Loser
„Und“?
Sie nickte. Er nahm sie an die Hand.
„Soll ich bis Drei zählen?“ fragte er und blickte sie forschend an.
„Okay“, sagte sie kaum hörbar und blickte dabei auf ihre Schuhspitzen.
„Bist du dir auch wirklich sicher?“ fragte er noch einmal.
„Ja…ich...denke schon“, sagte sie etwas entschlossener und wippte nervös auf den Füßen.
„Gut…dann los“, sagte er und drückte ihre Hand fester. Dabei war es ziemlich schwierig, sie fest zu halten, da sie ziemlich schwitzte.
Er schaute an seinen Füßen hinunter in den Abgrund. Zwanzig Meter freier Fall und danach eine unsanfte Landung auf den Bahnschienen dürften genügen, um ihr Leben für immer auszulöschen.
„Du musst aber erst loslassen“, bedeutete er ihr behutsam, als er sah, dass sie immer noch mit der linken Hand das Geländer hinter sich umklammerte.
Um diese Uhrzeit war auf der Brücke so gut wie überhaupt kein Verkehr. Sie standen bestimmt schon eine Stunde hier und in dieser Zeit war nicht ein einziger Wagen vorbeigefahren.
„Ich weiß nicht….sollen wir wirklich? Ich bin doch grad mal Siebzehn“, sagte sie nervös und umklammerte das Geländer noch fester.
„Hmm, lass mal überlegen“, sagte er ruhig zu ihr „du hast vor zwei Stunden deine Mutter und deinen Vater erschossen, ich weiß nicht, ob es dir lieber ist, den Rest deines Lebens im Gefängnis zu verbringen“. Er sah ihr tief in die Augen, mit dem festen Willen, sie nun endlich zu überzeugen, schließlich hatte er sich auch schon vorher überzeugt. Sie wich seinem Blick schnell aus und starrte kummervoll auf ihre Füße.
„Aber…du hast gesagt, dass es das Beste für sie wäre. Wegen des unheilbaren Krebses und der furchtbaren Schmerzen, die sie haben würden, ich…ich….wollte ihnen doch nur helfen…ihnen das Leid ersparen, das würde die Polizei doch bestimmt verstehen. Sie hatten doch Krebs“, jetzt schaute sie ihn flehend an. Flehend, dass er ihr die Absolution für ihre Tat erteilen würde.
„Lisa“, sagte er, „vertraust du mir nicht mehr?“ Er versuchte, so viel wie Betroffenheit wie möglich in seine Stimme zu legen, ließ ihre Hand los und streichelte sie über die rechte Wange. Schnell klammerte sie sich auch mit der anderen Hand an das kalte Brückengeländer.
„Doch….natürlich, es ist nur…ich habe sie doch so geliebt“, weinte sie nun.
„Ich weiß, Süße. Du hast sie erlöst. In ihrer Krankenakte stand, dass der Krebs bereits im Endstadium war, sie höchstens noch drei Monate gelebt hätten und das unter großen Schmerzen“. Er drückte ermutigend ihren Arm, während sie, von einem Heulkrampf geschüttelt, furchtbar schluchzte.
„Wie kann man nur so naiv sein“, dachte er sich, während er weiter versuchte, sie zu beruhigen. Wie groß war wohl die Möglichkeit, dass zwei Leute, die zufällig auch noch verheiratet waren, zur selben Zeit an der gleichen Krankheit erkranken?
Aber sich als Arzt auszugeben war eine super Idee gewesen fand er und konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken.
„Warum lachst du“, fragte sie etwas schockiert.
Tränen ließen ihre dunklen Augen wunderschön schimmern.
„Du, ich bin einfach nur glücklich, dass du so stark gewesen bist, deinen Eltern diese große Last zu nehmen und dass ich nun mit dir hier sein kann“, sprach er beschwichtigend auf sie ein.
„Aber wäre es nicht ein Zeichen von Stärke, eben nicht zu springen?“ fragte sie nun unsicher.
„Du willst doch bei ihnen sein, oder nicht? Und ich will bei dir sein. Wenn du springst, werde ich es auch tun. Ich liebe dich so sehr, meine Schöne, wir werden immer zusammen sein, im Paradies“.
Er hoffte, dass er sie nun endlich überzeugt hatte, denn langsam gingen ihm die Argumente aus und außerdem wurde er langsam schwach.
„Aber wir beide können doch auch hier zusammen sein und ich muss sie doch wenigstens beerdigen“, sagte sie flehend und sah ihn dabei bittend an.
„Nein, können wir nicht, verdammt noch mal“, raunte er wütend und riss ihre Hände vom Geländer los. Sie schaute ihn erschrocken an und versuchte, sich an ihm festzuhalten.
Er zerrte sie an den Rand der Brücke.
„Robin, ich….ich will das nicht“, stammelte sie verzweifelt und verwirrt über seine plötzliche Grobheit. In ihren Augen stand nun die Todesangst. Ihr Lebenswille entflammte und sie versuchte, wild rudernd das sichere Geländer zu erreichen.
„Aber ich will“, sagte er zornig und zerrte sie über den Abgrund.
Sie fielen. Sie schrie. Dann schrie sie nicht mehr..
Er stand auf und sah auf ihren zerschmetterten Körper. Sie war so hübsch gewesen, als sie noch lebte. Schwarzes, langes Haar, dunkle Augen, eine zierliche Figur mit schönen Brüsten.
„Bitte, bitte, bitte, bitte“, betete er leise und drückte sich selbst die Daumen, während er auf ihren leblosen Körper starrte, obwohl er eigentlich wusste, dass es zwecklos war, denn schließlich war sie schlussendlich nicht freiwillig gesprungen.
Und dann ging alles ganz schnell. Ihr Geist löste sich aus ihrem Körper, das Licht kam, das Licht ging und nahm Lisa mit.
„Och Mann“, sagte er frustriert und stampfte mit einem Fuß verärgert auf den Boden.
Es wäre so schön mit ihr gewesen. Na gut, sie war schon etwas dumm, aber so hübsch, so eine Freundin hatte er zu Lebzeiten nie gehabt.
Erst wenn er eine Frau finden würde, die genauso böse war wie er und sich dann das Leben nehmen würde, erst dann wäre er nicht mehr allein.
Dass er aber auch immer im letzten Augenblick die Nerven verlieren musste. Lisa war bereits die sechste gewesen und alle hatten zum Schluss einen enormen Überlebenswillen entwickelt.
Dabei war er doch eigentlich gar kein Selbstmörder, er hatte nur beim Russischen Roulette verloren. Er hatte einfach nur verdammtes Pech gehabt.
Gut, er hatte Lisa manipuliert und es war auch verteufelt schwer gewesen, sich zu materialisieren, aber jemand, der von Grund auf Böse ist und Spaß daran hat, andere Menschen zu quälen, der hat überhaupt keine Lust zu sterben.
Er hätte ja schließlich auch gerne noch ein paar Omas über die Straße geholfen.
„Scheiße, verdammte“, dachte er und ging zurück zur Straße, um wieder in die Stadt zu gelangen. Vielleicht finde ich ja doch noch jemanden. Zeit habe ich ja genug, dachte er und lachte verächtlich. Immerhin war er als Selbstmörder dazu verdammt, bis zum jüngsten Tag auf Erden zu wandeln.
Er versuchte wütend über sich selbst einen Stein von der Straße zu kicken, aber er sein Fuß ging einfach durch den Stein hindurch.
Er hatte vergessen, dass es ja nun wieder nur ein jämmerliches, einsames, Geistarschloch war.