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Linie 16
Linie 16
Kolbe tastete nach dem plärrenden Wecker. Punkt sechs Uhr.
Stöhnend schälte er sich aus dem Deckenhaufen, schließlich hingen seine geschwollenen Beine über der Bettkante.
Das Stechen in der Blase ließ ihm nicht viel Zeit. Mit einem Filzpantoffel schlurfte er ins Bad, klappte den Klodeckel hoch und wusste, dass er jetzt tief atmen musste, damit seine vergrößerte Prostata einen mickrigen Urinstrahl ins Becken entließ. Nicht daran denken, dachte Kolbe und konzentrierte sich auf seine Observation.
Spätestens um zwanzig nach Sechs musste er vor dem aufgeschlagenen Notizheft am Wohnzimmerfenster sitzen, denn wenn sie heute wieder nicht an der Haltestelle stand, war mit Sicherheit was passiert.
Kolbe zerrte an seinem baumelnden Penis. Verdammt, jetzt komm endlich!
Zehn Minuten später stellte er den angeschlagenen Keramikbecher auf die Fensterbank, schob das Notizheft zur Seite und fand, dass der Pulverkaffee alt und muffig roch. Aus der Tasche seines abgewetzten Frotteebademantels zog er das kleine Opernglas, hauchte auf die blinde Scheibe und wischte mit der freien Hand darüber.
Da standen sie.
Die Blonde fehlte.
Im Zwielicht steckte Kolbe seine Nase in das Heft, hielt es dicht an die Scheibe und sah sich in seinen Befürchtungen bestätigt.
Seit Montag war sie nicht mehr erschienen. Heute war Donnerstag. Er blätterte zurück. Vor fast drei Wochen hatte der Lange mit dem Zopf angefangen, sie anzusprechen. Kolbes Finger fuhr an den Daten entlang. Genau neun Tage war es her, dass er ihr auf den Pelz gerückt war, in ihr Haar gegriffen hatte. Die Blonde war zur Seite getreten, hatte den Kopf geschüttelt und sich hilfesuchend umgesehen. Doch die beiden Anderen reagierten nicht. Die Dicke schaute kurz hin, drehte sich sofort wieder weg und ging außerhalb des Wartehäuschens auf und ab. Der Alte mit dem Stock hatte wohl etwas zu dem Langen gesagt, doch Kolbe konnte an der gebückten Haltung erkennen, dass es nichts Konsequentes gewesen sein konnte. Man richtet sich doch auf, will man seinen Worten Nachdruck verleihen. Der Lange hatte gelacht, dem Alten kurz über das spärliche Haar gestrichen und dann die Blonde einfach an sich gezogen.
Kolbe hatte das genau notiert. Auch das angstvolle Grinsen des Alten, der die Blonde nicht mehr angesehen hatte.
Ein Jammer, dass der Aktentaschenmensch seit fast vier Wochen nicht mehr gekommen war. Der Lange hätte sich nichts getraut, da war Kolbe sich sicher.
Er trank einen Schluck Kaffee und sah auf die Uhr, die in ihrem altmodischen Holzgehäuse eine staubige Anrichte zierte. Fast halb Sieben. Der 16er hatte zwei Minuten Verspätung.
Kolbe notierte: Donnerstag, 22.9., Dicke läuft herum, der Lange hat Stöpsel in den Ohren und macht ruckartige Bewegungen, der Alte hat sich in die entgegengesetzte Ecke des Wartehäuschens gedrückt.
Die Eintragungen der letzten Woche belegten, dass der Lange die Blonde jeden Morgen belästigt hatte. Freitag hat er sie sogar gegen ihren Willen geküsst, auf die Wange, einfach so. Er ist auch um sie herum getänzelt, hat sich theatralisch vor sie auf den Boden gekniet und die Arme ausgebreitet. Die Dicke und der Alte mussten lachen. Als sei das ein Beweis für Harmlosigkeit!
Kolbe war nur froh, dass er alles aufgeschrieben hatte. Beweismaterial sozusagen.
Das Beste war ja, dass niemand eine Ahnung hatte, dass er die Haltestelle vom 16er immer gut im Auge behielt, morgens, wenn noch nicht viele Leute unterwegs waren. Kolbe schaltete nie das Licht an. Hier in der Vorstadt war es fast so einsam wie auf einem kleinen Dorf und der Bus brauchte sicher eine halbe Stunde bis zum Bahnhof.
Die Blonde war nicht krank, da war Kolbe sich sicher. Sie trug jeden Tag ihre Schultasche, mittwochs einen Turnbeutel, freitags ihre Zeichenmappe. Kolbe dachte, dass sie zum entfernten Gymnasium fuhr. Nein, krank war sie nicht, das spürte er einfach. Freitag hatte sie sogar geschrieen, nach dem Langen geschlagen und sich mit dem Ärmel über die Wange gewischt. Er hatte die Arme vors Gesicht gehalten, als hätte er Angst vor ihr, und dann einen galanten Hofknicks vollführt. Die Dicke und der Alte kicherten, das hatte Kolbe gesehen und notiert.
Der Bus bog um die Ecke. Kolbe erhob sich steifbeinig von dem wackligen Stuhl. Er musste erst mal was essen. Danach würde er überlegen, ob er der Polizei mal einen Hinweis geben sollte, vielleicht anonym. Schließlich hatte er alles schwarz auf weiß.
Als er sein Leberwurstbrot auf die Fensterbank legte und hinaussah, erstarrte Kolbe.
Der Lange stand allein vor dem Wartehäuschen und sah unverwandt zu seinem Fenster hinauf. Als er Kolbes Gesicht hinter der Scheibe wahrnahm, winkte er grinsend und kam langsam auf die Haustür zu.