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Luckassen
Luckassen
Ich stellte das Telefonbuch senkrecht auf den Schreibtisch, nahm den Brieföffner, hielt ihn wie einen Dolch über die Seiten und stach zu. An der getroffenen Stelle öffnete ich das Buch: Lore bis Lotu und auf der rechten Seite stand Lotz bis Ludw.
Der Würfel würde über links oder rechts entscheiden. Eine gerade Zahl stand für links, eine ungerade für rechts. Ich würfelte eine Drei. Nun stellte ich den Küchenwecker auf dreißig Sekunden, drehte meinen Kopf zur Seite, damit mein Finger unbeeinflusst über die rechte Seite fahren konnte. Ich hatte mir angewöhnt, mit dem Finger eine Spirale zu zeichnen, von außen nach innen, vom Großen zum Kleinen.
Rrrrrrrrr. Stopp. Mein Finger blieb bei Joachim Luckassen stehen. Was für ein Glück, was für ein gutes Zeichen, auf Anhieb einen Mann erwischt zu haben.
Eine stämmige Rothaarige öffnete die Wohnungstür. „Ja?“
„Hi“, sagte ich und legte eine große Portion Begeisterung in meine Stimme. „Jutta? Du musst Jutta sein. Ich bins, Melanie.“
„Hä? Welche Jutta? Hier wohnt keine Jutta.“
„Ach? Dann wohnt die hier nicht mehr? Die war aber doch mit Joachim befreundet.“
Sie öffnete ihren Mund, ich sah den Kaugummi auf ihrer Zunge liegen und wettete mit mir selbst, dass sie ihn innerhalb der nächsten Minute verschlucken würde.
„Du, ich wollte dich nicht stören oder belästigen. Ich finde schon noch heraus, wo Jutta jetzt wohnt. Schönen Tag noch.“ Ich lächelte sie an und tat so, als wollte ich gehen.
„He, wart mal, nicht so schnell. Also diese Jutta …“
„Ja?“
„Die war mit dem Joachim zusammen? So richtig?“ Mit der Frage ging sie einen Schritt auf mich zu.
„Hm.“ Ich ging aufs Ganze und nickte. „Sie war auch rothaarig und war seine … seine große Liebe.“
Die Rothaarige verschluckte sich am Kaugummi. Ein Hustenanfall wollte das Ding wieder in ihren Mund befördern. Ich gab ihr einen vorsichtigen Klaps auf den Rücken. Als der nicht half, schlug ich kräftig zu. Das Geräusch verlor sich als Echo im Treppenhaus. Ich mag dieses Geräusch. Und ich liebe es, wenn ich gewinne.
„Tut mir Leid“, sagte ich, „geht es jetzt besser?“
Sie legte ihren Kopf schief, ihre blauen Augen waren auf die Wand gerichtet, als stünde dort die Antwort.
„Also ich muss jetzt gehen, entschuldige noch mal die Störung.“
„Nein, nein … warte, wenn du vielleicht etwas Zeit hättest, vielleicht auf einen Kaffee?“
„Also ich will dich wirklich nicht aufhalten, oder Joachim. Ist er eigentlich zu Hause?“
„Joachim? Nein, nein, der ist auf Montage, der kommt erst Freitag wieder. Komm doch rein.“
„Mir ist das aber unangenehm, so einfach bei dir reinzuplatzen.“
„Nun komm schon“, sagte sie und zog mich in die Wohnung.
Die Küche Küche zu nennen, war eigentlich eine Beleidigung. Dieser Saustall hier verdiente die Bezeichnung Sammellager für Essensreste aller Art. Wir saßen an einem kleinen, runden Tisch ohne Tischdecke. Wie unter Zwang starrte ich die Krümel und Essensbrocken an, die die Rothaarige nicht zu stören schienen.
Auf einer Arbeitsplatte gluckerte die Kaffeemaschine und spuckte den Wasserdampf in röchelnden Geräuschen aus.
Die Rothaarige stellte zwei Becher auf den Tisch. „Ich heiße übrigens Dagmar. Milch? Zucker?“
„Danke, ich trinke ihn schwarz.“
„Sag mal, blöde Frage ich weiß, aber warum ziehst du die Handschuhe nicht aus?“
Mir war klar, dass die Frage kommen musste. „Psoriasis.“
„Was für ein Ding?“
„Psoriasis, Schuppenflechte. Im Winter ist das besonders schlimm. Keine Angst, das ist nicht ansteckend, nur, nun ja, mir ist das peinlich, wenn man auf meine fleckige Haut schaut.“
„Ach so. Also mich stört das nicht.“
„Lieb von dir, aber ich fühle mich wohler, wenn ich die Handschuhe anbehalten kann.“
„Kein Problem. Melanie? War doch richtig, dein Name?“
Ich nickte.
„Also wegen Joachim und Jutta …“ Nervös nippte Dagmar an ihrem Kaffee. „Wie lange ist das her, dass du beide zusammen gesehen hast?“
„Schon eine Weile, ich schätze mal drei, vier Jahre.“
„Was?“ Sie stellte ihren Becher brutal ab und schon war der Tischdreck in flüssiger Gesellschaft. „Ich bin seit vier Jahren mit ihm zusammen!“
„Vielleicht habe ich mich auch verschätzt und es ist fünf Jahre her.“
„Nein!“, rief Dagmar und stand auf. „Nein! Ich wusste es, dieser Scheißkerl betrügt mich."
„O Gott, was habe ich getan? Beruhige dich, Dagmar. Vielleicht ist das alles nur ein Missverständnis.“ Ich unterdrückte ein Grinsen. Ach, ich liebe es, wenn ich gewinne.
„Niemals! Meinst du mir wäre nicht aufgefallen, dass Joachim in letzter Zeit sehr oft auf Montage ist? Und immer zu müde ist für Sex?“
Ich unterbrach Dagmar nicht, ließ sie hin und her laufen.
„Und weißt du, was mir noch auffiel?“
Ich schüttelte meinen Kopf.
„Er bringt immer weniger Geld nach Hause. Sagte, dass die Firma nicht mehr so viel zahlt. Ja, ja, von wegen. Wahrscheinlich macht er seiner Jutta teure Geschenke und ich darf hier seinen Dreck wegmachen.“ Ihr Gesicht war rot vor Zorn.
„Vielleicht sind sie ja nicht mehr zusammen.“
Dagmar hielt inne, kaute an ihren Fingernägeln und sah mich an. „Meinst du? Also gestern, als er mich anrief, sagte er noch wie sehr er mich liebt.“ Hoffnung machte ihre Augen glänzend.
„Wenn er das gesagt hat …“
„Aber das könnte auch gelogen sein. Schließlich hat er mir auch nie von einer Jutta erzählt.“
„So sind die Männer. Niemals erzählen sie einem von ihrer großen Liebe.“
Das saß. Dagmar war sprachlos, aber hinter ihrer Stirn arbeitete es. Sie ging zum Kühlschrank und angelte zwei Bierdosen heraus, eine stellte sie neben meinem Kaffeebecher ab. „Ist ja schon kalter Kaffee, magst´n Bier?“
Ich sah zum Fenster, hörte, wie Dagmar ihre Dose öffnete und mit lauten Schlucken trank. Vor meinem geistigen Auge stellte ich mir vor, wie das Bier ihre Speiseröhre hinunter lief.
„Scheißkerlscheißkerlscheißkerl!“
Ich schob ihr meine Dose hin. „Ich darf nicht, du weißt schon, wegen der Schuppenflechte.“
„Was soll ich tun? Was würdest du an meiner Stelle tun?“
„Frag ihn! Frag Joachim, ob er Jutta kennt. Wenn er das abstreitet, weißt du Bescheid.“
Ihr Gesicht verzog sich, ihre Unterlippe zitterte. Plötzlich fing sie an zu heulen. „Als ob er das zugeben würde. Jetzt ist alles aus. Vorbei.“
„Sieh nicht alles so Schwarz, noch ist nicht alles verloren.“ Ich tätschelte ihren Arm, peinlich darauf bedacht, den Tischdreck nicht zu berühren.
„Weißt du was, Melanie? Ich bin so froh, dass du da bist. Ich würde es nicht aushalten, jetzt allein zu sein.“ Dankbar sah sie mich aus verquollenen Augen an.
„Mir tut es so Leid, ehrlich. Wenn ich gewusst hätte … Ich meine, ich hätte niemals nach Jutta gefragt.“
„Es ist gut so. Endlich weiß ich Bescheid. Ich sollte dir dankbar sein.“
„Schon gut, Dagmar.“
Sie wischte mit ihrem Arm über die Nase, den Tränen ließ sie aber weiterhin freien Lauf. „Ich werde seine Sachen packen und ihm die Tasche vor die Tür stellen.“
Und ich schärfte mir ein, ihren linken Arm nicht mehr anzufassen. „Dagmar, vielleicht solltest du ihm noch eine Chance geben. Er muss sich doch verteidigen dürfen.“
„Damit er mich weiterhin anlügt?“, schrie sie und spuckte mir ihren Bierspeichel ins Gesicht. „Schluss! Mit der Lügerei ist nun Schluss! Ich lasse mir das nicht mehr gefallen. Ich bin doch nicht die Blöde vom Dienst!“
„Gut so. Lass dir nichts gefallen“, gab ich ihr Recht, „aber, du solltest ihm noch eine Nachricht schreiben.“
Wieder arbeitete es hinter Dagmars Stirn, die Gedanken schienen sie anzutreiben, sie wusste nicht mehr wohin mit ihren Händen. Ich drückte ihr meine volle Bierdose hinein.
Auf dem Tisch standen zehn leere Dosen und eine halb geleerte Flasche Martini. Die Dosen türmte ich zu einer Pyramide. Vier Dosen bildeten die Basis, drei bildeten das erste Stockwerk, zwei das Zweite und die letzte war die Spitze.
Dagmar fand das lustig, ihr Lachen hörte sich wie Schulmädchengackern an. „Du bist echt in Ordnung, weißt du was, warum schläfst du heute Nacht nicht hier?“
„Ja, warum nicht.“ Ohne hinzusehen, stieß ich die Pyramidenspitze mit dem Zeigefinger an, sie fiel auf den Boden und rollte weiter. Ich wettete mit mir, dass die Barcode-Striche zu sehen wären, dann zählte ich bis Zehn und sah hin: Barcode.
Ich liebe es, wenn ich gewinne.
„Du solltest jetzt den Brief schreiben“, sagte ich.
„Hihi.“ Torkelnd stand Dagmar auf, hielt sich am Tischrand fest, und ich ärgerte mich darüber, dass die Pyramide wackelte. Eine Dose kippte um und rollte bis zum Tischrand.
„Hier irgendwo - muss doch Papier sein“, lallte Dagmar.
„Ich hole mir auch ein Glas“, sagte ich.
Zwei Martinis später schob mir Dagmar den Zettel hin:
Schwein! Ich weiß alles von dir und Jutta. Scheißkerl! Wie konntest du mich nur so hintergehen? Es ist aus! Ende. Für immer!
„Sehr gut“, sagte ich, „du solltest unten noch unterschreiben, das sieht besser aus. Und vergiss das Datum nicht.“
Während Dagmar alle Konzentration auf ihre Schreibfinger legte, ging ich in ihr Badezimmer und durchsuchte es nach Schlaftabletten. Auch hier gewann ich. Den Preis kippte ich in mein unberührtes Martini-Glas. Das Gemisch rührte ich mit einer Zahnbürste um. Dann ließ ich zum Schein das Wasser laufen und sah in den Spiegel. Eine blonde Strähne lugte unter der braunen Haarpracht hervor, ich versteckte sie wieder.
„Ich muss mal.“
„Ich bin fertig“, rief ich und machte Platz für Dagmar.
Ich wartete bis sie die Tür hinter mir schloss, ging in die Küche und tauschte die Gläser aus.
Ein Blick auf meine Armbanduhr. Nicht schlecht, es war kurz vor 21:00 Uhr. Eine ungerade Zahl.
„Mann bin ich blau“, kicherte Dagmar beim Hereinkommen.
„Setz dich“, sagte ich und lächelte sie an.
„Du bist meine beste Freundin. Meine allerallerbeste“, nuschelte sie und ihre Finger umklammerten das Martini-Glas.
„Ja, du auch.“
Glücklich stürzte sie den Martini hinunter. Ich musste nur noch warten, und während ich wartete, nahm ich das Geschirrhandtuch, das über der Heizung lag. Mit dem Tuch ergriff ich die Dose vom Tischrand und drückte sie in der Mitte zusammen, knickte sie, bis sich an den Seiten scharfe Kanten bildeten.
Als Dagmars Hihi in ein Schnarchen überging, stupste ich sie an. Keine Reaktion.
Ich schob den Ärmel ihres rechten Arms hoch und setzte die Dose auf die Innenseite ihres Handgelenks. Ich achtete darauf, dass das Tuch ihren Arm bedeckte.
Mit der scharfen Kante schnitt ich ihre Pulsadern auf, dann drückte ich die Dose in ihre andere Hand.
Im Treppenhaus zählte ich die Stufen auf dem Weg nach unten, als bei Vierundzwanzig plötzlich eine Tür aufging. Gerade. Das war nicht so gut.
„Hallo? Frollein!“
„Ja, bitte?“
„Was war denn da oben los, bei Luckassens?“ Die alte Frau sah mich neugierig an.
Ich las ihren Namen von der Klingel ab. Elisabeth Schröder.
„Sind Sie Frau Schröder? Frau Elisabeth Schröder?“
Irritiert sah sie mich an. „Ja, die bin ich.“
„Na welch ein Glück, zu Ihnen wollte ich gerade.“
„Ja aber warum denn?“
„Ich bin Privatermittlerin, ich muss Sie dringend wegen Herrn Joachim Luckassen vernehmen.“
„Um Gottes Willen, was ist denn bloß passiert?“
„Beruhigen Sie sich. Es handelt sich hier um Routinefragen.“
„Ja hat er denn …“, sie fasste sich an die linke Brust, „hat er denn was angestellt?“
„Müssen wir das hier im Hausflur besprechen?“
„Entschuldigen Sie, kommen Sie doch herein.“
Ich liebe es, wenn ich gewinne.