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Lucy

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12.07.2003
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Lucy

Lucy

Sonntags, früh am Morgen geht Mathi meistens spazieren. Er schaut sich gerne irgendwelche Sachen in den Schaufenster an, auch wenn er selten etwas kauft. Er hat über Jahre immer die gleichen Klamotten an. Mathi ist nicht geizig. Er mag es einfach so.

An einem Sonntag war er am Alex. Ein riesiger Platz. Hier ein Hochhaus, dort ein Flachbau, alles richtig hässlich. Keine Urbanität. Null. „Mein Gott!“ sagt er, „was ist das für eine Scheiße!“ Er kommt sich in der Leere und vor den sehr hohen Punkt-Hochhäusern, wie eine Ameise vor. Der Platz ist wirklich sehr groß. Außer ein paar Obdachlosen ist niemand zu sehen. Aber es gibt eine Menge Schaufenster. Das freut ihn.

Mathi schaut sich alles sehr detailliert und in Ruhe an. Vor einem Schaufenster einer kleinen Boutique bleibt er etwas länger stehen als sonst. Er betrachtet drei Schaufensterpuppen. Besonders die, in der Mitte. Sie hat eine weiße Schlaghose und eine Pulli an, die mit Blümchen schön dekoriert ist. Sie gefällt ihm sehr. Er sieht sich die Puppe aus nächster Nähe von unten bis oben etwas genauer an. Sie sieht fast wie echt aus. Plötzlich sagt er: „Huch! Was war das?“ Die Puppe zwinkert ihm die Augenlider. „Fata morgana“ denkt er und will weiter gehen. Nach ein paar Schritten, schaut er instinktiv zurück. „Nein!“ sagt er. Das kann wirklich nicht sein. Die Puppe hat ihn angelächelt. Er denkt; „Ne! Das ist wirklich nicht wahr!“ und geht weiter. Er ist etwas nervös und schaut aus Neugierde noch mal zurück. Sie macht ihm Winky-Winky. Er ist perplex. Verworren. Verschlungen.

Er geht zu ihr. „Lucy“ sagt sie. „Lucy?“ meint Mathi. Er kann es nicht fassen. „Ja!“ sagt sie. „Die Leuchtende.“ „Wow“ sagt er. Ich rede mit einer Puppe. „Und?“ sagt Lucy. „Schämst du dich?“ „Nein! Nein! Es ist nur...“
„Ja. Ich verstehe. Die Leute würden dich für verrückt halten... nicht wahr?“
„Na Ja! Es ist so... redest du wirklich mit mir oder bilde ich mir das nur ein...“
„Was glaubst du?“

Mathi ist voll durcheinander. Er entschuldigt sich bei ihr und will schnell nach Hause. Vorher schaut er sich sämtlichen Puppen in der Gegend an und schaut ihnen voll in die Augen. Nein! Niemand rührt sich. Kein zwinkern! Kein lächeln! Kein Winky-Winky. Er geht nach Hause und glaubt, er ist vielleicht krank.

Die ganze Nacht denkt er nur noch an sie. Er kann nicht schlafen. Auf der Arbeit traut er sich niemandem etwas zu erzählen. „Wer glaubt an so was“ denkt er. „Sie werden mich alle für verrückt halten.“ Er lässt es lieber sein.

Nach dem Feierabend möchte er zunächst zu einem Psychologen gehen, aber dann geht er doch zu ihr. „Mal sehen was heute passiert.“ Sagt er. „Vielleicht war das ja nur gestern.“

Als er ankommt sieht er die Puppe von weitem schon winken und lächeln. Es fehlt nur noch Tanzen, wenn ihre Füße frei wären. Sie freut sich wahnsinnig. Es ist Montagabend. Die Geschäfte haben bis 20:00 h auf. Es ist 18:00 h und die Strasse ist voll mit Menschen. Er vergisst alles um sich herum. Er macht die Arme auf und rennt zu Lucy. „Hey Lucy!“ sagt er. „Alles klar?“
„Yep. Und selbst?“
„Auch okay.“

Sie unterhalten sich über alles mögliche. Einige Passanten zeigen ihm den Vogel. Die anderen Lachen und gehen an ihm vorbei. Mathi interessiert sich nur für Lucy. Alles andere hat er längst vergessen. Lucy hat ihm schon am Anfang gesagt: „Wir sollten vorsichtig sein. Die Leute im Laden könnten uns Probleme machen.“

Als Mathi nach Hause kommt, stellt er fest, dass er sehr glücklich ist. Obwohl er 26 ist, war er noch nie mit einer Frau zusammen. Schon als Kind hat er Schaufensterpuppen sehr gemocht. Aber diese hier ist was ganz anderes. „Sie ist ja keine Puppe.“ denkt er. „Sie kann sprechen, lächeln, winken etc. Nur essen und trinken kann sie nicht. „Na und?“ sagt er zu sich. „Das ist ja gerade das schöne. Sie ist ein Wunder.“

Nach der Arbeit besucht Mathi jeden Tag die Lucy. Manchmal macht er dort bei der Kälte die Nächte durch. Die Polizei lässt ihn nicht in Ruhe. Wenn sie kommen, muss er sich verstecken und er kommt wieder, wenn sie weg sind. Das ist sehr anstrengend. Tagsüber gibt es Probleme mit der Geschäftsführung. Er war öfters im Laden, hat die Hand von Lucy gehalten und sich über Stunden mit ihr unterhalten. Am Anfang haben die VerkäuferInen ihn geduldet, aber irgendwann kam die Geschäftsführung und meinte: „Bitte verlassen Sie den Laden, aber sofort!“

Er hat zwei Mal versucht Lucy zu kaufen. „Nein!“ Meinte die Geschäftsführung. „Sie ist nicht verkäuflich!“ Sie gab ihm eine Adresse, wo er sich eine Puppe kaufen könnte. Beim zweiten Mal hat er ihr die Wahrheit gesagt. Sie haben ihn als „pervers“ bezeichnet und erteilten ihm Hausverbot.

Mathi wusste nicht mehr, was er machen sollte. Außer Sian verstand ihn niemand.

Sian war früher Glaser. Seine Firma meldet Konkurs und er wird Arbeitslos. Er hatte eine Familie mit zwei Kindern. Die Kinder waren noch klein. Darum konnte seine Frau nicht arbeiten. Er findet über Jahre hinweg keinen Job, wird frustriert und fängt an zu trinken bis er süchtig wird. Sian verliert alles. Seit dem lebt er auf der Strasse. Sian ist sehr allein. Nein! Er hat um sich herum eine Menge Freunde oder Leute mit denen er sich unterhält, aber niemand sieht diese. Nur er kann sie sehen. Seine merkwürdigen Handbewegungen, schreierein, lachen oder weinen können die Leute nicht verstehen, weil er doch immer allein ist.

Sian lernt Mathi auf dem Alex vor der Butique kennen. Er versteht Mathi sehr gut, auch wenn er die Puppe nie sprechen hört, geschweige denn, zwinkern, lächeln oder winken. Sie sind fett befreundet.

Mathi ist verzweifelt. „Weißt du was Sian? Ich muss Lucy entführen. Das kann nicht so weiter gehen.“ Sian schaut auf dem Boden und sagt: „Und wie willst du das machen? Die Schaufenster sind alle gepanzert und haben eine Alarmanlage. Die Polizei wird sehr schnell hier sein. Weißt du wo die Wache ist?“

Sian kennt sich in der Gegend sehr gut aus. Er lebt seit einigen Jahren hier. Alex ist sein Revier. „Es ist mir egal.“ Sagt Mathi. „Ich muss Lucy da raus holen.“ Sian schüttelt den Kopf und meint: „Das wird nicht einfach sein, Mathi!“

Mathi ist fest entschlossen. Er hat sich noch nie mit einer Frau so gut verstanden, wie Lucy. Sie war die einzige Frau, deren Hand er gehalten hat. Für die anderen mag sie nur eine Puppe sein, aber für ihn ist sie die Frau seines Lebens. Es ist ihm gleichgültig, ob die anderen ihn verstehen oder nicht. Lucy muss raus.

Sian und Mathi gehen am nächsten Tag einkaufen. Mathi hat genug Geld. Sian kennt sich mit dem Glas sehr gut aus. Sie kaufen zwei Vakuum-Glashalter und einen Glasschneider und planen alles bis ins Detail, als würden sie einen Diamanten-Laden überfallen.

In der Nacht zu Sonntag ist es am Alex sehr ruhig. Außer ein paar Obdachlosen ist selten jemand da. Um drei Uhr nachts in drei Minuten soll Lucy entführt werden. Sian steht an der Ecke. Falls die Polizei kommt soll er laut pfeifen. Mathi muss alles, wie geplant in drei Minuten erledigen, mehr Zeit hat er nicht. Sobald er die Glasscheibe angefasst hat, geht die Alarmanlage los. Die Polizei ist spätestens in drei Minuten vor Ort.

Es ist soweit. Sian steht mit einer Flasche Wodka an der Ecke. Mathi klebt blitzschnell die Markierung auf die Scheibe. Lucy ist ganz ruhig. Zunächst muss er die Scheibe bohren. Die Alarmanlage ist aktiviert. Er fängt an zu schneiden. Mathi ist gerade dabei Lucy rauszuholen. Sian pfeift so laut wie er kann. Mathi hat Lucy unter seinem Arm. Er rennt los, so schnell wie er kann. Zum Glück ist Lucy nicht so schwer. Mathi läuft sehr schnell in großem Tempo. „Halt!“ Schreit eine Stimme „oder ich schieße!“ Mathi hört nichts und rennt auf dem Bürgersteig wie verrückt gerade aus. „PENG!“ Er wird am Bein erwischt und fällt mit dem Kopf auf einem großen Blumenkübel aus Waschbeton. Sian hat alles gesehen. „Ruf einen Krankenwagen!“ meint ein Bulle. „Er ist tot“ meint der andere. Dicke Tränen fließen aus den Augen von Sian über sein Gesicht. Er konnte nichts machen. Wütend knallt er die Wodkaflasche voll auf die Strasse und verflucht Gott und alles. Er hat keine Freunde mehr. Weder jenseits noch diesseits.

Lucy liegt flach neben Mathi und ihr Kopf rollt auf der Strasse und wird von einem Auto überfahren. Sian kann sich das alles nicht mehr ansehen. Er wechselt sofort seinen Ort auf der Stelle.

Drei Tage lang ist Sian sehr deprimiert. Er verflucht immer wieder sämtliche Götter des Universums. „Das kann nicht sein“ sagt er. „Nein! Nein! Nein! Das ist nicht wahr!“ Schreit er sehr laut auf der Strasse und überall. Mathi war der einzige, der ihn diesseits verstanden hat. Er war sein bester und einziger Freund. Und wo sind die im Jenseits? Alle sind plötzlich verschwunden. Jetzt ist er wirklich allein.

Nach drei Tagen geht er zu der Boutique und will eine Flasche Wodka an die Scheibe werfen. Er ist voller Hass und denkt jetzt muss er sich an die rächen. Außer Alkohol hat er nichts. Und auf ein mal sieht er sie. Mathi und Lucy stehen im Schaufenster und schauen sich in die Augen. In Hochzeitskleider, wohl gemerkt. Sian kann es einfach nicht glauben.


AL**

 

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