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Es war ein sehr sonniger Tag. Der Himmel leuchtete blau und die Sonne strahlte mit ganzer Hitze auf alles, was sich unter ihr bewegte. Kommissar Martens wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die stickige Luft der Mittagshitze ließ ihn kaum atmen. Er war es schon lange nicht mehr gewohnt, die Luft außerhalb kalter, klimatisierter Büros zu spüren. Es müssen mittlerweile zwei Jahre gewesen sein, die er ausschließlich dort verbracht hatte. Sein ganzes Leben spielte sich nur noch dort ab.
Vor zwei Jahren wurde er in die Sonderkommission „Schlächter“ einberufen. Für einen Ermittler wie ihn, der schon unzählige grausame und bestialische Morde aufgeklärt hatte, sollte dies der Höhepunkt einer beeindruckenden Ermittlerkarriere werden. Doch wurde dieser Einsatz zum Martyrium für Kommissar Martens. Es nicht die Brutalität und Unmenschlichkeit der Verbrechen, die ihn nicht schlafen ließ, sondern die Tatsache, dass er ihn nicht fassen konnte. Immer wieder schaffte es der „Schlächter“ ihm zu entkommen. Zwei Jahre lang mordete er quer durch die Nation. Woche für Woche neue Opfer. An den Tatorten hinterließ er nichts, außer einer Spur des Grauens. Es gab kein Muster, keine Spuren, nicht einmal Hinweise. Mit besonderer Präzision sorgte er dafür, dass es niemals Zeugen gab. Wer dem Schlächter begegnete, bezahlte dies mit dem Leben. Er tötete präzise, ohne Auftrag und ohne Gewissen. Bei aller Kompetenz, die Martens auch zu haben schien, sollte er hier die größte Niederlage seines Lebens erleiden.
Vor einer Stunde kam schließlich die Nachricht, die Kommissar Martens schon nicht mehr glaubte, dass er sie noch hören würde: Wir haben ihn.
Es dauerte eine Weile, bis sich Kommissar Martens Wagen, selbst mit Blaulicht, bis zur Einsatzzentrale vorgekämpft hatte. Jedes Stocken und jede Verzögerung im zähen Berufverkehr, ließen Kommissar Martens Nerven auf dem Hochseil tanzen. Er ließ keine Zeit verstreichen. Noch bevor der Einsatzwagen zum Halten gekommen war, stieß er die Tür des Fahrzeugs auf und lief in Richtung der Haupttür.
In der Eingangshalle wartete schon Juckenack, der Profiler seiner Kommission. Er trug wie immer ein blaues Hemd mit gestreifter Krawatte unter seinem sand-farbenen Anzug. Ein Bild von einem Polizisten, mit geradem Scheitel und gebügeltem Hemd. Ganz im Gegensatz zu Kommissar Martens, der selbst in seinem Urlaub nicht erholt aussehen würde, wenn er denn einmal welchen machen würde. Der ausgewaschene Pullover, der über das zerknitterte Hemd gezogen wurde, die hängende Hose und der mit Kaffee befleckte Mantel, gaben ein stimmiges Bild mit den ersten Altersfalten in Kommissar Martens Gesicht ab.
„Wo ist er? Warum wurde ich nicht eher informiert? Wann hat man ihn gefunden? In welchem Zustand ist er?“ Wie üblich verzichtete Martens auf eine Begrüßung, und kam gleich auf den Punkt.
„Hier Herr Kommissar, im Vernehmungsraum 1. Folgen sie mir! Herr Kommissar, wir haben sie so früh informiert wie es nur ging. Das ganze passierte vor nicht einmal einer Stunde.“
„Wurden alle Sicherheitsmaßnahmen getroffen? Ist er bewacht?“
Juckenack brauchte darauf nicht mehr zu antworten. Während sie die Treppen abwärts zu den Verhörzimmern rannten, standen entlang des Flures eine ganze Kompanie schwer bewaffneter Sondereinheiten mit durch geladenen und entsicherten Waffen bereit.
„Also, Juckenack, wo hat man ihn gefunden?“ Der Kommissar drängelte sich an den Sondereinheiten vorbei, bis er mit Juckenack kurz vor der Tür des Verhörzimmers 1 stand.
„Wir haben sie nicht gefunden. Sie hat sich gestellt.“
Kommissar Martens blieb sofort stehen.
„Haben sie eben „sie“ gesagt?“
„Ganz richtig Herr Kommissar. Sie! Der Schlächter ist eine Frau.“
Martens schaute Juckenack einen Moment ungläubig an. Er überlegte zu fragen, ob dies ein schlechter Scherz sein sollte. Entschied sich dann aber, dies auf die einfachste Weise heraus zu finden. Er griff nach dem Türdrücker und betrat den Nebenraum des Verhörzimmers 1. Er ging direkt zum Spiegel, und schaute in den Verhörraum. Was er dort sah, war tatsächlich eine Frau. Ein Mensch, der alledem widersprach, was er sich zum Aussehen des „Schlächters“ vorgestellt hatte. Diese dünne, fast schon abgemagert aussehende Frau saß dort auf einem Stuhl, ihre dünnen Arme von eisernen Handschellen umgeben. Die blonden Haare fielen ungekämmt über ihr Gesicht. Das einzige, wozu sie tatsächlich geeignet schien, war als Opfer für den „Schlächter“. Diese Frau soll in zwei Jahren 76 Menschen ermordet haben? Diese Frau soll Männer und Frauen kaltblütig ermordet haben?
Martens verzog ungläubig das Gesicht.
„Heute morgen, um kurz vor Acht stand diese Frau mit einem Mal in der Eingangshalle,“ unterbrach Juckenack die Gedanken des Kommissars.
Martens drehte sich um. Erst jetzt wurde er sich des anderen Polizisten in dem Raum bewusst. Er kannte den Kollegen irgendwo her. Er hatte ihn bestimmt schon öfter in der Zentrale gesehen, doch niemals wirklich wahrgenommen. Er war zum Protokoll und zur Bedienung der Verhöranlagen in dem Raum. Auch jetzt wollte Martens keine Zeit verstreichen lassen und verschwendete keinen Gedanke daran, den Mann zu begrüßen. Stattdessen richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf Juckenack, der weiter fort fuhr.
„Sie sagte, dass sie der Schlächter wäre, und das sie mit uns reden wolle.“
Martens drehte sich noch einmal zu der Frau um, die im Verhörzimmer saß.
„Die da?“ Martens verzog die Augenbrauen. „Was geschah dann?“
„Man wollte sie eigentlich schon wegschicken. Doch öffnete sie den Mantel den sie trug. Aus dem Mantel heraus fielen eine Reihe von Messern und Werkzeugen. Alle blutverschmiert. Es wurde sofort Alarm ausgelöst und die Sonderheiten sicherten sie. Daraufhin wurde wir gerufen. Wir haben sie dann vor wenigen Minuten hierher gebracht.“
„Woher wissen wir, dass sie nicht einfach verrückt ist, und unser eigentlicher Schlächter immer noch da draußen Menschen tötet?“
„Die Messer und Werkzeuge, die sie bei sich trug passten zu den Tatwaffen, mit denen die Opfer des „Schlächters“ ermordet wurden. Außerdem hatte sie in ihrer Manteltasche etwas, das keine Fragen mehr offen ließ.
Juckenack warf einen Blick zu dem anwesenden Polizisten rüber. Die Beiden schauten sich einen Moment an und nickten sich zu. Der Polizist griff sich ein paar weiße Handschuhe und in eine durchsichtige Plastiktüte, in der ein kleiner Camcorder enthalten war. Er holte den Camcorder aus der Tüte, klappte den kleinen Bildschirm an der linken Seite der Kamera auf und drückte auf Play. Martens trat einen Schritt auf den Polizisten zu, um zu sehen, was auf der Kamera zu sehen war. Das was sich unter leichtem Wackeln auf dem kleinen Bildschirm abzeichnete, brachte in Martens all die Tatortfotos in Erinnerung, die er die letzten Monate zu Gesicht bekommen hatte. Er hatte in seiner Karrriere eine Reihe von Schlachtfeldern gesehen, die gemeinhin als Tatort noch bezeichnet wurden, obwohl sie der Arbeitsfläche eines Schlachters viel näher kamen. Doch wie so ziemlich jeder andere Kollege auch, war er bisher nur Zeuge dessen geworden, was die Täter von ihren Opfern übrig ließen. Die eigentliche Tat blieb bisher nur seinem kombinatorischen Verstand und der Fantasie von Filmemachern überlassen. Das Video auf dem Camcorder änderte dies schlagartig. Man würde meinen, dass die Bilder, die Martens dort sah, ihn äußerlich völlig kalt ließen. Doch zu sehen, wie eine junge Frau langsam lebendig begraben wird, ihr Flehen nach Gnade und ihre Rufe nach Hilfe langsam erstickten, ließ auch bei ihm das blanke Entsetzen hinter seiner steinernen Fassade aufkommen.
„Ich erinnere mich noch genau an sie. Die Frau unter der Lilie. Opfer Nummer 45. 19 Jahre alt, noch nicht mal einen Führerschein gemacht.“
Martens holte tief Luft. Er vergrub sein Gesicht in seiner Hand. Während all der Ermittlungen zum „Schlächter“, hatte Martens bei der Suche nach den kleinsten Hinweisen, viel über die Opfer erfahren. Er las ihre Leben in ihren Biographien nach. Sah ihre Erlebnisse auf ihren letzten Fotos, und erfuhr alles über sie von ihren Kollegen, ihren Freunden, ihren Familien. Martens hörte wieder ihre Stimmen. Er hörte ihre Bitten, die die meisten mit vor Wut zitternder Stimme vortrugen, und die ihn anflehten, dem „Schlächter“ die gerechte Strafe zukommen zu lassen.
Martens schaute noch einmal auf den kleinen Bildschirm. Im Bild war nun die „Schlächterin“ zu sehen, wie sie mit eiskalter Miene die letzte Schippe Sand auf die junge Frau warf, und dann die Kamera mit ihrem Gesicht im Bild ganz nah auf den Boden richtete, um die letzten Atemzüge der Frau zu hören.
Martens winkte in einer schnellen Bewegung mit der Hand. Der Polizist mit dem Camcorder stellte auf Pause.
„Sind dort Aufnahmen von allen Opfern drauf?“
„So weit wir das bis hierher sagen können, ja. Es sind offenbar sogar Opfer drauf, die wir bisher noch gar nicht kannten, aber das ist noch nicht das wesentliche. Sie hat uns die Kamera nicht umsonst gegeben.“ Juckenack zögerte einen Moment.
„Worauf wollen sie hinaus, Juckenack?“
„Sie hat uns die Kamera gegeben um ihrem Vorschlag Nachdruck zu geben. Am Ende des Videos ist eine Aufnahme vom heutigen Morgen. Wir wissen das, weil sie die Nachrichten von heute Morgen mit aufgenommen hat. Auf dieser Aufnahme ist eine Frau zu sehen, mit einem schwarzen Sack über den Kopf gezogeen. Sie ist in einem schätzungsweise zwei Meter tiefem Loch und an schwere Gewichte gekettet. Das letzte, was man auf der Aufnahme sieht ist unsere Schlächterin, wie sie einen Gartenschlauch dort rein hält, das Wasser anstellt und dann geht.“
„Verdammt! Gibt es irgendwelche Hinweise in dem Video, wo sie ist, oder wer sie ist?“
„Nicht die geringsten, wir haben uns alles mehrfach angeschaut. Sie hat uns auch gesagt, dass sie ausgerechnet hat, dass die Frau in spätestens einer Stunde ertrinken würde, was bedeutet, dass uns jetzt nur noch 34 Minuten bleiben.“
„Was will sie? Hat sie eine Forderung gestellt?“
„Ja, das hat sie, Herr Kommissar. Sie hat nach ihnen verlangt. Nach ihnen persönlich, Kommissar Martens. Sie will sie sprechen, und nur ihnen sagen, wie es weitergehen soll.“
„Was für ein Wahnsinn. Wieso gerade ich? Wir haben keine Zeit darüber noch lange nach zu denken. Wenn wir ein weiteres Opfer verhindern wollen, dann müssen wir erstmal mitspielen. Ich werde mit ihr reden, während ihr versucht irgendwas auf diesem Video zu finden, was uns weiterhelfen könnte. Schaut es euch wieder und wieder an. Die Zeit läuft uns davon! Gibt es noch irgendwas, was ich wissen muss? Nicht? Dann geh ich jetzt rein!“
Der Kommissar zog sich sein Mantel aus und legte ihn über einen Bürostuhl. Er richtete sein Hemd und wischte sich die kleinen Schweißperlen, die sich auf seiner Stirn nach dem Video gebildet hatten, ab. Martens holte noch einmal tief Luft. Er suchte in sich die Ruhe und Stärke, die er jetzt brauchen würde. Dann öffnete er die Tür und schritt durch.
Für einen kurzen Moment blendete ihn das weiße Licht der Neonleuchten in dem Verhörzimmer, doch schenkte er diesem Umstand keine Aufmerksamkeit. Alles, was er in diesem Moment dachte, war so schnell wie möglich, die Informationen aus ihr herauszuholen, die sie bräuchten, um den Tod dieser Frau zu verhindern.
Martens setzte sich auf den Stuhl vor die Schlächterin. Ihr regungsloser Gesichtsausdruck ging mit einem Mal über in ein sanftes Lächeln. Martens ließ sich nichts anmerken.
„Hallo, wie geht es dir?“ eröffnete sie das Gespräch mit einer silberhellen Stimme.
Martens dachte, dass es wohl sehr oft diese sanfte Stimme, und ihr unscheinbares Äußeres gewesen sein muss, die ihre Opfer in Sicherheit und Menschlichkeit wiegen ließ, bevor sie von ihr ins verderben gestoßen wurden. Wer könnte denn ahnen, dass eine solche Frau in der Lage wäre, einen Menschen mit einem Fleischermesser zu zerschneiden und ihn in Form eines Puzzles über dessen Wohnung zu verteilen.
„Mir geht es gut, wie geht es dir?, antwortete Martens mit monotoner Stimme.
„Auch gut, ich bin dabei meine Reise zu beenden. In etwa 15 Minuten wird die Arbeit meines Lebens beendet sein.“
„Was wird in 15 Minuten passieren?“
„In 15 Minuten läuft für euch die Zeit ab, und die Frau wird qualvoll ersaufen!“
„Dann sollten wir keine Zeit verschwenden, oder nicht?“
„Da haben sie ganz recht, Kommissar Martens. Am besten schwafeln wir gar nicht lange drum herum und kommen gleich auf das, was ich will.“
„Das wäre mir natürlich am liebsten.“
„Das glaube ich gern, Kommissar Martens aber ich muss sie leider enttäuschen. Wir werden die 15 Minuten voll auskosten. Weshalb wir uns Schritt für Schritt vortasten müssen.“,
„Kommen sie schon. Wo ist die Frau. Sagen sie es uns und vielleicht kommen sie dann mit 2 oder 3 Jahren weniger davon.“
„Oh, so viel!“ Der Sarkasmus leuchte in jeder Silbe die sie sprach deutlich hervor.
„Erschrecke ich sie so sehr, Kommissar Martens, dass sie auf die einfachsten Tricks ihrer Grundausbildung zurückgreifen müssen. Ich habe genug Menschen umgebracht um zu wissen, dass ich nicht unter lebenslänglich bestraft werde. Wenn sie jetzt als nächstes versuchen, auf mein Mitleid anzusprechen, und mich so dazu zu bringen, ihnen zu sagen, wo die drei sind, dann habe ich wirklich keine Lust mehr. Kommen sie, sie können das besser.“
„Ich hatte nicht vor es über ihr Mitleid zu versuchen. Ich nehme nicht im geringsten an, dass ein Mensch, der so viele grausame Morde begannen hat, auch nur den kleinsten Schimmer Mitgefühl zeigen würde.“
„Ist das nicht ganz schön gefährlich, so harte Worte zu mir zu sagen? Ich könnte doch auf einmal aufhören zu reden, und die Frau würde einfach ertrinken.“
„Das wird ganz bestimmt nicht passieren. Sie sind zu uns gekommen, obwohl wir sie wahrscheinlich nie gefangen hätten. Sie haben nie auch nur eine brauchbare Spur hinterlassen. Was auch immer sie wollen, sie werden es uns erzählen. Was für eine Botschaft haben sie für uns?“
„Brillant kombiniert. Sie haben ganz recht Kommissar Martens. Ich bin hier, weil ich etwas zu sagen habe. Aber es ist keine Boltschaft. Nein, meine Motivation hat überhaupt nichts mit Gott oder dem Teufel, zu tun.“
Martens schaute auf seine Armbanduhr. Vier Minuten waren verstrichen.
„Also, was wollen sie?“
„Ich möchte, dass sie mir die richtige Frage stellen, Herr Kommissar. Die eine Frage, die der Schlüssel ist, zu allem Antworten. Warum ich getötet habe, warum ich ihnen die Chance gebe diese Frau zu retten, und was ich von ihnen will.“
Martens zögerte einen Moment. Sein Blick ging für eine kurze Sekunde auf die Uhr. Er erkannte, dass er sich beeilen musste.
„Warum?“
„Warum was?“
„Warum haben sie all diese Menschen getötet?“
„Leider falsch, Herr Kommissar. Aber sie waren so dicht dran, dass sie noch eine Chance von mir bekommen!“
„Wir haben keine Zeit dafür. Was wollen sie?“
„Doch, die haben wir. Wir haben noch genau 9 Minuten, in denen sie herausfinden dürfen, was ich will. Also, stellen sie die richtige Frage!“
Martens dachte mit aller Entschlossenheit nach. Er starrte ihr in ihre kalten Augen, die jetzt noch weiter aufgerissen waren und die richtige Frage forderten.
„Warum geben sie uns die Chance die Frau zu retten?“
„Das ist auch nicht die Frage. So langsam werde ich ungeduldig. Hören sie auf mir die Fragen zu stellen, die mir auch jeder andere stellen könnte!“
Mit einem Mal, traf es Martens, wie ein Lichtblitz. Die Frage war so eindeutig.
„Warum ich?“
Die Frau lächelte. „Nun kommen wir der Sache näher. Und was denken sie, Herr Kommissar, warum will ich gerade sie sprechen?“
„Die Frage ist leicht zu beantworten. Sie möchten mit mir sprechen, weil ich der Leiter der Sonderkommission bin, und jemand, der den Größenwahn besitzt, so viele Menschen umzubringen, wird natürlich mit niemand wenigerem als dem Anführer seiner Jäger sprechen wollen.“
„Kalt, ganz kalt. Und dabei warst du eben auf dem richtigen Weg. Du hast nur leider ein großes Problem, Harald, nämlich dass Du als Mensch, mit deiner Funktion verschmolzen ist. Du glaubst, dass dein Rang und dein Titel die Dinge sind, die dich definieren. Eine ziemlich störende Ansicht, hält sie dich doch davon ab, mir die Frage zu stellen, hinter deren Antwort du seit zwei Jahren her warst.“
„Du meinst die Frage: Wer ist die Schlächterin?“
„Ganz richtig. Und die Antwort auf die Frage ist, Leonie Herdt.“
Kommissar Martens zögerte einige Momente. Etwas kam ihm an dieser Sache nicht richtig vor. Ein ganz unerklärliches Gefühl kam in ihm hoch.
„Du überlegst jetzt, warum ich dir den Namen gesagt habe, oder? Er kommt dir irgendwie bekannt vor, aber du kannst es nicht erfassen. Habe ich recht?“
„Ja, das stimmt.“
„Lass mich dir ein wenig auf die Sprünge helfen: Wir geh'n jetzt nach hause und winken uns zu. Wir geh'n jetzt nach hause erst ich und dann du!“
Es war ein erschreckendes Gefühl für Kommissar Martens, diese Mörderin vor ihm ein Kinderlied singen zu hören.
„Was soll das?“
„Das war unser Lied, damals im Kindergarten in Lerchenfeld.“
Martens fühlte einen tiefen Sturz. Obwohl er sich keinen Zentimeter rührte, merkte er, dass er hier in etwas hinein stürzte, was alle seine Befürchtungen übertraf.
„Woher wissen sie das?“
„Das du im Kindergarten in Lerchenfeld warst? Genau aus dem gleichen Grund, weshalb ich weiß, dass du auch dort zur Grundschule und auf's Gymnasium gingst. Weil ich jedes Mal dabei war.“
Natürlich bewegten sich die felsenfesten Betonmauern des Verhörzimmers keinen Millimeter, doch Martens spürte, wie sie näher kamen und ihn einzuschließen drohten.
„Ich bin immer in deiner Nähe gewesen. Wir waren zusammen in der gleichen Gruppe, wir gingen in die gleiche Klasse auf der Grundschule, und ich ging mit dir auf's Gymnasium. Wir waren sogar beide in den gleichen Leistungskurse. Ich habe so oft versucht deine Aufmerksamkeit zu bekommen, aber ich schaffte es leider nicht, mich gegen deine Freunde durchzusetzen und deine Aufmerksamkeit zu bekommen.“
„Und dafür mussten jetzt all diese Menschen sterben. Ist es das, was du mir damit sagen willst? Weil ich damals Freunde hatte und du nicht, sollen alle diese Menschen leiden. Nur um dich an mir zu rächen, hast du diese Menschen ermordet?“
„Du verstehst mich ganz falsch. Ich habe dich nicht beneidet, oder gehasst. Ich habe dich geliebt. Und das tue ich auch heute noch genau wie früher. Ich hatte damals keine Chance auch nur auf irgendeine Weise von dir gesehen zu werden. Für dich kamen immer nur die hübschen Mädchen in Frage, mit Selbstbewusstsein und schönen Lippen. Du hast mich nie gesehen, nicht einmal auf Christian Semmelrings Geburtstagfeier in der 10ten Klasse. Dabei hatte ich so gehofft, du würdest sehen, dass ich mein blaues Top nur für dich gekauft hatte. Aber auch an dem Abend hattest du mich nicht gesehen.
Damals hätte ich dich fast geküsst...aber eben nur fast. Leider kam mir Jennifer Stiermann dazwischen, und nahm dich mir weg. Mir wurde klar, dass ich dich auf normalem Wege nicht bekommen kann. Ich hatte so vieles Versucht, um deine Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich bin in deine Sportverein eingetreten, bin zu den Spielen deine Lieblingsvereins gegangen und habe mich fast immer dort aufgehalten, wo du auch warst. Bis die Schule vorbei war, und du weit weggezogen bist. Ich hatte gehört, dass du zur Polizeischule gegangen bist, und nun Polizist warst. Aber trotzdem warst du weit von mir weg.
Vor zwei Jahren ergab sich dann eine unerwartete Chance für mich, als ich meinen Vermieter die Miete nachzahlen musste. Ich hatte damals gerade kein Geld, und wäre vielleicht auf der Straße gelandet, hätte er nicht die Idee gehabt, dass ich meine Schulden abarbeite. Zu meinem Glück, stand er auf Sado-Maso-Spielchen. Zu seinem Pech, fand ich so viel Spaß daran, ihn zu quälen, dass ich ihn mit einer Kette den Kopf abriss. Ich wollte ihn gar nicht töten. Ich hatte furchtbare Schuldgefühle, und große Angst, bis ich erkannte, dass wir uns auf diese Weise näher kommen könnten. Von da an, wurde es mit jedem Mord leichter, weil ich dir dadurch immer näher kam.“
Stille füllte den Raum.
„Und jetzt, ist es Zeit, dass ich dir sage, was ich von dir will.“
Martens schaute bei dem Stichwort „Zeit“ auf seine Uhr. Es waren nur noch drei Minuten, die Zeit waren, um die Frau zu retten.
„Ich will, dass du mich küsst!“
„Was?“ Martens konnte nicht glauben, was er dort hörte.
„Ich will das du mich küsst, mehr nicht. Ein einfacher Kuss von dir, und ich werde dir verraten wo ihr die Frau findet und was ihr tun müsst, um sie zu retten. Ein Kuss, für das Leben eines Menschen.“
„Du erwartest doch nicht wirklich, dass ich auf diesen Vorschlag eingehe. Lieber lass ich mir ins Gesicht kotzen, als einer kranken Psychopathin wie dich auch nur anzufassen.“
Die Schlächterin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und kratzte sich über den Arm.
„Ich bin enttäuscht von dir, ich hätte von dir mehr Flexibilität erwartet. Ich kann das natürlich verstehen, dass du nicht beim ersten Date gleich küssen möchtest, aber lass mich dich ein wenig Motivieren. Die Frau ihre Verwandten werden es bestimmt nicht verstehen, dass du nicht bereit gewesen bist, mich zu küssen, um sie vor dem Tod durch ertrinken zu retten.“
„Wirst du uns sagen, wo sie sind? Wirst du sie uns tatsächlich retten lassen?“
„Du hast noch 3 Minuten Zeit es heraus zu finden. Was wirst du machen?“
Martens war sich unschlüssig. Er krempelte die Ärmel hoch und wieder runter. Das erste Mal, seit seiner Ausbildung, sah er sich wieder in einer Situation, die ihn überforderte. Hilfe suchend blickte er zum Spiegel.
„Schau nicht zu deinen Kollegen hinter der Scheibe. Sag jetzt, ob du es macht oder nicht. Ihr Leben hängt von dir ab! Die Zeit läuft!“
„Ich mache es. Ok? Ok!“
Martens stellte sich vor sie. Er schloss die Augen und holte tief Luft. Seine Hände, die sonst eher kalt von seinem geringen Blutdruck waren, glühten jetzt, in diesem Moment, in dem sich alles so grotesk entwickelte, und umschlossen ihre Wangen. Langsam führte er ihr Gesicht zu seinen Lippen. Und während seine Lippen ihre berührten, streichelte er ihr sanft durchs Haar.
„Genau so, wie ich es mir vorgestellt habe,“ hauchte die Schlächterin leise über ihre Lippen.
Es vergingen einige Sekunden, bis sich beide wieder in dem Verhörzimmer mit ihren Gedanken eingefunden hatten.
„Ich gebe dir, was du willst. Die Adresse ist Am Hegen 38 in Grabau. Ihr müsst nach einer alten Scheune Ausschau halten. Das Dach ist aus Wellblech und ein Traktor ohne Vorderachse steht auf dem Platz vor der Tür.“
„Dann ist es das jetzt gewesen?“
„So ist es!“
Martens wischte sich über den Mund und spuckte der Schlächterin vor die Füße. Mit großen Schritten stürmte er durch die Tür des Verhörzimmers und gab zwei Polizisten den Befehl, sie in die dunkelste Zelle zu werfen.
Noch bevor er den Satz beendet hatte, stürmten die übrigen Sondereinheiten auf Juckenacks Order in ihre Autos, und ließen bei der Polizei in Grabau die Leitungen glühen.
Auch Martens und Juckenack setzten sich in ihr Auto, und folgten den Sondereinheiten nach Grabau, das nicht weit von der Stadt entfernt lag. Während die Polizei von Grabau schon wenigen nach dem Anruf in der Scheune eintraf, kamen Martens und Juckenack erst eine Stunde nach dem Verhör dort an. Genau wie die übrigen Polizisten vorher, wurden nun auch sie Zeugen der unausweichlichen Wahrheit, dass sie zu spät gekommen waren. Die Kollegen hatten die Leiche der Frau schon geborgen und fanden ebenso in einer Ecke eine Kamera, die den Todeskampf der Frau mit aufgezeichnet hatte. Als sie das Video noch in der Scheune sahen, erkannten sie, dass die Frau noch vor dem Ende von Martens Verhör ertrunken war.
Während Martens sich das Video ansah, überkam ihm der Gedanke, dass es etwas mit der Aufnahme, nein mit der Frau war, was ihn verwirrte. Etwas mit der Kette die sie trug. Martens stürmte an seinen Kollegen vorbei auf die Leiche zu, riss die Abdeckung von ihrem nassen Körper und erkannte die Kette wieder um den Hals seiner Frau.
In einer dunklen Ecke in einer der Zellen schaute ebenfalls eine zarte Frau mit einem Lächeln, finsterer als die Abgründe der Hölle auf ihre Uhr, die mit einem kleinen Pfeifen das Ende der Kinder und der Frau ankündigte. Sie stellte das Pfeifen ab, legte ihren Kopf nach hinten und ließ nur eine leise Melodie heraus: „I wanna be loved by you, just you! Dub dub bi du...“