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Linnod
Sie spürte es wieder langsam den Rücken herauf kriechen. Langsam und intensiv bahnte es sich den Weg nach oben. Wie ein kleiner Elektroschock kündigte es sich an und kroch in einer widerwärtigen Art und Weise, die ihr den Atem einschnürte, ihren Körper hinauf.
Es war mal wieder so weit. Es hatte sie erneut gefunden.
Immer flüchtete sie, sie rannte davon, so gut sie konnte. Immer wieder verschloss sie die Augen und versuchte zu vergessen. Bisher hatte sie es immer wieder geschafft, morgens aufzuwachen und so etwas wie den Keim einer Hoffnung zu verspüren. Aber die Realität holte sie immer wieder ein und zerstörte ihren Traum, der ihr dieses Leben überhaupt erträglich machte. Sie nannte ihn LINNOD, was soviel wie Prophezeihung bedeutete. Aber er entglitt ihren Händen immer wieder - glitischig war er - wie ein nasser Fisch, der zurück in das Meer wollte, wo seine Heimat war, die ihn nur nähren konnte.
Sie konnte ihn nie festhalten. Immer wenn das Kribbeln kam, das mit einem furchtbaren Gefühl einherging, konnte sie LINNOD nicht mehr umschließen, ein Moment der Unachtsamkeit und er entglitt ihren Händen.
So versuchte sie, ihn immer wieder anders zu träumen. Sie schmälerte ihn oder schmückte ihn mit neuen Details aus, in der Hoffnung, er würde dadurch der Realität mehr gleichen und war so vielleicht nicht mehr so schwer festzuhalten. Aber es war wie ein Spiel. Nur hoher Einsatz brachte hohen Gewinn und ihre Mittel waren fast erschöpft.
Sie wußte, sie konnte ohne LINNOD nicht leben, auch wenn sie jedes Mal, wenn sie ihn verlor, nackte Panik verspürte. Es war doch immer die gleiche Sequenz: Unglaube, Glück, Panik, Schmerz, Resignation, Akzeptanz. Tiefe Narben zierten ihr Innerstes. Sie kannte die Regel, dass immer, wenn sie ihn in den Händen hielt, das unsichtbare Blut der Seele, das sich dann auf schmerzvolle Weise den Weg nach außen suchte, um in der Unendlichkeit des Universums zu verschwinden, vergossen werden musste.
LINNOD war ihr Leben. Er war ihr Himmel und ihre Hölle. Wenn sie ihn in den Händen hielt, verspürte sie Geborgenheit. Mit der Zunahme der Schönheit, die er gewann, wenn sie ihn mit liebevollem Blick betrachtete, stieg im grausamen Maße das Kribbeln auf ihrem Rücken. So versuchte sie, ihn fester zu greifen. Und jedes Mal, wenn sie zudrückte, entglitt er ihren Händen. Und mit dem Augenblick des Verlustes verschwand das Kribbeln und es kam der immer unerträglicher und stumpfer werdende Schmerz.
Mit leeren Augen saß sie im Straßencafé und betrachtete die Menschen. Sie sah Freude, Ruhe, Trauer… ob auch sie LINNOD kannten?