Lippenstift
Lippenstift
„Wenn du willst, dass ich sterbe, sag das doch einfach.“
Diese Worte morgens am Badezimmerspiegel zu lesen, kann einen Tag, der vielleicht gar nicht so schlecht angefangen hätte, durchaus vermiesen. Erst recht, wenn einem die Mitbewohner am Frühstückstisch schon durch Blicke unmissverständlich zu verstehen geben, dass sie heute schon ihre Zähne geputzt haben.
Wenn du es eine halbe Stunde später geschafft hast, den Lippenstift vom Spiegel zu kratzen und samstagvormittags schon sechs Zigaretten und ein Glas Wodka intus hast, bist du bereit, den Tag in die Tonne zu drücken, denn dass du heute Abend wohl keine Verabredung hast, kannst du dir dann selbst zusammenreimen.
Ganz davon abgesehen ist ein sonniger Samstagvormittag die schlechteste Gelegenheit, jemanden anzurufen, um ihn mit deinem Liebeskummer zu konfrontieren. Stattdessen trinkst du noch zwei Gläser und telefonierst erst Samstagmittag.
Ehe du es schaffst, deinen Kummer in Worte zu fassen, hörst du dir an, was du am gestrigen Abend verpasst hast – als wüsstest du das nicht längst – und findest dich in einem unverbindlichen Gespräch über Jeansfarbtöne wieder, denn das andere Ende der Leitung befindet sich gerade in einer Umkleidekabine in der Innenstadt. Du empfiehlst schwarz, weil dir gerade irgendwie danach ist und schwarz nie aus der Mode kommt, und sagst für eine Party am selben Abend genauso unverbindlich zu, wie du eben zu der schwarzen Jeans geraten hast.
Danach begehst du nicht den fatalen Fehler, die nächste Nummer zu wählen, bevor du deinen Körper mit Hilfe von noch mindestens zwei Zigaretten und zwei Gläsern Wodka einigermaßen an deinen Seelenzustand angepasst hast. Im folgenden Telefongespräch bist du aufgelöst und betrunken genug, dich nicht von deinem Thema abbringen zu lassen, bist aber zugleich von deiner eigenen Trunkenheit und deinem unaufhörlichen Geheule zu sehr eingenommen, um ein halbwegs vernünftiges Gespräch entstehen zu lassen. Du erhältst eine weitere unverbindliche Einladung, heute Abend mit jemandem zu reden, gepaart mit dem wesentlich verbindlicheren Vorschlag, erstmal deinen Rausch auszuschlafen, den du nach dem zweiten Telefonat konsequent aufrechterhältst.
Die folgende Dusche tut dir gut, der anschließende Blick in den Spiegel führt dich zum vorläufigen Tiefpunkt des Tages.
Nachdem diverse Versuche, dich selbst abzulenken, fehlgeschlagen sind, wirfst du die Fernbedienung entnervt in die Ecke, leerst das Glas in deiner Hand noch entschlossener als die vorherigen und trotzt dem Badezimmerspiegel einen Look ab, der, von deinen verheulten Augen abgesehen, wohl das beste ist, was du dir und deinem Selbstwertgefühl zu diesem Zeitpunkt anbieten kannst. Als du die Nummer eines vergangenen Techtelmechtels aus deinem Handy kramst, beschleicht dich für Sekundenbruchteile der Gedanke, dass genau diese Art der Problemlösung dich dahin gebracht hat, wo du dich jetzt befindest. Da du die Nummer aber schon gewählt hast, ist das jetzt auch egal.
Die Vorfreude auf den Videoabend, die du dir nach dem Telefonat selbst vorgaukelst, wird jäh gestört durch den Anruf deiner Eltern, vorzugsweise deiner Mutter, die sich nach den ersten paar Floskeln nach einem ganz bestimmten Menschen in deinem Leben erkundigt. Um sie an deiner mittlerweile ganz guten Stimmung teilhaben zu lassen – oder vielmehr deiner mühevoll selbst eingeredeten keinen Abbruch zu tun – lügst du ihr auf die Schnelle etwas unter der Verwendung von Wörtern wie ‚glücklich’, ‚zusammen ziehen’ und ‚Antrag’ vor. Dass du zu sehr auf den Putz gehauen hast, merkst du daran, dass das Telefonat sich zieht und es dir Kopfschmerzen bereitet, das Lügengebilde solange aufrecht zu erhalten. Du kannst von Glück reden, dass du zum Einen alleine bist und zum Anderen noch eine zweite Packung Zigaretten hast.
Dennoch, erst als du, bereits viel zu spät, um noch kurz in der Stadt einzukaufen, bemerkst, dass es dein Lieblingslippenstift war, den er aufgebraucht hat, um seine Nachricht am Spiegel zu hinterlassen, und du keinen anderen besitzt, der zu dem Kleid passt, dass du dir gerade extra für den heutigen Abend angezogen hast, erreicht deine Laune den absoluten Nullpunkt.