Lisa und die Vollkommenheit
Lisa und die Vollkommenheit – J D Moddy
Morris fühlte sich vollkommen.
Glücklich, erfüllt, stolz, stolz auf sich, wie man es nur selten, zu selten, nur in ganz wenigen, kleinen Augenblicken des Lebens ist. Morris sah, wie sich die Schiebetüren am Ausgang für ihn öffneten; der Herbsthimmel, kronend über der Stadt, spielte mit Blättern, mit nieselndem Regen. Ich bin vollkommen, dachte er. Sein Mantel flatterte, der Wind zerrte. Und während Morris Beine sich gleichformig voreinander hebten, brach in ihm eine so bewegende, tiefe Freude aus, die er noch nie zuvor hatte spürren dürfen.
Am Nachmittag des Tages nahm Morris sich viel Zeit.
Das Papier lag vor ihm. Mit großer Vorsicht hatte er es aus seinem Koffer geholt und es auf seinen alten Arbeitstisch gelegt. Er wagte kaum, es zu berühren. Morris sezte sich auf den Stuhl, die Hande auf den Knien liegend, den Oberkörper leicht über die Tischkante gebeugt, begutachtete er sorgfältig das Papier. Es roch nach frisch gedruckter Tinte. Feste, schwarze Buchstaben auf weiß leuchtendem Hintergrund, glatt, faltenlos. Ein Lächeln zeichnete sich in seinem Gesicht. Er dachte an all die Mühen, die Kräfte, die es kostete, um dieses Papier zu bekommen, die Tage und Nächte, die unzählbaren Stunden in der Bibliothek und am Schreibtich. Fünf Jahre hatte er hart gearbeitet und endlich konnte er sich beglückwünschen. Müde ließ Morris den Kopf in den Nacken sinken und starrte an die Decke.
Er sah die Menschen, die zur Tür hineintraten, Gesichter, die lächelten, Hände, die ihn fest umarmten, Wörter, die Morris alles Gute wünschten. Er hörte die vertrauten Stimmen, vernahm den Geruch von Parfum und Wein. Sah aus seinem Fenster, wie der Horizont sich verdunkelte, sah den Schein der Kerzen hinter sich aufblühen. Und auf einmal kam sie. Lisa! Sie blieb auf der Türschwelle stehen, lehnte gegen den Rahmen, ihr Gesicht leuchtete durch den Raum zu ihm.
Die Zeit verstrich, Geräusche von gießendem Wein in Gläsern, Geräusch von Stimmen, Rauchschwaden, Gesichter, die das seinige streiften, drüben ein lautes Lachen und immer wieder Lisa, ihre blauen Augen, ein Stück ihrer Haare, ihre Stimme. Sie fanden sich spät zu zweit in der Küche, nach belanglosen Worten, die sie einander gaben, trafen sich nach fünf Jahren ihre Lippen zum ersten Mal.
Morris erschrak. Was war passiert? Nach sich selbst suchend, in zusammengesunkener Haltung, kaum erwacht aus tiefen Gedanken, vernahm er das schrillende Dröhnen des Telefons aus der Küche. Er stützte sich mit rechter Hand am Kühlschrank ab, drückte den Höhrer fest an sein Ohr, nannte fast kaum hörbar seinen Namen und lauschte aufmerksam in die Leitung.
"..Bonjour Madame! ... Oh, impeccable ..... Déjà dans une semaine? Mais oui, je suis
content. Bien sûr, je vais accepter votre offre... Je vous remercie.... A bientôt!”. Morris legte den Höhrer zurück auf die Gabel, als er plötzlich fühlte, dass etwas seine Finger berührte. Verschreckt zog er seinen Arm zurück und seine Blicke fanden eine Hand, die zitternd nach seiner suchte. Er folgte den Fingern hoch zur Handflache, einen mit rotem Stoff bedeckten Arm, einen Hals, bis er schließlich die blauen Augen von Lisa vor sich sah. Ein trauiges Gesicht, das sich ihm langsam nährte, den Mund einen Spalt geöffnet, die Lippen sich leicht zuspitzend. Erstarrt blickte er für wenige Sekunden in ihre großen, tiefen Augen. Auf einmal war es wieder die verdurstete Topfpflanze auf der Fensterbank, die im Vordergrund seiner Sicht stand. Irritierend tasteten sich seine Blicke suchend durch die Küche und er realisierte, dass er noch nicht ganz wach zu sein schien. Mit seinen flachen Händen rieb er sich durch das Gesicht. Er atmete tief durch und lief wieder in sein Arbeitszimmer. Er schloss den Rahmen des Fensters und zog die Gardinen ein Stück zu, so, als würde sich draußen ein Unwetter ankündigen. Dann erst erinnerte er sich wieder an das Telefongespräch. Die Frau aus Bayonne bestätigte ihm, dass er den Job habe. Morris sei der Beste von allen Bewerbern und da ihre Firma eine so qualifizierte Arbeitskraft, wie er es sei, doch gerne sofort in ihrem Dienst hätte, würden sie es sehr zu schätzen wissen, wenn er doch schon innerhalb einer Woche beginnen könnte. Vor Ort würde ihm naturlich geholfen, ein schönes, gemütliches Appartement zu finden, das nichts zu wünschen übrig ließe.
Morris warf seine Blicke durch den Raum. Verstreut lagen Notizen, Blätter, Akten. Neben ihm türmten Bücher. Er nahm das oberste in die Hand, schlug wahllos eine Seite auf, las einen halben Satz und legte es schließlich zurück.
Innerhalb der nächsten Tage musste er dem Mieter kündigen, dachte Morris. Und wie sollte er den Umzug organisieren? Bayonne lag tausende von Kilometern entfernt. Er sehnte sich nach Ruhe.
Kurz darauf saß er auf dem Boden der Dusche, warmes Wasser strömte über seinen Körper, eingehüllt in ihm wohltuenden, aufkommenden Wasserdampf, die Augen geschlossen, dem Rauschen des Wassers auf seinem Kopf lauschend, trugen ihn seine Gedanken fort. Es war, als sähe er einen Film, der vergessen, verschollen, doch sich, wenn auch schwach, langsam wieder in seinen Erinnerungen fand. Vor fünf Jahren zog er in diese Stadt, ängstlich, schüchtern sah er sich in seinem neuen Appartement. Seine Mutter lebte damals noch. Sie hatte sogar noch seine Wohnung gesehen. Wie sie in der Tür stand mit ihrem violetten Schal, ihn anlächelte, sich umdrehte und im Treppenhaus langsam für ihn sich auflösend, erst ihr Gesicht, ihr Körper und zuletzt ihr violetter Schal, verschwand. Es war die letzte Begegnung mit seiner Mutter. Drei Tage spater war sie tod. Lange hatte er nicht mehr an sie denken müssen, doch als er am heutigen Morgen bei festlichem Empfang viele seiner Kommilitonen im Beisein strahlender Eltern sah, wie konnte es anders sein, war sie ihm ganz nahe. Nach offizieller Überreichung, einem Händeschütteln mit dem Professor, dem Hinabsteigen vom Podest und dann, auf dem Weg zurück zu den Sitzreihen, hatte er sie für einen kleinen Augenblick gesehen, wie sie aufrecht stand, lächelnd, die Arme ausgeweitet, auf ihn wartend.
Es war Lisa, die drei Sitzreihen hinter ihm seinen Namen rief, doch ehe er ihre Worte verstand, sich zu ihr drehte, waren es die Menschen, die von ihren Sitzen aufstanden, seine Sicht zu ihr verdeckten und ihre Stimme verlor sich im lauten, ausbrechendem Applaus. Lisa! Am Morgen noch hatte er sie gesehen, wie sie im blauen Kleid dort oben auf dem Podest stand, mit strahlendem Gesicht, ihr Papier entgegenahm. Dann war sie ihm unaufmerksam in seinen Gedanken gefolgt, ihm im Traum erschienen, hatte ihn geküsst und war ihm in der Küche mit traurigem Gesicht begegnet.
Auf der großen Treppe zur Bibliothek sah er sie vor fünf Jahren zum ersten Mal. Morris konnte sich nicht erinnern, welchen Gedanken er gehabt haben mochte, doch war sie ihm noch immer vor Augen, bildlich, genau so, in all den Farben und Nuancen, wie er sie damals auf der Treppe sah. Sie stand am Geländer, sie sah niemanden, sie starrte, träumte in die große Eingangshalle.
In einer Arbeitsgruppe lernten sie sich kennen, sie sprachen wenig miteinander und überhaupt, Morris wusste nicht viel über sie zu berichten, doch wann immer sie ihn sah, strahlten ihre Augen, sie lächelte und kam auf ihn zu. So oft eilte Morris von Lesung zu Lesung, zu Arbeitsgruppen oder in die Bibliothek, traf Lisa im Gang und sie folgte ihm, lief neben ihm, erzählte von sich, von anderen Menschen, fragte nach ihm. Sie sprach ruhig, doch lebte sie mit ihren Händen, ihren Armen, ihrem strahlenden Gesicht jedes Wort. Und waren es meist nur wenige Schritte, die sie gemeinsam über den Flur liefen, immer dann, bis aus Ecken und Menschengruppen ihr Name gerufen wurde, setzte Morris seinen Weg mit einem behaglichen Gefühl fort.
Morris erhob sich aus der Duschkabine. Nach kurzer Zeit füllten sich seine Gedanken mit den Worten der Sekretarin aus Bayonne. Morris Herz schlug schneller, als er sich bewusst zu werden vermochte, was ihn in Kürze erwartete. In der nächsten Woche würde er bereits in Südfrankreich sein. Und bei all seiner Verwirrung, die ihm dieser Tag brachte, blieben ihm wenige Stunden, nur eine Hand voll Tage, um etwas zu unternehmen, zu reagieren, sich das Gefühl wieder eigen zu machen, sein Leben in dieser Stadt so gelebt zu haben, dass jeder Zweifel, der ihm sagte, seine Zeit ware nicht lohnenswert gewesen, auszuschließen war. Und so kam es, dass er vor seinem Computer hockte, Freunden, Bekannten, Mitstudenten eine E-Mail schrieb. Er wollte in zwei Tagen, so war er entschlossen, ein Fest in seiner Wohnung geben. Die letzte Einladung war an Lisa adressiert. Morris schrieb nur wenige Sätze und verschickte die Mitteilung. Er fühlte sich besser.
Kurz darauf lief Morris durch die Straßen der Stadt, vorbei am Kanal, der im Verglühen der Sonne am Horizont und den schwach erleuchtenden Lichtern am Ufer mit der Dunkelheit der aufbrechenden Nacht verschmolz, vorbei an Prostituierten, die hinter großen Glasscheiben von Männern bestaunt wurden, in knapper Bekleidung lustlos zu ihm und den anderen verschwommenden Gesichtern unten auf der Straße hinabschauten, vorbei an alten Häusern mit großen Fenstern, bis er sich im Stadtpark sitzend auf einer Parkbank fand. Vor ihm warf eine blau und grün beleuchtete Fontäne aus einem großen Brunnen das Wasser in die Höhe. Im Sommer hatte er Lisa hier im Vorbeilaufen oft sitzen sehen, zusammen mit Freundinnen, die Füße zur Kühlung im Wasser baumelnd, lachend. Von einem Mitstudenten hatte er vor etwa zwei Jahren gehort, dass dieser und eine Gruppe von ungefähr sechs Leuten in einer Sommernacht nackt in den Brunnen gestiegen waren, ihre Körper in die bunt beleuchteten Fontänen getaucht hatten. Nach zwanzig Minuten sei die Polizei gekommen und sie wären in die Parkanlagen geflüchtet. Lisa sei in jener Nacht auch dabei gewesen. Gibt es doch für Liebende kaum eine größere Märchenlandschaft als beleuchtete, wunderschön gestaltete Parkanlagen, verlassen von jeder Menschenseele, bei Nacht, berührt durch trunkende Geister, tanzende Körper in tiefer Sommernacht unter thronenden Sternen- hörte er seinen Mitstundenten sagen und es brach Morris das Herz, dass er zu jener Stunde an einem anderen Ort war.
Eine halbe Stunde später stand er vor der Fußgängerampel bei der großen Kreuzung. Auf der gegenüberliegenden Seite lag das Universitätsgebäude. Die Schiebetüren öffneten sich für ihn und er trat in die Eingangshalle. Niemand war zu sehen. Auf der linken Seite zog sich eine breite Treppe in die zweite Etage zur Bibliothek. Vor fünf Jahren, als er Lisa dort hatte stehen sehen, waren hunderte von Menschen hier, die laut miteinander sprechend, hektisch, ihre Wege zogen. Nun war es ganz still. Er setzte sich auf eine der Treppenstufen. Seine Blicke fielen zum Geländer. Trauig, verlassen, im blassen Licht, zog es sich die Stufen empor. Unvorstellbar war ihm, dass einst ihre Hand dort lag. Als war es in einem anderen Leben gewesen, in einem Film, vor langer Zeit.
“Warum habe ich sie nicht früher erkannt?”, sprach er tief in sich hinein, mich nicht neben ihr gesehen, wo ich doch all die Zeit, und dies weiß ich nun mit Gewissheit, etwas verdeckt haben muss, das mich nun in all seiner Heftigkeit zerreist”. Wellen wohltuender Wärme durchströhmten ihn in bunten Farben, verdrängt durch schauernde Dunkelheid, Kälte, ihn vereinsamend, bis eine neue Welle voll Harmonie und kurzlebigem Glück ihn für einen kleinen Moment wieder heim suchte. So saß Morris auf den Treppenstufen und wusste, dass er sie liebte, immer schon liebte.
Es war spät, als er die Tür seiner Wohnung aufschloss.
Auf dem Tisch fand er unverändert das Papier vor sich liegen.
Morris klappte den Bildschirm seines Laptops auf. Lisa hatte ihm geschrieben!
Mit den Augen am Bildschirm las er ihre Nachricht immer wieder von neuem, bis er sich in die Stuhllehne fallen ließ und die Augen schloss.
Lisa konnte nicht zu seiner Feier kommen, schrieb sie, bedauern würde sie dies sehr, doch hatte sie schon einen wichtigen Termin.
Morris öffnete die Augen und sah die Dunkelheit vor seinem Fenster stehen. Bei all seiner geglaubten Vollkommenheit fühlte er einen aufkommenden Schmerz in sich, und er ahnte, was mit ihm geschah- wie ein Boot trieb er davon, hinaus auf das große Meer, vor sich die Stadt, kleiner und kleiner werdend, ein Teil der Ferne, ein Punkt, sich langsam auflösend in der Unentlichkeit- er nahm Abschied von Lisa.
Es würde kein Wiedersehen geben, Morris und Lisas Wege würden sich verlaufen und ihre Lebensgeschichten sich an verschiedenen Orten mit unterschiedlichen Menschen formen. Lisas Erinnerungen an Morris, so dachte er, würden schon in Kürze sich verlieren, so wie leichte Fußspuren im Sand nach dem Nachtwind. Und was war mit ihm?
Was auch immer Morris sich wünschte, was auch immer er in Lisa sah, selbst mit jener Gewissheit, dass seine Trauer nicht ewig von Dauer sein würde, fühlte er eine Trennung, einen Verlust, der ihn, und da war er sich sicher, in dieser Nacht mit traurigen Gedanken zurück lassen würde. Es ist doch interessant, dass ich über fünf Jahre auf dieses Papier wartete, dachte Morris, es mir so herbeisehnte und jetzt, wo ich es habe, denke ich an eine junge Frau.
Am folgenden Tage erwachte Morris bereits am frühen Morgen. In guter Laune beschloss er, das Fest am nächsten Tag abzusagen. Morris wollte noch heute seine Sachen packen und am Wochenende nach Bayonne fliegen. Er hielt seinen Kaffeebecher in der rechten Hand und begutachtete das Papier. Es roch nach frisch gedruckter Tinte. Feste, schwarze Buchstaben auf weiß leuchtendem Hintergrund, glatt, faltenlos. Ein Lächeln zeichnete sich in seinem Gesicht. Morris fuhlte sich vollkommen. Glücklich, erfüllt, stolz, stolz auf sich, wie man es nur selten, zu selten, nur in ganz wenigen, kleinen Augenblicken des Lebens ist.