriet, wie oft Lilly im Wind bei Wind und Wetter auf dem Deich stand. Seitdem ich sie kenne hat sie blonde stürmische Locken, die weder Kamm noch Bürste kennen.
Ich fragte mich heute oft, was Lilly dort auf dem Deich in der Ferne des Meeres suchte.
Erst durch ihre Tagebuchaufzeichnungen, die sie mir noch gab, mit dem Versprechen, es alleine danach zu lesen, habe ich so vieles erst zu spät verstanden.
Ich gehe auf den Deich zu und da steht sie. Ich kann sie nur von hinten sehen und weiß, dass nur sie es ist. Es kann niemand anderes sein. Ich weiß und ich fühle das.
Ihr Haar weht im Wind. Es ist kühl und ich trage schon eine Jacke. Lilly hat nur eine kurze Bluse an. Sie hat keine Angst eine Erkältung zu bekommen. Sie hatte nie Angst vor dem Wetter.
„Ich muss nicht fragen, wer da hinter mir steht und mich bereits minutenlang beobachtet.“
Sie dreht sich nicht um. Sie wusste es immer, dass ich hinter ihr an der Birke stehe, um nah bei ihr zu sein und sie doch nicht zu stören in ihrem Zwiegespräch mit dem Meer.
Direkt hinter dem Deich steht unsere einsame Birke. Seit Jahrhunderten steht nur diese eine Birke hier. Ich fand den Anblick aus meinem Zimmerfenster auf diese einsame Birke immer so beruhigend. Jetzt erinnert sie mich an Lilly und ihr Anblick macht mich traurig.
Hier an dieser Birke stand ich oft, um eben Lilly zu zuschauen, sie so zu beobachten, wie sie das Meer beobachtet. Es schien mir, dass sie in einem ewig andauernden Gespräch mit dem Meer sei. Sie verstand die Sprache, das Flüstern der Wellen.
Wenn ich nun auf dem Deich stehe und dem Meer zu höre, glaube ich Lillys Stimme zu hören, sie ruft mir zu, so frei wie niemals zuvor.
„Tom, nimm meine Hand.“
„Lilly, ich…“
„Sag nichts. Ich weiß, was du sagen willst, denn ich fühle es auch. Ich fühle es seit Jahren, seitdem wir Kinder sind.“
„Es kommt mir vor, als ob wir schon seit unserer Kindheit hier stehen.“
„Wir stehen hier seit unserer Kindheit.“ Sie lächelt und legt ihren Kopf auf meine Schulter. Ich atme tief ihren Duft ein.
Viele Stunden unseres Lebens standen wir hier und haben auf die Wellen geschaut. Lilly steht gelehnt an meiner Schulter und ich halte ihre Hand.
„Die Wellen sind dieselben geblieben und wir sind …“
„Erwachsen geworden.“
Lilly lacht. „Vielleicht nicht erwachsen, aber größer.“
Ich sitze an Lillys Bett und halte ihre Hand, die warm ist und so zart. Bereits seit zwei Tagen sitze ich hier bei Lilly und ich merke wie schwach sie ist und, das sie schwächer wird. Seit fast einem Tag hat Lilly nichts mehr gesagt und fast genauso lange nichts mehr gegessen. Ihre glasigen Augen, die mich nicht sehen, wandern die Decke entlang oder sie scheint zu schlafen, vielleicht um dort noch ein bisschen Kraft zu finden.
Ich bin neben ihr eingenickt, auch wenn ich mir und Lilly versprochen habe, dass ich hier wochenlang wach ausharren werde, was da auch kommen mag, als plötzlich ihre Hand meine zart aber energisch drückt und sie mit schwacher Stimme sagt.
„Lass mich dein Engel sein, wie ich es immer war und du meiner. Denn Engel haben nur einen Flügel, wir müssen umarmt sein, um zu fliegen…“ sie bricht ab und holt Luft.
„Ich wünschte, dass mir goldene Flügel wachsen, dann kann ich immer bei dir sein und dich umarmen.“
Ich lege meinen Kopf in ihren Schoss und weine. Heiße Tränen rinnen in ihren Schoss. Sie streichelt meinen Kopf.
Es gab Zeiten da hatte Lilly Kraft und fühlte sich stark. Dann gab es Tage, da kam sie nicht mehr aus dem Bett raus und ich saß bei ihr. Ich habe ihr vorgelesen, ihr Tee gebracht, habe mit und für sie gesungen. Ich war bei ihr.
Die starken Tage, waren die rosa Tage und die schwachen, die grauen Tage. Ich sollte mir gut den Abstand zwischen den rosa Tagen und den grauen Tagen merken, es am besten aufschreiben. Doch das konnte ich nicht. An den rosa Tagen war ich immer so euphorisch, ich glaubte immer wieder, dass es bergauf ging. Ich wollte nichts anderes glauben.
An einem der grauen Tage saß ich wie immer an ihrem Bett und plötzlich fragte Lilly mich.
„Tom, hast du den Abstand zwischen den rosa und den grauen Tagen gemessen und es dir notiert?“ sie lächelte wissend. Ich konnte nur schlucken und musste weinen. Musste ich stark genug sein, meine Traurigkeit vor Lilly zurück zu halten? Sie wusste, dass ich den Abstand nicht wahr haben wollte, denn es wurden immer weniger rosa Tage.
An einem der grauen Tage bat sie mich, sie zum Deich zu tragen. Erst wollte ich nicht. Es war nach meiner Meinung zu windig und zu kalt draußen. Das Meer gab seit einigen Tagen keine Ruhe. Es schrie und türmte sich auf, dass ich hohen Wellen über dem Deich aus meinem Fenster sehen konnte. Doch gerade dieses Wetter liebte Lilly so und nach langem Bitten, riss Lilly meinen Deich ein. Ich hüllte sie warm in eine Wolldecke ein und hob sie geborgen fest in meinen Arm hoch. Ich trug sie zum Deich. Es stürme und die Wolken kämpften miteinander.
Lilly atmete schwach und flüsterte mir zu.
„Das Meer …“ Ich hörte sie kaum.
Das Meer tobte immer lauter und Lillys Stimme schien unterzugehen.
„Das Meer will sich von mir verabschieden und ich mich von ihm.“ Sie atmete schwer.
Ich konnte sie kaum noch halten. Nicht weil sie zu schwer wurde, sondern weil ich so weinen musste. Ich vergrub mein Gesicht in ihre Schulter.
Lillys Klarheit in solchen Momenten konnte kaum ertragen. Sie war sich so bewusst, dass es bald zu Ende geht und sie begrüßte es.
Es waren wieder mehrere graue Tag in Folge und ich saß an Lillys Bett. Sie schlief fest. Manchmal murmelte sie etwas im Schlaf, das kannte ich schon aus unserer Kindheit und habe es immer an ihr geliebt und zog sie damit auf.
Ich streichelte sanft ihre Hand und sagte leise zu ihr.
„Ich werde dich immer vor mir sehen. Deine Art zu gehen, zu stehen, deine Art mich zu lieben. Ich fühle deinen Blick auf mir. Deine blauen Augen, die mich mit jedem Blick liebkosten.“ Ich weinte leise stille Tränen.
„Lilly, ich liebe dich.“
Leise murmelte Lilly meinen Namen.
Ich habe nie gelernt mich von Menschen, besonders von geliebten Menschen für immer zu verabschieden.
Ich sitze auf unserem Deich. Das Meer tobt. Ich habe eine Flasche Wodka neben mir. Zur Hälfte habe ich die Flasche schon getrunken, Lillys Tagebuch liegt neben mir.
29.Mai
Tom,
Ich konnte dir nicht alles sagen, was mich bewegte. Wir hatten die Zeit nicht mehr.
Ich hatte die Zeit nicht mehr.
Mein Tagebuch, das was du nun in den Händen hältst, soll dir noch von mir erzählen. Ich habe mein Tagebuch immer an DICH geschrieben.
Ich wusste, es wird einmal der Tag kommen, dass du dieses hier liest und mich besser und erstrecht verstehst.
Habe ich dir gesagt, dass ich dich liebe? Habe ich es dich die ganze Zeit fühlen lassen? Es tut so weh. Wir hatten einfach nicht genug Zeit.
Nun sitzt du bestimmt auf dem Deich und hast …. lass mich riechen, Wodka neben dir stehen. Du hast immer versucht Probleme mit Alkohol zu ertränken.. Aber Alkohol konserviert.
Das Schicksal hat uns einen gewaltigen Strich durch unsere Rechnung gemacht, nicht war?
Ich habe das Tagebuch in meinen Schoss gelegt. Der Wodka wärmt mich nicht. Stunden und Tage, Momente vergehen und ich bin hier und sie ist fort.
Die Illusion, du lebst nur für mich, kann und will ich nicht aufgeben. Ich lebe für dich. Ich lebe noch. Glaub mir das, mein liebster Tom. Ich lebe in dir, Du wirst mich nie vergessen können und so wird mein Bild nie sterben, denn ich bin ewig in dir.
Lilly sagte immer, sie wird in Gott ruhen und ich werde in Gott weiterleben, so seien wir in Gott vereint. Ich wollte ihr nicht glauben, da ich Gott nicht mehr vertraute. Lillys Glaube war immer unumstößlich.
Nun suche ich dich in Gott.
Meine Sehnsucht nach Dir umfasst mich, umspült mich, wie die Wellen den Deich. Unseren Deich. Es reißt mich in die Tiefe. Ich kann meinen Gefühlen keine Namen geben. Benenne ich sie, falle ich noch tiefer. Kann ich jetzt noch tiefer fallen?
7.Juli
Mein Liebster,
ich kann nicht aufhören daran zu denken, dass wir uns als Kinder ein lebenslanges Versprechen gegeben haben, immer für einander da zu sein. Ich konnte dieses Versprechen nicht halten. Bitte verzeih mir Tom, geliebter Tom.
Ich weine. Nein, Lilly, du konntest doch nichts dafür, dein Versprechen nicht zu halten.
Die Wellen tragen deine Stimme zu mir und wissen mich nicht zu trösten.
18.Juli
Liebster Tom, ich will dir vom Meer erzählen.
Du hast dich immer gefragt, warum ich das Meer so liebe, was ich tagelang auf dem Deich in der Ferne des Meeres suchte.
Vielleicht habe ich es jetzt gefunden?
Weißt du noch als wir dreizehn waren und Mo plötzlich weg war? Meinem kleinem Bruder sei doch bestimmt nichts passiert sagten alle, die ihn kannten, denn er sei ja so ein Lausbub der beim Verstecken spielen sich zu gut versteckt hat und darüber eingeschlafen ist in seinem sehr guten Versteck.
Nur du und ich waren wirklich beunruhigt, weil wir Mo wirklich kannten. War das so, kannten wir Mo wirklich?
Wir fanden Mo Tage später tot in den Dünen. Keiner wusste was passiert war. Die Polizei musste nach Monaten fieberhafter Suche nach dem Täter und damit nach dem Grund für diesen so sinnlosen Tod, ihre Bemühungen einstellen.
Doch es wussten alle, da war noch etwas, was die Polizei wusste und verschwieg. Erst recht hatte auch ich dieses Gefühl, doch ich wusste nichts. Ich konnte es nicht in Worte fassen. Auch meinen Eltern gegenüber nicht. Mos Tod hat auch meinen Eltern einen wichtigen Teil aus ihrem Leben genommen. Dieser Tod machte uns in der Familie sehr wortkarg.
Keiner in unsere Gegend konnte sich vorstellen, warum ein kleiner Junge getötet werden sollte. Hier kannte doch jeder jeden. Vielleicht wurde gerade dies Mo und uns allen zum Verhängnis.
Mo war der letzte von Lillys richtiger Familie. Sie hat es nie ausgesprochen, aber ich wusste, nun fühlt sie sich komplett einsam und allein zurück gelassen auf dieser Welt.
8.August
Der Tod von Mo hat mich so verletzt, hat meine bis dahin eigentlich so heile Welt zerstört und sie aus dem Rahmen gerissen. Diesen Rahmen habe ich mir und auch Mo so mühevoll aufgebaut nach dem Tod unserer Eltern.
Du warst für mich da, Tom. Mein Licht im Dunkel der Welt warst Du. Für deine habe ich dich immer bewundert und auch geliebt. Du warst so stark und ich war so schwach.
Ich war zu schwach dir zu sagen, was mich nicht nur wirklich bewegt hat, sondern, das ich wusste, was mit Mo passiert war, was ihn bewegt hat, was ihm Angst gemacht hat, welche Verzweiflung sein Herz so zerfraß.
Er war zehn Jahre alt. Ich war seine große Schwester und konnte ihn nicht beschützen. Das war doch meine Aufgabe seit dem Tod unserer Eltern.
Ich habe mir immer vorgeworfen, dass ich Mo nicht richtig beschützt habe, dass ich meiner Aufgabe als große Schwester nicht gerecht und eben Mo nicht gerecht werden konnte. Ich habe mir immer die Schuld an seinem Tod gegeben.
Das, was Mo passiert ist, hat ihn so kaputt gemacht, er konnte nie wieder wirklich glücklich werden.
An den Tod von Tante Dina und Onkel Kai kann ich mich auch nicht wirklich gut erinnern, auch wenn ich zirka ein Jahr älter bin als Lilly. Plötzlich waren Lillys Eltern nicht mehr da und würden auch nicht wieder kommen, so haben es mir meine Eltern erklärt. Ich habe das nicht ganz verstanden und Lilly auch nicht. Mir war es aber sehr recht und ich fand es auch toll, das meine bis dahin beste Freundin, nun zu uns zog, für immer. Mo, Lillys kleiner Bruder sollte nun auch bei uns wohnen.
Das Lillys und Mos Eltern tot waren, haben wir erst viel später verstanden, das der Tod etwas Endgültiges ist, habe ich erst jetzt verstanden.
14.August
Kannst du dich an meine Eltern erinnern? Ich kann es, glaube ich, nicht.
An den Tod von Mama und Papa kann ich mich eben kaum noch erinnern und Mo war noch ein Baby.
Liebster, in deinen Eltern fanden wir auch Eltern. Wir hatten immer ein Zuhause, fühlten uns geborgen und beschützt und auch geliebt, und doch fehlten uns unsere richtigen Eltern.
Nein, versteh es nicht falsch. Deine Eltern waren so wunderbar zu uns, sie haben nie einen Unterschied zwischen dir und uns gemacht. Wir wurden geliebt. Aber ein Kind fühlt, dass es nicht die eigenen Eltern sind.
Unser Dorf ist zu klein für einen eigenen Pastor, hat mal mein Vater im Scherz gesagt, und er hatte Recht. Doch das Dorf war aber eben nicht zu klein für eine kleine Kapelle. Bis vor eine paar Jahren ist ein älterer Pastor aus dem Nachbardorf, dass größer ist als unseres, mindestens um eben eine Kirche, für die Seelsorge um unser Dorf am Sonntagnachmittag immer mit dem Rad gekommen. Er wurde immer wieder auch zu einigen Familien bei uns zu Kaffee und Kuchen eingeladen. So weit ich mich an ihn erinnern konnte, war er ein kleiner, hutzliger und untersetzter Mann mit einem unglaublich guten und lieben Gesicht und er hatte so gutmütige grüne Augen. Ich mochte ihn sehr. Irgendwann kam er nicht mehr, weil er zu alt war, sagten die Leute. Nun hatte das Nachbardorf noch deren Kantor, der sich ausschließlich um das andere Dorf kümmerte.
Unser Dorf hatte dann erstmal keinen Seelsorger. Die es ganz nötig hatten, fuhren am Sonntagmorgen ins Nachbardorf zum Gottesdienst. Ich wurde nicht sehr christlich aufgezogen und so zog ich es vor sonntags im Bett liegen zu bleiben. Manchmal öfters fuhr Lilly mit unserem klapprigen Fahrrad ins Nachbardorf zum Gottesdienst.
Eines Sommers kam Pastor Martin Clemens in unser Dorf und sollte unser Pastor werden. Alle waren von diesem sehr jungen und fesch auftretenden Pastor begeistert. Er sollte eine frische Brise ins Dorf bringen. Besonders die Älteren mochten sein Schwiegersohnauftreten. Er hatte rötliche Haare, eine dünne spitze Nase und grüne Augen. Dazu hatte er sehr weiße Haut. Ich fand, er sah aus wie ein Gespenst. Das fand sonst keiner, außer Lilly.
Ich mochte ihn von Anfang an nicht und Lilly auch nicht. Ich war dreizehn und Lilly zwölf Jahre alt. Mo hatte sogar Angst vor ihm. Aber Pastor Martin Clemens war immer zu allen Kindern nett. Nur ich sah seine grünen Augen kaum lächeln. Alle Kinder, eben außer uns, mochten Pastor Martin, wie wir Kinder ihn eben nennen sollten.
Lilly und ich kamen in seine erste Konfirmandengruppe.
Wir fanden das schon spannend, nun bald ein Teil der Gemeinde sein zu dürfen, Gott nah zu stehen.
Ich fand die Geschichten in der Bibel immer so schön und aufregend, aber ich glaube heute zu wissen, dass sie mir nicht viel bedeuteten. Zu meiner Taufe hatte ich eine bunte Kinderbibel geschenkt bekommen. Meine Mutter musste mir und Lilly abends oft aus meiner Kinderbibel vorlesen.
Da waren auch die andern Kinder aus unserem Dorf und es war eine schöne kleine Gruppe. Man konnte noch mit andern Kindern sich über Gott austauschen.
Der Begriff Gott war immer irgendwie zu transparent für mich. Er war da und war irgendwie nicht da.
Ich kannte die Geschichten aus der Bibel und mochte sie ja, aber weil man sich eben kein Bild von Gott machen durfte, so erklärte es uns Pastor Martin, konnte ich mir Gott auch nie als Person oder etwas Ähnliches vorstellen. Später ließ ich Gott in Ruhe und so wie ich es mitbekam, ließ auch Gott mich in Ruhe.
Pastor Martin hat viel für die Kinder in unserem Dorf übrig gehabt. Er hat viele Kinderfeste organisiert, mit der tatkräftigen Unterstützung unserer begeisterten Eltern, die diesen engagierten Pastor immer mehr zu schätzen wussten. Seine Ausflüge in den nahen Wald und die Lagerfeuer waren berüchtigt schön. So fanden es die anderen Kinder. Lilly und ich hielten uns gerne fern von diesem sehr freundlichen Pastor Martin. Er war uns irgendwie zu freundlich und aufgesetzt, irgendwie maskenhaft.
Pastor Martin war ein sehr gebildeter Mann, hieß es. Er soll Theologie in einer sehr großen Stadt im Ausland studiert haben, und auch Geschichte und natürlich beherrschte er die lateinische Sprache.
In Geschichte, Latein und auch in Mathematik gab er Nachhilfeunterricht. Das seine Nachhilfeschüler dann guten Noten schrieben, wo sonst immer sechser und fünfer raus kamen, sprach sich nicht nur in unserem Dorf schnell wie ein Lauffeuer rum. Das Nachbardorf mit ihrem popligen Kantor war auf unseren klugen und engagierten Pastor Martin neidisch.
Da meine Noten in Mathematik nicht die besten waren, bekam auch ich dann Nachhilfe bei Pastor Martin.
Er bewohnte ein kleines Häuschen nicht weit hinter unserer kleinen Kapelle.
Pastor Martin begrüßte mich wie immer sehr freundlich und legte mir freundschaftlich seinen Arm auf die Schulter. Das war mir schon immer unangenehm. Auf dem ganzen Weg hierher hatte ich ein ungutes Gefühl in meinem Bauch. Ich empfand die Nachhilfestunden bei Pastor Martin nicht als Hilfe, vielmehr erschienen mir diese Nachhilfestunden als Strafe. Dieses Gefühl war eben nur ein Kindergefühl, so dachte ich, wenn eben ein Erwachsener nicht sympathisch wirkt auf ein Kind. Mein ungutes Gefühl hat sich eigentlich immer als unbegründet herausgestellt. Pastor Martin war ja immer freundlich zu mir und immer lieb und nett zu anderen. Er war auch nie wirklich sauer oder schimpfte, wenn vielleicht einer seiner Konfirmanden etwas Unchristliches ausgefressen hatte. Er war enttäuscht und sagte uns, dass nun Gott von einem enttäuscht sei. Aber weder Pastor Martin noch Gott waren nachtragend. Hatte man seine Buße getan, war Pastor Martin auch wieder gut mit einem.
Bei meiner ersten Nachhilfestunde bei Pastor Martin, führte er mich in sein Arbeitszimmer und ich musste dann unter seinen Argusaugen meine Mathehausaufgaben machen. Ab und an gab er mir gute Ratschläge, durch die ich dann so einiges mehr verstand. Ich wurde besser in Mathematik, aber ich mochte diese eine Stunde jede Woche ein halbes Jahr lang bei Pastor Martin nicht. Manchmal konnte ich mich vor den Stunden drücken, weil ich vielleicht mal eine gute Mathearbeit abgeliefert hatte oder ich zu einem Fußballturnier fuhr. Bei nächster Gelegenheit schaute mich Pastor Martin dann immer enttäuscht an. Ich verstand viele seiner Blicke damals nicht.
9.September
Auch Du mochtest Pastor Martin nicht. Darin waren wir uns sehr einig, wir konnten nichts mit seiner Freundlichkeit anfangen. Er war einfach zu freundlich. Wir durchschauten ihn zwar nicht, weil wir noch zu klein, zu jung waren, um uns alleine nur vor stellen zu können, das jemand wie Pastor Martin böse sein könnte, etwas Unrechtes und Unchristliches tun würde.
Du konntest nie erklären, warum du den Nachhilfeunterricht nicht mochtest bei ihm. Ich konnte es mir vorstellen, aber deine Eltern konnten dich nie verstehen und schicken dich weiter zur Nachhilfe, weil du ja selbst zugabst, bessere Noten zu schreiben.
Ich war zum Glück gut genug in der Schule, dass ich keinen Nachhilfeunterricht brauchte.
Ich liebte die Konfirmandenstunden an deiner Seite sehr und ich lernte viel über Gott, ich liebte es wenn deine Mutter uns aus deiner bunten Kinderbibel abendlich vorlas. Ich fühlte mich dann immer so geborgen an deiner Seite und auch durch deine Mutter, die mich sehr liebt.
Ich bin schon damals Gott sehr nahe gekommen und ich spürte ihn sehr und ich fand viel Kraft und Vertrauen. Diese Kraft spüre ich heute noch und das Vertrauen in meinen Glauben an Gott habe ich nie verloren. Der Glaube an Gott hat mir immer Kraft gegeben und ich habe keine Angst. Ich brauche keine Angst mehr zu haben.
Ja, ich weiß für dich war Gott vielleicht irgendeine Kraft, mit der du wenig anfangen konntest. Ich weiß auch, dass du Gott Schuld gibst, dass ich so krank bin. Du verurteilst ihn, klagst ihn an, aber das ändert nichts mehr.
18.September
Erinnerst du dich als Mo in Mathe nicht mehr mitkam und deine Eltern entschieden auch ihm Nachhilfe bei Pastor Martin geben zu lassen?
Nach seiner ersten guten Mathearbeit, dank der Nachhilfestunden, bekam Mo eine gewaltige Erkältung, die so schlimm war und so lange andauerte, dass wir dachten, er würde sterben. Ich hatte solche Angst, ihn zu verlieren und du musstest dich all abendlich zu mir legen, um mich zu beruhigen.
Erst nach vier Wochen sank das Fieber. Nach sechs Wochen konnte er aufstehen und dann zwei Wochen später, konnte er wieder zur Schule gehen.
Er hatte in den zwei Monaten viel in der Schule verpasst und sollte intensiver zur Nachhilfe zu Pastor Martin gehen. Nun auch in Geschichte und Latein.
Jedes mal, wenn er zur Nachhilfe musste, sagte er mir vorher, dass er sich schrecklich fürchtete. Er war so blass. Er war so klein und ich verstand ihn einfach nicht.
Moritz, den wir seit frühster Kindheit alle Mo nannten, war immer auch für mich ein kleiner Bruder gewesen und sein plötzlicher Tod, tat mir unendlich weh, denn für mich starb mein kleiner Bruder. Sein Tod entsetzte mich, wie alle im Dorf.
Ich wusste immer, Mo findet Pastor Martin nicht nur unsympathisch, sondern er hatte Angst vor ihm. Das war keine natürlich Kinderangst vor irgendeinem eingebildeten schwarzen Mann. Mo hatte eine ausgewachsene Angst. Lilly und ich verstanden diese Angst nicht, aber wir versuchten als einzige Mo zu helfen. So gut wir konnten.
Mo war mit neun Jahren alt genug in seinem Zimmer und in seinem Bett zu schlafen, aber er hatte nachts solche Angst, dass er Schutz bei Lilly oder bei mir suchte. Wir gaben ihm diesen Schutz, mussten aber dies vor meinen Eltern verbergen, da sie Mos und unser Verhalten nicht gut gefunden hätten.
Mo wurde immer blasser und immer mehr ein Schatten seiner selbst. Meinen Eltern fiel das natürlich auf, aber sie dachten, dass das viele Lernen Mo etwas mehr als sonst eben in Anspruch nahm. Auf Anraten von einem befreundeten Arzt, bekam Mo mehr Rohkost und gesünderes Essen.
Für Lilly und mich war es damit natürlich nicht getan. Doch wir hofften.
26.September
Eines Nachts als Mo wieder bei mir schlafen wollte, weinte er sehr viel. Deine Eltern waren nicht da und du schliefst bei deinen Fußballern. Mo hatte in dieser Nacht die Gelegenheit bei einer vertrauten Person, bei mir, seiner Schwester, alles laut aus zu weinen, ohne das es deine Eltern mitbekamen und Fragen hätten stellen können.
Er weinte lange in meinem Arm und ich hielt ihn und wog ihn, wie deine Mutter es immer tat, wenn einer von uns weinte.
Irgendwann war er ruhig, Schluchzer kamen noch. Ich dachte er sei eingeschlafen.
Doch dann hörte ich seine leise Stimme in meinem Arm. „Wovor hat man Angst?
Er hat Angst, sonst wäre er nicht so böse…“
Ich verstand Mo nicht, denn ich wusste nicht von wem er sprach.
Du und ich, wir fragten ihn doch immer wieder, was denn nun mit ihm los sei. Diese Nacht verriet er mir sein furchtbares Geheimnis.
Ich konnte es Dir nicht sagen, ich hatte es Mo versprochen, ich kann es dir erst jetzt sagen.
Ich lege das Tagebuch wieder in meinen Schoss und nun weine ich nicht nur um meine geliebte Lilly, um das scheiß Leben, dass mir Lilly wegnahm, ich weine wieder um Mo, meinen kleinen Bruder, dem ich nicht helfen konnte. Der Schmerz von damals bricht wieder hervor. Wir waren Kinder, Mo war ein Kind.
Pastor Martin war uns beiden sehr unsympathisch und wir kannten sein Bemühen um uns. Vielleicht hatten wir immer Recht, ihn nicht zu mögen, ihm zu misstrauen.
Mo hatte von Anfang an nur Angst vor Pastor Martin.
Pastor Martin brauchte Mos Vertrauen eh nicht, um das zu tun, was er Mo angetan hat.
Tom, er hat Mos Seele gebrochen, er hat ihn kaputt gemacht. Ich konnte ihm nicht helfen…
Dieses SCHWEIN hat nicht nur Nachhilfe gegeben, er hat sich die Unschuld der Kinder geraubt.
Tom, er hat Mo…
Er hat Mo angefasst, er hat ihm wehgetan.
Dieses verdammt fromme PASTORENSCHWEIN hat meinen kleinen Bruder missbraucht…
Gibt es einen natürlichen Mord?
Mos Tod war kein Mord und auch kein natürlicher Tod. Er konnte nicht mehr, er wollte Schluss machen. Mein kleiner Mo hat mit zehn Jahren so schwer gelitten, dass er das Erlebte nicht weiter ertragen konnte. Er wollte Schluss machen.
Ich wusste vielleicht, was Mo vorhatte, aber wie konnte ich ihn daran hindern. Wenn ich wirklich zugelassen hätte zu verstehen, was Mo mir in dieser Nacht gesagt hatte, hätte ich ihm dann helfen können? Ich habe mich blockiert und ich konnte es nicht verstehen.
Mo hatte zwei Packungen Schlaftabletten meiner Mutter aus ihrem Medizinschrank geklaut. Sie litt unter Schlafstörungen.
Die gerichtliche Obduktion ergab, dass Mo wohl beide Packungen Schlaftabletten genommen hat.
Wie sich Mo umgebracht hatte, wussten wohl nur meine Eltern und die Polizei. Nur sie wussten nicht, warum er es getan hatte.
In den letzten Tagen saß mein Vater lange bei Lilly am Bett. Sie redeten viel, brauchten Ruhe und Zeit, die sie sich in den letzten Jahren eben nicht genommen haben. Mein Vater sah in Lilly schon irgendwie immer eine Tochter, die er sonst nie gehabt hätte, nur all die Jahre hatten sie zu wenig Gelegenheit wirklich miteinander zu reden. Mein Vater erzählte Lilly, wie Mo starb und Lilly vertrauten sich ihm an, warum Mo sich das Leben nahm. Meine Mutter wurde auch eingeweiht. Meine Eltern wussten, wenn ich später Lillys Tagebuchaufzeichnungen lesen werde, würde ich verstehen und irgendwann zu ihnen kommen.
Lilly konnte es kaum ertragen auf die Beerdigung zu gehen und heute weiß ich, dass es nicht nur der Tod ihres Bruders war, der sie so verletzte, sondern der Mörder ihres Bruders nahm sich das Privileg heraus, Mo auch noch zu beerdigen.
Zwei Jahre später gab Pastor Martin seine Stelle in unserem Dorf auf. Er wusste, dass er Schuld an Mos Tod hatte. Man sagte, er hätte eine bessere Stelle in einer Kreisstadt mit einer größeren Gemeinde bekommen. Damals wusste ich nicht genau, warum er ging. Heute weiß ich, dass er Schuld an Mos Tod hat und damit musste er leben.
Tom mein Liebster, du bist und warst einfach der Stärkere von uns beiden gewesen. Ich war zu schwach, Mos Tod zu ertragen und das Martin Clemens ungestraft weiter leben durfte, konnte ich nicht verstehen. Dir sagen, was mich so zerfraß, konnte ich auch nicht. Ich hatte es doch versprochen.
Ja, nun weißt du alles.
Liebster, du bist nicht alleine. Ich bin dein Engel und auch Mo, du hast deine Eltern.
Du wirst mich nicht vergessen.
Ich liebe Dich... .
Es regnet in Strömen. Ich liege auf dem Deich. Die leere Wodkaflasche liegt neben mir und ich halte dein Tagebuch fest in meinem Arm.
Ich weine und schreie. Ich weine um dich, um Mo. Ich weine um mich.
Schlussstück
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen.
Lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
Reiner Maria Rilke