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Linie 16

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04.04.2008
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Kolbe tastete nach dem plärrenden Wecker. Punkt sechs Uhr.
Stöhnend schälte er sich aus dem Deckenhaufen, schließlich hingen seine geschwollenen Beine über der Bettkante.
Das Stechen in der Blase ließ ihm nicht viel Zeit. Mit einem Filzpantoffel schlurfte er ins Bad, klappte den Klodeckel hoch und wusste, dass er jetzt tief atmen musste, damit seine vergrößerte Prostata einen mickrigen Urinstrahl ins Becken entließ. Nicht daran denken, dachte Kolbe und konzentrierte sich auf seine Observation.
Spätestens um zwanzig nach Sechs musste er vor dem aufgeschlagenen Notizheft am Wohnzimmerfenster sitzen, denn wenn sie heute wieder nicht an der Haltestelle stand, war mit Sicherheit was passiert.
Kolbe zerrte an seinem baumelnden Penis. Verdammt, jetzt komm endlich!
Zehn Minuten später stellte er den angeschlagenen Keramikbecher auf die Fensterbank, schob das Notizheft zur Seite und fand, dass der Pulverkaffee alt und muffig roch. Aus der Tasche seines abgewetzten Frotteebademantels zog er das kleine Opernglas, hauchte auf die blinde Scheibe und wischte mit der freien Hand darüber.
Da standen sie.
Die Blonde fehlte.
Im Zwielicht steckte Kolbe seine Nase in das Heft, hielt es dicht an die Scheibe und sah sich in seinen Befürchtungen bestätigt.
Seit Montag war sie nicht mehr erschienen. Heute war Donnerstag. Er blätterte zurück. Vor fast drei Wochen hatte der Lange mit dem Zopf angefangen, sie anzusprechen. Kolbes Finger fuhr an den Daten entlang. Genau neun Tage war es her, dass er ihr auf den Pelz gerückt war, in ihr Haar gegriffen hatte. Die Blonde war zur Seite getreten, hatte den Kopf geschüttelt und sich hilfesuchend umgesehen. Doch die beiden Anderen reagierten nicht. Die Dicke schaute kurz hin, drehte sich sofort wieder weg und ging außerhalb des Wartehäuschens auf und ab. Der Alte mit dem Stock hatte wohl etwas zu dem Langen gesagt, doch Kolbe konnte an der gebückten Haltung erkennen, dass es nichts Konsequentes gewesen sein konnte. Man richtet sich doch auf, will man seinen Worten Nachdruck verleihen. Der Lange hatte gelacht, dem Alten kurz über das spärliche Haar gestrichen und dann die Blonde einfach an sich gezogen.
Kolbe hatte das genau notiert. Auch das angstvolle Grinsen des Alten, der die Blonde nicht mehr angesehen hatte.
Ein Jammer, dass der Aktentaschenmensch seit fast vier Wochen nicht mehr gekommen war. Der Lange hätte sich nichts getraut, da war Kolbe sich sicher.
Er trank einen Schluck Kaffee und sah auf die Uhr, die in ihrem altmodischen Holzgehäuse eine staubige Anrichte zierte. Fast halb Sieben. Der 16er hatte zwei Minuten Verspätung.
Kolbe notierte: Donnerstag, 22.9., Dicke läuft herum, der Lange hat Stöpsel in den Ohren und macht ruckartige Bewegungen, der Alte hat sich in die entgegengesetzte Ecke des Wartehäuschens gedrückt.
Die Eintragungen der letzten Woche belegten, dass der Lange die Blonde jeden Morgen belästigt hatte. Freitag hat er sie sogar gegen ihren Willen geküsst, auf die Wange, einfach so. Er ist auch um sie herum getänzelt, hat sich theatralisch vor sie auf den Boden gekniet und die Arme ausgebreitet. Die Dicke und der Alte mussten lachen. Als sei das ein Beweis für Harmlosigkeit!
Kolbe war nur froh, dass er alles aufgeschrieben hatte. Beweismaterial sozusagen.
Das Beste war ja, dass niemand eine Ahnung hatte, dass er die Haltestelle vom 16er immer gut im Auge behielt, morgens, wenn noch nicht viele Leute unterwegs waren. Kolbe schaltete nie das Licht an. Hier in der Vorstadt war es fast so einsam wie auf einem kleinen Dorf und der Bus brauchte sicher eine halbe Stunde bis zum Bahnhof.
Die Blonde war nicht krank, da war Kolbe sich sicher. Sie trug jeden Tag ihre Schultasche, mittwochs einen Turnbeutel, freitags ihre Zeichenmappe. Kolbe dachte, dass sie zum entfernten Gymnasium fuhr. Nein, krank war sie nicht, das spürte er einfach. Freitag hatte sie sogar geschrieen, nach dem Langen geschlagen und sich mit dem Ärmel über die Wange gewischt. Er hatte die Arme vors Gesicht gehalten, als hätte er Angst vor ihr, und dann einen galanten Hofknicks vollführt. Die Dicke und der Alte kicherten, das hatte Kolbe gesehen und notiert.
Der Bus bog um die Ecke. Kolbe erhob sich steifbeinig von dem wackligen Stuhl. Er musste erst mal was essen. Danach würde er überlegen, ob er der Polizei mal einen Hinweis geben sollte, vielleicht anonym. Schließlich hatte er alles schwarz auf weiß.
Als er sein Leberwurstbrot auf die Fensterbank legte und hinaussah, erstarrte Kolbe.
Der Lange stand allein vor dem Wartehäuschen und sah unverwandt zu seinem Fenster hinauf. Als er Kolbes Gesicht hinter der Scheibe wahrnahm, winkte er grinsend und kam langsam auf die Haustür zu.

 

Hallo Jutta!

Willkommen auf kg.de.

"Nicht daran denken, dachte Kolbe und konzentrierte sich auf seine Observation." => Denken, dachte liest sich unschön. Und was observiert er im Badezimmer? Ich weiß, was du meinst, aber ich würde eher schreiben: Um seine Prostata ignorieren zu können, dachte er an seinen Observationsauftrag. Oder so.
(Übrigens, für die Kürze des Textes, nehmen meiner Meinung nach Prostata, Penis und Urin viel zu viel Platz ein. Gleich zu Anfang schreckt das die Leser auch ab.)

"Verdammt, jetzt komm endlich!" => Solche direkten Gedanken solltest du kursiv setzen oder in 'einfache' Anführungszeichen.

"Als er Kolbes Gesicht hinter der Scheibe wahrnahm, winkte er grinsend und kam langsam auf die Haustür zu." => Ja, und nun? Was passiert? Bringt er Kolbe um? Will er Kolbe, den er für einen Spanner hält, eine reinhauen? Will er jemanden anderen in dem Haus besuchen? Macht er vor der Haustür kehrt, weil er sich es anders überlegt hat? Steht an der Haustür ein süßes Mädchen, das er küssen will? Oder ein Hündchen, das er streicheln will?
Mir fallen da noch tausend weitere Möglichkeiten ein. Warum hörst du an dieser Stelle mit dem Text auf? Lass die Leser doch nicht so hängen!

Grüße
Chris

 

Danke für das Willkommen und Eure Anmerkungen.
Tja, der alte Kolbe hat so seine eigenen Feuchtgebiete und sie kosten ihn auch eine Menge seiner Zeit.
Ich mag ihn übrigens nicht so besonders, was er sonst so macht, ist echt banal, und der Lange..., na ja, mal sehen.
Grüße von
Jutta

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Jutta,
ich fand deine Geschichte fesselnd. Dass das Ende ungewiss ist, stört mich nicht so sehr. Der Leser soll mal seine Phantasie spielen lassen - entweder klingelt der Pferdeschwanztyp an Kolbes Haustür und macht ihn dann platt (verdient hätte er es ja smile) oder sein Blick und sein Winken galt nicht ihm und Kolbe kann sich beruhigt zurückziehen und neuen Beobachtungen nachhängen.
Bei deinem Prot muss ich unwillkürlich an zwei Nachbarn, einer davon ist Frührentner, aus unserem Reihenhaus denken. Genau wie dein Prot lauern sie hinter Tür- und Fenstervorhängen, hängen vor der Haustür und an der Straße herum, nehmen "versehentlich" Post aus meinem Briefkasten und tauchen unvermittelt auf, wenn man die Wohnungstür passiert hat. Mich nervt das!
Was mir bei deiner Geschichte unangenehm aufstößt, ist dieses Nichteingreifen teils von deinem Prot, teils von den Leuten an der Bushaltestelle (die sich auch noch amüsieren), wenn ein junges Mädchen belästigt wird. Aber so wie in deiner Geschichte kommt das leider oft in der Realität vor, selten hat jemand die Courage, mal einzugreifen.
Gruß
Leia4e

 

Liebe Leia4e,
danke für Deine Rückmeldung. Ich glaube, wir alle kennen solche Nachbarn, mehr oder weniger schlimm! Was die Leute an der Haltestellt betrifft, agieren sie nicht, weil ich mir eine Fortsetzung der Geschichte noch offen halte. Ich weiß noch nicht genau, wohin sie mich führen; das entscheidet sich meist beim Schreiben. Mal sehen!
LG,
Jutta

 

dreieinhalb von fünf Punkten

Ein Antiheld wird als Beobachter weiterer Antihelden am Ende zum Ertappten. Atmosphärisch, sprachlich versiert, kohärent und fesselnd. Anstatt Namensträger gibt es neben Kolbe nur "die Dicke", "den Alten", "die Blonde" und "den Aktentaschenmensch": Sehr gute Idee.

Wirklich raffiniertes Ende. Wurdest du von einer anderen Geschichte inspiriert, oder war es deine eigene Idee?

Was mir nicht so gefiel:

Viele Passagen wirken konstruiert. So ist es recht unwahrscheinlich, dass sich ständig nur dieselben vier Leute zur selben Zeit an der selben Haltestelle treffen. Die Reaktionen der "Alten" und des "Dicken" sind unrealistisch.

 

Danke Sebastian! Wissentlich bin ich nicht von einer anderen Geschichte inspiriert worden, doch ich kann nicht ausschließen, mal was ähnliches gelesen zu haben, oder einfach durch das Verhalten unliebsamer Mitmenschen angeregt worden zu sein. Viele gute Geschichten haben ja ihren Ursprung im Alltag.
Das Verhalten der beiden Busbenutzer ist leider sehr real, als passionierte Strassenbahnbenutzerin weiß ich das leider nur allzu gut. Es ist allerdings überzeichnet, das fand ich als Stilmittel o.k..
Du hast sicher Recht, dass nicht immer die gleichen Leute an der Haltestelle stehen, doch morgens früh kann das noch sein, und für die story war es einfach wichtig.
LG,
Jutta

 

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