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Love to go
Um ein gemeinsames Frühstück zu vermeiden, hatte ich mich an diesem Morgen schon viel zu früh auf den Weg zur Arbeit gemacht. Das Beste an Simon war, dass er öfter mal auf Geschäftsreise ging und so würde ich ihm auch heute Abend nicht begegnen. Ohne Eile schlenderte ich dahin und betrachtete dabei in den Schaufenstern das Spiegelbild einer unzufriedenen, mageren Frau. Sie hatte, ich hatte den Gesichtsausdruck einer überforderten Lateinlehrerin.
Versunken in diese etwas trübsinnigen Gedanken, wurde ich von der Veränderung des Ladens an der Ecke überrascht. Er liegt ganz in der Nähe meiner Wohnung und bot seit Monaten ein Bild stetigen Verfalls.
Jetzt aber: Die zerborstenen Fensterscheiben waren ersetzt und die Schmierereien an der Fassade übertüncht worden. Ein Schild verkündete in großen Lettern: Kommenden Samstag Neueröffnung: „Alles rund um Liebe und Liebelei“.
‚Ach ne‘, dachte ich, ‚muss das sein, ein Sexshop hier um die Ecke? Da hab ich ja nichts davon, schon allein wegen der Nachbarn. Wäre echt peinlich, wenn die mich da reingehen sehen.'
Trotzdem schlenderte ich am Samstag wie zufällig an dem Lädchen vorbei und staunte nicht schlecht: Im Schaufenster wurde nicht etwa für irgendwelche Pornos geworben und es lagen auch keine der anderen von mir erwarteten Utensilien in der Auslage. Auf dunkelblauem Samt sorgfältig arrangiert befanden sich vielmehr handgeschriebene Gedichte, CDs mit romantischer Musik und Zärtlichkeit verströmende Zeichnungen. Außerdem kleine Hinweistafeln mit Aufschriften wie: Nachmittagsliebelei, Wahre Liebe (auf eigene Gefahr!), Spezialität des Hauses: Erste Liebe und so fort.
Ins Auge aber sprang mir:
Unser Angebot der Woche: Love to go.
Das klang ein bisschen nach meinem Lieblingskaffee, den ich mir ab und zu morgens vor der Arbeit gönne. Neugierig trat ich ein. Beim Öffnen der Tür begannen Glöckchen melodisch zu klingeln und gleich darauf fand ich mich in einer Mischung aus Café, Buchladen und Apotheke wieder. Um runde Tische herum standen samtweiche, tiefe Sessel. Hohe Regale waren mit bunten Dosen und kunstvoll eingebundenen Büchern versehen. Daneben eine Ecke, die von einem großen Spiegel eingenommen wurde. Der zarte Duft von Orangenblüten streifte mich, irgendwoher kam leise, anrührende Musik und ein Holzofen verbreitete wohlige Wärme. Gerade richtig für diesen kalten Februartag.
Eine junge Frau kam auf mich zu. Obwohl der Laden so klein war, hatte ich sie bisher nicht bemerkt. Sie mochte etwa halb so alt sein wie ich und ihre Kleidung sah ein wenig nach ‚Bezaubernde Jeannie‘ aus. Irgendwie aus der Zeit gefallen. Arm- und Fußkettchen klimperten bei jeder ihrer Bewegungen so melodisch wie zuvor die Eingangstür, dunkle Locken fielen ihr in die Stirn. Ich hatte sie sofort gern. Das lag weniger an ihrem Aussehen als an ihrer sonnigen Ausstrahlung. Sie brachte in diesen schummrigen Raum so etwas Helles, Warmes … keine Ahnung, wie sie das anstellte.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie.
„Vielleicht. Mich interessieren Ihre Werbesprüche aus dem Schaufenster.“
"Das sind keine Sprüche, sondern Versprechen. Lassen Sie mich nachdenken … in Ihrem Fall wäre die Erste Liebe wohl nicht das Richtige? Wobei, das Alter sagt da nicht viel.“
Lief da irgendwo die Versteckte Kamera? Denn was sie behauptete, war selbstverständlich völlig absurd! Leider. Aber - ich brachte es nicht über mich, ihr das in ihr freundliches Gesicht zu sagen. So vertraute ich ihr stattdessen an:
„Die wahre Liebe hatte ich schon. Vielleicht sollte man ihr mal begegnet sein, möglich, aber das reicht dann auch für ein Leben!“
„Die wahre Liebe ist ohnehin mit Abstand das Schwierigste, schon bei der Verabreichung. Wie wäre es dann mit etwas Einfacherem, zumindest für den Anfang? Wir haben Love to go im Angebot.“
„Das wäre ...?“
„Ich fülle hier in diesen Becher …“, dabei hielt sie mir eine große Porzellantasse entgegen, „ … eine nach Karamell schmeckende Flüssigkeit. Die trinken Sie in möglichst kleinen Schlucken, die Tasse können Sie sich dafür gerne ausleihen.“
„Und dann?“
„Das ist mit Worten schwer zu beschreiben. Nur soviel: Es öffnet die Augen - für sich selbst und für andere. In diesem Fall auf leichte und nicht unbedingt dauerhafte Weise. Nehmen Sie doch einfach mal einen ersten Schluck und sehen Sie in den Spiegel.“
Genau das tat ich und sah eine ziemlich schlanke Frau mit dem Gesichtsausdruck einer nur minimal überforderten Sportlehrerin.
Ein paar Minuten später stand ich leicht verwirrt wieder auf der Straße. Mir wurde kalt, die angenehme Wärme des Holzofens fehlte mir ebenso wie das sonnige Mädchen. Aber gehorsam leerte ich Schluck für Schluck den ganzen Becher.
Und ich fühlte mich besser, viel besser sogar! Es war wie ein inneres Auftauen, erst erreichte die Wärme meinen Bauch, dann mein Herz und schließlich fühlte ich mich ganz und gar leicht und wohl temperiert. Leise begann ich zu singen, das erste Mal seit sehr vielen Jahren. Simon hatte mir dieses peinliche Verhalten so gründlich abgewöhnt, dass mir meine eigene Stimme dabei ganz fremd vorkam.
„So fröhlich heute Morgen? Wie schön!“ Erschrocken drehte ich mich um. „Nein, bitte nicht aufhören!“
Den Gefallen konnte ich ihm nicht tun, jetzt, wo ich bemerkt hatte, dass er neben mir stand. Aber ich freute mich über Pauls Bemerkung. Paul, mit dem ich schon die Schulbank gedrückt hatte. Der Paul, der mir in meinen Zwanzigern bei jedem Umzug, den eine gescheiterte Liebe mit sich gebracht hatte, geholfen hatte. Der ewige Paul, dessen Haare grauer und weniger geworden waren mit den Jahren, dessen Lachen aber offen und echt geblieben war. Und seine Augen … meine Güte, das war mir in all den Jahren gar nicht aufgefallen, was für liebe Augen er hatte!
Ich lud ihn auf einen Kaffee ein, dann verbrachten wir wie selbstverständlich den Rest des Wochenendes miteinander. Wir erzählten uns verrückte Geschichten, gestanden uns die schrägsten Phantasien, liebten uns schließlich, erst scheu, dann atemlos – 35 Jahre nach unserer ersten Begegnung in der 7. Klasse! Und lagen uns danach lachend in den Armen.
Am Montagmorgen frühstückten wir noch zusammen, dann ging er fort. Verlegen. Unsicher fragend: „Wir sind jetzt aber noch Freunde, oder? Das haben wir uns jetzt nicht kaputt gemacht, versprich mir das!“
Und war verschwunden.
Am Abend kam Simon von seiner Geschäftsreise zurück.
Ich schaffte es nicht, Paul anzurufen. Er meldete sich auch nicht. Was hätten wir uns auch sagen sollen? Zum Glück begannen sich meine Gefühle nach zwei Tagen allmählich zu beruhigen.
Zumindest dachte ich das, bis ich nachts aufwachte, weil ich Pauls Namen murmelte. Auch Simon wurde davon wach. Als ob er auf diesen Moment schon länger gewartet hätte, packte er seine Sachen, legte den Haustürschlüssel auf den Küchentisch und verschwand nach 12 Jahren fast spurlos aus meinem Leben.
Und einen Tag später stand ich, die geliehene Tasse in der Hand, wieder vor dem Laden. Das übliche Zögern, dann trat ich ein. „Oh, wie schön, da sind Sie ja!“, die junge Frau sah mich strahlend an, „und Sie möchten nicht nur den Becher zurückgeben?“
„Stimmt, ich würde es gerne doch mit der wahren Liebe versuchen.“
„Sie kennen die Risiken? Man vergisst leicht, auf sich selbst aufzupassen.“
„Ich weiß.“
„Dann setzen Sie sich bitte einen Moment, ich bereite Ihre Mischung vor. Zu Anfang müssen Sie ein paar bittere Pillen schlucken, aber besser, man gewöhnt sich gleich daran.“
Trotz ihrer Jugend war sie ein kluges Mädchen!
Nach einer Stunde stand ich wieder auf der Straße. In meinem Kopf noch das unglaubliche Spiegelbild von eben. Erwartungsvoll schaute ich mich um, doch Paul war nicht zu sehen. Trotzdem war ich in gehobener Stimmung, vermutlich wegen der verschiedenen bunten Pillen und Kräutermischungen, die sie mir verabreicht hatte - und die hoffentlich alle legal waren.
Pfeifend lief ich in Richtung Supermarkt, als ein Arm sich um meine Schulter legte.
„Na du? Wie ich höre, ist Simon ausgezogen?“ Mein Herz machte einen kleinen Sprung, als ich mich zu Paul umdrehte.
„Da hast du richtig gehört.“
„Und dir geht's trotzdem so gut? Fein. Komm, wir gehen ein Stück. Wenn du magst, können wir uns nachher zusammen meine neue CD anhören. Die habe ich gestern in diesem Laden an der Ecke gekauft, vielleicht ist der dir schon aufgefallen?“
Doch, konnte man so sagen.