Luftloch
Auf meiner letzten Dienstreise begegnete mir jemand, der mir wohl für einige Zeit in Erinnerung bleiben wird. Ich saß in der Maschine von Sydney nach Frankfurt, ein überdurchschnittlich langer Flug. Das Fliegen hatte für mich schon nach der ersten Flugstunde vor ein paar Jahren allen Reiz verloren. Ich hatte mir sicherheitshalber interessante Lektüre mitgenommen und hoffte auf einen anständigen Film.
Das war dann auch das Erste was ich tat, ein Blick in das Kinoprogramm. Begeistert war ich nicht gerade, aber wenigsten hatte ich diesen Müll noch nicht gesehen. Das Flugzeug füllte sich langsam. Das übliche Geschrei von Kindern und Erwachsenen um gewisse Plätze sollte auch diesmal nicht fehlen.
Ein Platz neben mir war noch frei und insgeheim machte ich mir Hoffnungen, dass er auch frei bleiben würde. Ein Blick aus dem verschmiertem Fenster. Ein für mich unerklärliches Treiben spielte sich dort unten ab. Wie schafften die es immer wieder, ohne Fehler die ganze technische Organisation durchzuführen. Plötzlich spürte ich neben mir jemanden in den Sitz fallen.
Schade, dachte ich, jetzt wird’s eng. Ich schaute mich nicht um. Bloß kein Aufsehen erregen. Die unangenehmen Ausdünstungen meines Nachbarn veranlassten mich weiterhin auf die grauen Platten des Flughafengebäudes zu starren.
Nach einer Weile drehte ich dann doch meinen Kopf langsam zu meinem neuem Nachbarn. Ich konnte es nicht glauben. Er war nicht gerade ansehnlich. Dreckiges Hemd und Hose. Ein unangenehmer Geruch schwebte wie eine Wolke um ihn herum. Du musst dich woanders hinsetzten, dachte ich mir im Stillen. Neben dem Dreckskerl hältst du es keine zehn Minuten aus. Mir wurde mein feiner Nadelstreifenanzug zu eng. Ich bekam Platzangst. Ich löste meine Krawatte etwas. Vielleicht sollten wir den Platz tauschen. Am Gang konnte ich wenigstens jederzeit aufstehen ohne jedes Mal eine neue Duftwolke bei ihm aufzuwirbeln. Ich wollte gerade etwas sagen, da wurden wir aufgefordert uns anzuschnallen. Mist, na ja, warten wir eben bis nach dem Start.
„Wo wollen sie denn hin ?“, wagte er zu fragen.
Du Idiot, was geht dich das eigentlich an. Wasch dich erst einmal.
„Frankfurt."
„Sie sind sicher auf einer Geschäftsreise ?“, fragte er mit einem freundlichen Lächeln.
„Doch, das kann man wohl sagen, und sie ?“, setzte ich aus reiner Freundlichkeit hinzu. Eigentlich interessierte mich das soviel wie der Reisanbau in Hinterindien. Was soll’s, er kann es ja nicht lassen, so dumm wie der ist.
„Ich reise. Wie gefällt ihnen Sydney ?“
Nun lass mich doch endlich in Ruhe. Hätte ich doch bloß nicht gefragt. Was denkt er eigentlich wer er ist. Seine Zähne waren auch nicht mehr die besten. Gelb. Komischerweise war sein Blick klar. Seine Augen strahlten eine gewisse Unschuld aus. Diese trat sehr in Kontrast zu seinem restlichen Erscheinungsbild . Wenn er lachte, schien er aus ganzem Herzen zu lachen, sein ganzes Gesicht war dabei in Bewegung, von den Mundwinkel bis zu seinen Ohren.
„Zu groß. Ich komme aus einem kleinem Dorf. Städte wirken eher abschreckend auf mich. Aber mir gefällt das Land recht gut“, sagte ich in einem quälenden Ton. Mein Blick haftete auf seinen Händen. Zu klein. Der hat noch nie in seinem Leben gearbeitet. Sie waren außerdem zu sauber.
„Von wo kommen sie denn ?“, wollte er wissen. Das fehlte noch. Jetzt spionierte er mich auch noch aus.
„Altenburg, zwischen München und Rosenheim.“ Während ich ihm widerwillig antwortete, beugte ich mich vor, um meine Zeitung aus meiner Aktentasche herauszuziehen. Hoffentlich merkte er es.
Ich wurde immer unfreundlicher. Aber er ließ sich nicht im geringsten davon abhalten weiterzufragen. Das machte mich stutzig. In gewissem Maße beneidete ich ihn sogar. Trotz meiner unfreundlichen Art wandte er sich nicht von mir ab.
Die Maschine vibrierte, als der Pilot Gas gab. Mein Nachbar hatte seine ermüdende Fragerei unterbrochen. Die Landschaft huschte immer schneller draußen vorbei, bis sie nur noch ein grünes Band war. Ich ließ meine Termine, die ich in den letzten Tagen gehabt hatte, an mir vorübergleiten und überlegte hin und her. Erfolgreich oder nicht, meine Gedanken drehten sich im Kreis, schneller und schneller. Ein Ruck. Wir waren in der Luft. Das Fahrwerk summte.
Straßen, Autos und Häuser wurden kleiner und unbedeutender. Eine kurze Flucht aus der bedrückenden Realität. Vielleicht war das ja der Reiz des Fliegens. Die Überwindung der Schwerkraft und gleichzeitig der Probleme die unsere Gesellschaft heute mit sich bringt. Man schwebt sozusagen über den Dingen. Wer kann mir da noch etwas anhaben. Hier über den Wolken, eine kleine heile Welt für ein paar Stunden! Ich lächelte innerlich über meine unbedeutenden Einsichten in das Leben.
Meine Zeitschrift in der Hand, blätterte ich zur ersten Seite. Die Titelstory war leicht verdauliche Kost. Genau richtig. Kaum hatte ich den ersten Abschnitt gelesen, meldete sich mein Nachbar wieder zu Wort. Mein Gott, kann man denn nicht mal mehr in Ruhe lesen ? Sollte ich nicht doch noch den Platz wechseln?
„Wenn es sie nicht stört ..... was sind sie von Beruf ?“
„Ingenieur.“
„Haben sie eine Familie ?“ Ein Luftloch ließ mich kurz schlucken.
Langsam ging mir das zu weit. Mein anerzogener Anstand war nur bedingt strapazierfähig.
„Ja, aber wieso interessiert sie das alles. Mein Privatleben ist mein Privatleben“, raunte ich ihn an.
„Da haben sie recht. Es tut mir leid. Ich dachte nur. Hätte ich eine Familie, würde ich gern über sie erzählen. Ich hoffe ich bin ihnen nicht zu nahe getreten.“
Kommentarlos glotzte ich aus dem Fenster, obwohl es inzwischen rabenschwarz draußen war. Familie. Ich ließ das Wort auf meiner Zunge zergehen. Wieso eigentlich nicht ?
In den letzten paar Jahren hatten wir zwei uns zwar ziemlich auseinandergelebt, aber die drei, David, Gerd und Anne, ließen den Gedanken der Scheidung gar nicht erst aufkommen. Vielleicht ist die Ehe auch ein bisschen zur Zweckehe geworden .... aber gibt es schon eine perfekte Ehe ?
Meine Zeitschrift fiel mir fast aus der Hand, ich hatte sie ganz vergessen. Ich fing wieder an zu lesen, ohne etwas zu verstehen. Meine Gedanken waren nicht bei der Sache. Was war nur in mich gefahren ? Die Geräusche und Stimmen um mich herum wurden zu einem undeutlichen Stimmengewirr. Ich fühlte mich wie in einem Vakuum. Ereignisse, wichtig und unwichtig aus meinem Leben rasten an mir vorbei. Das Gefühl, dass ich in einem endlosen Korridor um mein Leben rannte, ließ mich nicht los. Unendliche Einsamkeit überkam mich. Ich blieb stehen. Mein Blick zurück entlang meiner Lebensstraße jagte mir Angst ein. Wie viele Scherbenhäufen hatte ich hinterlassen. Wie viele Menschen und ihre Gefühle hatten mich kalt gelassen. Ich fing an zu frieren, meine warme Kleidung löste sich auf. Ich sah mein Spiegelbild. Ein hässlicher, alter, dünner Mann. Ein eingefallenes Gesicht, leere Augenhöhlen, gelbe Haut und knochige Hände, die nach etwas zu greifen suchten, das nicht existierte. Erschöpft setzte ich mich in eine Ecke. Ich fing an zu schluchzen, aber es kamen keine Tränen. Wann hatte ich das letzte Mal geweint ? Irgendetwas fraß mich von Innen her auf.
Jemand kam auf mich zu. Ich wusste wer es war, bevor ich ihn richtig erkannte. Der Mann aus dem Flugzeug. Mir wurde es plötzlich wärmer. Er streckte seine Hände aus und bat mich mit ihm zu kommen. Er führte mich vorbei an den Stationen meines Lebens. Oft hatte ich das Bedürfnis in Ereignisse einzugreifen. Ich spürte mein Machtlosigkeit, die notgedrungen zur Hilflosigkeit wurde. Enttäuscht von den Bildern meiner Vergangenheit hätte ich mich am liebsten in Luft aufgelöst. Schmerz durchdrang mich, zerschnitt mich in viele Einzelteile. Alles drehte sich, ich drohte in einem Wasserstrudel zu ertrinken.
Jemand tippte an meine Schulter.
„Wollen sie etwas zu trinken zu ihrem Essen ?“
Das stark geschminkte Gesicht einer Stewardess beugte sich über mich. Realität oder Traum ?
„.....ja, bitte. Apfelsaft.....“ , stammelte ich fast unverständlich. Sie gab mir meine Zeitschrift in die Hand.
„Sie haben sie gerade fallengelassen. Sie müssen wohl beim lesen eingeschlafen sein. Es ist doch ihre, oder ?“
„...ja,...doch....“
Mein Nachbar schlief selig. Ich bekam eine gewisse Angst vor ihm. Wer war er ? Ich wollte versuchen nicht noch einmal einzuschlafen. Das Essen schmeckte nicht. Verkochtes Gemüse und ein schlappes Stück Fleisch. Der kalte Apfelsaft floss wie Eis in meinen Magen. Trotzdem fühlte ich mich erschöpft. Ich kämpfte mit dem Schlaf, verlor aber. Hilflos versank ich wieder in meine Träume.
Szenen aus der Vergangenheit verfolgten mich. Die ganzen Streitgespräche zwischen mir und meiner Frau. Wie einfältig und egoistisch waren meine Argumente. Ich hatte ständig auf mein Recht bestanden, ohne auch nur einmal nachzugeben. Was für ein Mensch war ich eigentlich ? Hatte ich niemals auch nur ein bisschen dazugelernt ? Ich war zutiefst erschüttert. Mein sonst so solides Lebensfundament, schien unaufhaltsam zusammenzubrechen. Ich verspürte plötzlich den Drang mit einem neuem Leben anzufangen, aber wie ? Was sollte ich tun ? War es überhaupt noch möglich von vorne anzufangen ?
Ich saß auf einem Felsen, inmitten eines übelriechenden Morastes. Es war stickig, und Nebelschwaden zogen unaufhaltsam an mir vorüber. Ich sah mich um. Aber wo ich auch hinblickte, keine einzige Pflanze, kein einziges Tier. Sah es so in meinem Innersten aus ? Verzweifelt starrte ich auf meine Hände. Jetzt war der Moment gekommen, diesem Morast zu entfliehen.
Ich erhob mich und spürte meine Füße, schwer wie Blei. Ich entdeckte einen trockenen Pfad. Er war sehr schmal und ich drohte des öfteren in dem Schlamm rechts und links zu versinken. Nach wenigen Schritten lief es sich schon leichter, aber ich bemerkte, dass mir jemand oder etwas folgte. Ängstlich blickte ich nach hinten und ich erkannte einen Hund. Er war das hässlichste Geschöpf, das ich je gesehen hatte. Ich blieb stehen.
Mit angelegten Ohren und eingezogenem Schwanz kam er auf mich zu. Winselnd legte er sich mir zu Füßen. Mich überkam ein Schaudern. Sein Körper war übersät mit Geschwüren und das Haar fehlte an einigen Stellen. Hin und her gerissen zwischen Abscheu und Mitleid, starrte ich auf ihn nieder. Ich sank in die Knie und berührte seinen kranken Körper. Langsam verflog meine Angst. Ich spürte auch in ihm pulsierendes Leben. Auch er war berechtigt zu leben. Eine erste Träne lief warm auf meine trockenen Lippen. Ich schmeckte wie salzig sie war. Ich konnte mich nicht mehr halten. All die Jahre hatten mir meine Eltern eingetrichtert : Ein Junge weint nicht!, Es war umsonst gewesen. Tränen überströmten mein Gesicht. Der harte, unbeirrbare Mann floss dahin. Wie stark hatte er sich doch immer gezeigt. Nein, ihn konnte nichts erschüttern. Und nun dies. Ein Hund, ein jämmerliches Wesen. Ich hätte auch einfach weitergehen können, aber er hätte mich doch irgendwann eingeholt. Mit beiden Händen versuchte ich meine Tränen von seinem spärlichen Fell zu wischen. Ich stand auf. Meine Beine zitterten. Der Hund folgte mir, er war mir auch weiterhin ein treuer Begleiter. Ein Baum, nicht sehr groß, aber ein Baum. Ein paar Blätter hatte er auch. Ich bewunderte ihn. Ein Baum. Ein knorriger Baum. In der sonst so zivilisierten Welt hätte ich keinen Blick an ihn verschwendet. Man hätte ihn eher fällen sollen. Aber jetzt, ich bewunderte ihn in dieser trostlosen Umgebung. Die paar Blätter die er besaß, ließen mich nicht mehr aus dem Staunen kommen. Ich setzte mich auf einen Stein unter ihn. Ich lehnte mich zurück an seinen Stamm und schloss die Augen. Die Sonne brach durch die Wolken. Die Sonnenstrahlen wärmten mein Gesicht. Wie einfältig war ich nur. Hatte mich die Natur daheim jemals interessiert? Hatte ich jemals auch nur einen Gedanken an sie verschwendet? Ich hatte sie oft achtlos links liegen lassen, manchmal sogar als notwendiges Übel gesehen. Damals hatte ich mit meiner Frau gestritten. Der Garten um unser Haus sollte pflegeleicht sein. Ich bestand auf Rasen und ein paar Bäume. Für Blumen hatte ich keinen Sinn. Das letzte was ich brauchte waren Wochenenden, die ich im Garten verbringen sollte, nur um Blumenbeete in Ordnung zu halten. Wieso, wieso, wieso? Ich schämte mich. Eine neue Welle der Traurigkeit überkam mich. Sie schäumte und spuckte und wirbelte mich in ein neues grenzenloses Chaos. Fragen, über Fragen schossen mir durch den Kopf. Das Krächzen eines Vogels ließ mich aufschrecken. Er saß über mir auf einem Ast. Ich bemerkte außerdem einige Pflanzen um mich herum, ich hatte sie wohl vorhin vor lauter Begeisterung übersehen. Die Wolken hatten sich fast aufgelöst, der Hund schlief neben meinen Füßen. Eine Fliege brummte unaufhaltsam um meinen Kopf und ich war daran sie zu verscheuchen. Sie landete auf meinem Arm. Sie war zufrieden. Ihre Flügel schimmerten im Sonnenlicht. Sie putzte sich. Eine Ruhe, die ich vorher noch nie erlebt hatte, breitete sich in meinem Körper aus.
Ich atmete tief durch. Ich hatte das Gefühl in mir wuchs etwas, was ich noch nie verspürt hatte. Ein Gefühl der Geborgenheit, der Hoffnung, doch noch aus diesem Unheil, aus dieser Ruine, ein neues und besseres Gebäude aufzubauen. Ich schöpfte Kraft aus einem unendlich, tiefen Brunnen, den ich jetzt zum erstenmal neben mir entdeckte. Ich versuchte ihn zu ergründen, aber er offenbarte nur einen Teil seines Geheimnisses. Es war wunderbar. Ich verspürte Boden unter meinen Füßen, jemand fing mich auf.
„Meine Damen und Herren, bitte schnallen sie sich an. Wir landen in wenigen Minuten in Frankfurt. Das Wetter ist trüb und regnerisch. Temperaturen liegen bei zehn Grad Celsius. Wir bitten sie, bleiben sie solange auf ihren Sitzplätzen, bis wir unsere Parkposition erreicht haben. Sie haben Anschluss.......“
Ich war tief in meinen Sitz gesunken.
„Ist dies ihre Zeitschrift? Sie lag auf dem Boden.“
„Vielen Dank......“
Der Mann neben mir war verschwunden. Wohin werde ich wohl nie erfahren.