Lukas
Eigentlich war es ein beschissener Tag, den sich Otto Molterer zum Spazieren gehen ausgesucht hatte. Es war Mitte Oktober, kalt, wie es nur im Herbst sein kann und es nebelte furchtbar. Vor allem hier, auf der Alten Donau, konnte man nur wenige Meter sehen.
Doch ein solches Wetter hatte natürlich auch seine Vorteile: Es war wahnsinnig ruhig. Man hatte das Gefühl, dass der Nebel nicht nur die Sicht minderte, sondern dass er auch darauf achtete, dass kein unnötiges Geräusch an die Ohren der Menschen gelangen konnte. Sehr angenehm, wie Otto fand.
Otto war ein alter Mann und trotzdem freute er sich des Lebens. Nun, das ist kein Widerspruch, wie Otto immer sagte, doch er hatte viele Menschen in seinem Alter beobachtet und irgendwie kam es ihm so vor, als ob das die allgemeine Einstellung der alten Leute war: Alt ist gleich alt und grantig.
Aber für ihn war es nicht so. Er freute sich seines Lebens, obwohl er „schon“ 78 war. Er nahm sich dabei ein Beispiel an der Alten Donau. Obwohl sie alt ist und, obwohl jeder sie als Alte Donau bezeichnet, fließt sie noch genauso wie früher: Jung und unbekümmert. Dieser Gedanke motivierte ihn von mal zu mal. Darum ging er so gerne hier spazieren und fühlte sich dabei auch ein wenig jung und unbekümmert.
Er ging jedes Mal die gleiche Strecke. Vom Beginn des „Gänsehäufels“ flussaufwärts, vorbei an der Liegewiese, wo es im Sommer ungemütlich war, weil die Kinder immer ein wahnsinnigen Lärm machten. Dann die schönen Stege, dann die kaputten Stege und beim dritten kaputten Steg wieder retour.
An diesem Tag war es menschenleer. Gott sei Dank, dachte er sich, denn er hatte in seinem Leben bereits genug Menschen gesehen. Da war er froh, dass außer der alten buckligen Gestalt niemand zu sehen war.
„Servus Charly, schon lange nicht mehr gesehen!“, sagte Otto laut, als er zu der buckligen Gestalt hinging. Sie saß auf einer alten morschen Bank, ganz nahe dem Wasser und starrte auf die kleinen Wellen der Donau. Die Gestalt hatte ihn nicht gehört, so versunken war sie in Gedanken. Sie hatte einen Mantel an, die Kapuze über den Kopf gezogen und stützte ihren Oberkörper auf den Händen ab, die sich wiederum an einem Stock abstützten.
Als er schon ganz nahe hinter der Gestalt stand und diese ihn noch immer nicht bemerkt hatte, wiederholte Otto, diesmal etwas lauter: „Charly mein Freund, wie geht’s dir?“
Die Gestalt fuhr hoch. „Was? Was? Wer ist da?“, fragte sie erschrocken.
Otto kam sich etwas schuldig vor und dachte sich, zum Trost musste er diesen traurigen alten Mann etwas aufmuntern.
„Grüß dich. Tut mir leid, aber ich grüße jeden, den ich nicht kenne mit ‚Charly’. Alter Jugendstreich...“
Die Gestalt schien sich zu beruhigen und setzte sich wieder.
„Da ist es schön, gell?“ wollte Otto ein wenig vom Schrecken ablenken und deutete mit dem Kopf auf das Wasser.
„Jaja“, stammelte die Gestalt, „Schön ruhig vor allem“
„Ja schön ruhig, da hast du recht“, Otto war es gewohnt jeden in seinem Alter zu duzen, „Darf ich mich setzen?“, fragte er höflich. Doch noch bevor der alte Mann nein sagen konnte, saß er auch schon neben ihm.
„Im Krieg haben wir diese Ruhe nicht gehabt, gell?“, fragte Otto nostalgisch.
„Im Krieg war vieles leichter.“, antwortete die Gestalt kurz.
„Alter Nazi, hä?“, sagte Otto mit einem Lächeln.
„Ich half zu beiden Seiten“, sagte die Gestalt kurz. Otto wusste nicht genau, was er damit anfangen sollte, aber er lachte einmal kurz auf. Höflichkeitshalber.
Dann sagte er: „Ich heiße Otto, sehr erfreut“ und hielt ihm die rechte Hand hin.
Die Gestalt gab ihm die Hand und nach einigem Zögern sagte sie: „Lukas“
Lukas Hand fühlte sich knochig und kalt an, doch noch mehr wunderte Otto, dass er nicht eines seiner Augen sehen konnte. Er war ein sehr alter Mann, dachte er sich. Sah ein bisschen aus wie der Tod, aber das dürfe man nicht sagen. Da sollte man nichts verschreien, dachte er sich.
„Ich komme aus Salzburg“, sagte Lukas und Otto musste lachen. Der Tod aus Salzburg. Gelungen!
„Hab ich mir gedacht“, sagte Otto.
„Was?“ fragte die Gestalt entsetzt, dann sah sie aber, dass das ein Scherz war und beruhigte sich wieder.
Irgendwas hat er zu verstecken, dachte Otto. Er ist auf alle Fälle ein interessanter Mann.
„Fischt du?“, fragte er, um wieder etwas vom Thema abzukommen.
„Nein, ich fische nicht. Früher einmal, aber jetzt nicht.“
„Ja, ich war früher auch fischen. Jetzt nicht mehr so, da bin ich froh, wenn ich aus dem Bett komme“, lachte Otto. Lukas zeigte keine Reaktion. Er hatte sich wieder im Wasser verloren.
„Ich war früher oft mit meiner Frau hier“, sagte Otto. Er wusste zwar nicht, ob ihm sein Gegenüber zuhörte, aber es war ihm eigentlich egal. Er selbst konnte die Geschichte immer und immer wieder hören, da war er manchmal froh, wenn er Menschen traf, die nicht auch noch etwas zu sagen hatten. „Mit meiner Frau war ich oft hier Fischen. Meistens Karpfen, weil Karpfen gab es früher viele. Vor allem im Krieg. Da war es überhaupt am besten. Aber was nicht, gell?“, schmunzelte er und stieß dem Lukas neben sich mit dem Ellbogen in die Rippen. „Was war nicht besser im Krieg, hä? Die Leute haben zusammengehalten, es gab nicht so viele Verbrecher und überhaupt... Das hat meine Frau auch immer gesagt, im Krieg war es besser. Natürlich nicht mit Hitler und so. Das war natürlich ein wilder Hund, was glaubst du? Da hätte sich keiner mehr zu stehlen getraut, oder Vergewaltigen und so. Keiner! Die sind da gleich alle weggekommen. Da hat der nix gekannt, der Hitler, gell? Nix, gar nix. Da haben die jungen Frauen mitten in der Nacht nackt herumspazieren können. Denen wäre nicht passiert. Na was glaubst du? Hat sich ja keiner getraut. Aber das mit den Juden, gell? Das war schon eine Frechheit. Da gibt’s gar nix. Aber das mit den Verbrechern war wiederum in Ordnung. Da gibt’s auch gar nix. Aber sonst war er ein wilder Hund, der Hitler“, jetzt hatte sich der Otto in eine Argumentationskette verwickelt, aus der er nicht mehr so leicht herausgekommen ist. Einerseits furchtbar, andererseits in Ordnung.
Darum lenkte er gleich wieder auf das Anfangsthema, denn er sah auch, dass sich Lukas nicht ganz wohl bei dem Gespräch fühlte. Er ist immer hin und her gerutscht, auf der alten Bank, so als würde ihm sein Hintern furchtbar jucken.
Darum erzählte Otto weiter: „Ich war mit meiner Frau oft hier. Karpfenfischen. Donnerstag waren wir immer hier. Karpfenfischen und Freitag hat es immer Karpfen gegeben. Freitag ist ja Fischtag, darum: Donnerstag Karpfen fangen, Freitag Karpfen essen. Meine Frau hat die immer zubereitet, was glaubst du? Eins A. Da gibt’s gar nix. Köstlich. Das hat sie gut gekonnt, das Karpfenkochen. Das Karpfenfangen wiederum nicht so. Da war sie immer so ungeschickt. Mit dem Kescher, kennst du ja eh. Die hat das nicht und nicht gekonnt. Selbst nach 20 Jahren hat sie den Karpfen immer verfehlt. Das ist mir dann auf die Nerven gegangen und dann hab ich sie immer ein wenig sekkiert. Was glaubst du? Ich war gut im Sekkieren, dass haben früher alle gesagt. ‚Der Otto, bla bla...’, frage nicht!
Und meine Frau hat dann immer gesagt ‚Otti’, die hat mich nämlich immer Otti genannt, selbst wenn sie böse auf mich war. ‚Otti, du gehst mir so auf den Arsch!’
Und weißt du was ich dann immer gesagt habe? Pass auf! Ich hab dann gesagt: ‚ Kein Wunder, bei deinem Arsch kann ich ja auch drei Stunden in die selbe Richtung gehen!’ Ha!“
Otto fing so zu lachen an, dass sich seine Bronchien dagegen wehrten und er zu husten begann.
Sogar Lukas musste kurz auflachen.
Nun hatte Otto den Vorsatz, dass, wenn jemand über einen Witz lacht, er ihn nicht oft genug hören konnte, so wie er nicht oft genug seine Geschichten aus alten Zeiten hören konnte. Und darum sagte er: „Drei Stunden in eine Richtung, verstehst du?“, und dabei stieß er ihn immer mit dem Ellbogen an. „Drei Stunden! Ha! In eine Richtung! Verstehst du, weil sie so einen dicken Hintern gekriegt hat. Haha!“ Das war eine schlechte Angewohnheit von ihm, das wusste er selber, dass er immer seine Witze erklärte. Und auch dagegen wehrten sich seine Bronchien.
Lukas musste auch lachen. Es war ein kratzendes Lachen, das man fast gar nicht hören konnte, weil Otto so laut gehustet hat, aber er hörte es doch und irgendwie stoppte das Geräusch sein Lachen. Es hörte sich nach Alter an, nach Vergänglichkeit und nach Tod. Der Mann neben ihm war sehr sehr alt und hatte wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben.
Und das ist das Schlimme am Leben, dass man sofort alles auf sich selbst bezieht. Die Alte Donau jung, Otto auch jung. Alter Mann alt, Otto auch alt. Und darum fragte er ihm: „Wie alt bist du?“
„Sehr alt... Zu alt“, sagte Lukas und sah wieder ins Wasser.
„Das dachte ich mir“, sagte Otto, „Meine Frau ist vor drei Jahren gestorben. Sie war jünger als ich, trotzdem ist sie tot. Ich fühle mich noch jung, aber wer weiß. Der Krebs schläft nicht, und mein Herz schläft vielleicht bald. Das kann man nicht wissen, wann der Tod mich holt, gell?“
„Nein, das kann man nicht wissen“, sagte Lukas. „Der macht das schon überraschend, da brauchst dir keine Sorgen machen“
„Ja, der Tod klopft nicht an!“ sagte Otto. Er liebte es, diese Allegorien über den Tod. Das machte den Tod etwas verletzlich und nahm etwas von seinem Schrecken. Darum machen das die Leute wahrscheinlich. „Er hat sich meine Frau genommen und ich kann ihm nicht verübeln. Sie war trotz ihres Alters wunderschön. Dann der Krebs, dann der Tod“
„Ja, sie war sicher wunderschön, aber dem Tod interessiert das nicht!“
„Glaubst du, ich glaube schon. Naja, das werden wir wohl erst später einmal wissen. Hoffentlich! Glaubst du, stirbt der Tod auch einmal?“, scherzte Otto.
„Natürlich“, sagte Lukas so traurig, als wäre der Tod ein guter Bekannter von ihm, der im Sterben lag. „Der Tod ist so alt, wie die Menschheit und wenn die Menschheit stirbt, dann gibt es keinen mehr, der an den Tod glaubt. Dann stirbt auch der Tod.“
Das war sehr philosophisch, aber einleuchtend, dachte sich Otto. Aber wieso sollten die Menschen je sterben? Das gibt es nicht, es gibt ja so viele Technologien heutzutage, das glaubt man gar nicht. Wenn die Erde einmal ein großer Mistplatz ist, dann suchen wir uns sicher einen neuen, Mars oder so. Otto würde das sicher nicht mehr miterleben, das wusste er auch, aber seine Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urenkel vielleicht.
„Dann ist der Tod wahrscheinlich ein junger Mann. So ein neureicher Geschäftsmann. Vielleicht ein Beamter, obwohl: dafür sterben zu viele!“ Otto stieß Lukas wieder mit dem Ellbogen an.
„Vielleicht“ antwortete Lukas düster auf seinen Scherz. Er musste nicht lachen. Er war zu traurig.
Darum dachte Otto, er müsste auf etwas lustiges umlenken.
„Aber bis jetzt sind ja noch alle Menschen gestorben, ob gut oder schlecht. Das gehört einfach zum Leben dazu. Kennst du Stephen Collins. Den Schauspieler? Meinen Lieblingsschauspieler? Ein Komiker, das glaubst du nicht. Der hat alles gehabt im Leben. Der ist schon mit 49 gestorben“
„Mit 47“, verbesserte ihm Lukas.
„Du kennst ihn auch?“, freute sich Otto.
„Flüchtig.“
„Jaja, der war genial. Der kam aus New York oder so. Ich war noch nie in Amerika. Das interessiert mich nicht sonderlich. Warst du schon einmal da?“
„Ja, unlängst“
„Ehrlich, in deinem Alter?“, nun war Ottos Mund schneller als sein Gehirn. Auf sein Alter war Lukas ja anscheinend nicht gut zu sprechen. „Ich meine, da tust du dir sowas noch an, mit den Terrorflügen und so?
„Naja, ich musste hin, konnte es mir nicht aussuchen.“
„Familie oder was?“
„Ja“
„Verstehe, hoffe es ist ihnen nichts passiert. Das ist ja schon arg, was da passiert. Die Moslems sind auch so arg. Da hab ich erst gestern in den Nachrichten gesehen, wie die leben. Frauen verschleiert und alles. Das ist schon arg, gell? Ein komisches Volk, diese Moslems, nur Religion und so. Da könnte ich mir gar nicht vorstellen, dass ich dem Lieben Gott x-mal am Tag anbete. Da hätte der ja gar keine Zeit, gell? Nein, die Moslem sind schon seltsam, das waren die schon immer. Immer Kriege und so. Auch untereinander. Die sind nur aufs Töten aus, das sag ich dir. Und jetzt, da sie keinen mehr zum angreifen haben, schicken sie die Flieger nach Amerika. Schon arg, und das nur wegen dem Allah! 7000 Tote!“
„6947 Tote. Auf der Moslemsseite werden es auch bald so viele sein. Da braucht sich keine Seite verstecken.“, sagte Lukas und Otto merkte, dass der alte, gebrechliche Mann an ein Thema gekommen ist, das ihn wirklich interessierte.
„Aber nur wegen Gott töte ich nicht!“, versuchte Otto seinen Standpunkt zu verteidigen.
„Die aber schon, was soll’s. Das ist genauso wie jedes andere Motiv. Geld oder Gott. Wo liegt der Unterschied?“
„Aber Allah gibt’s doch nicht!“
„Den ‚Lieben Gott’ gibt es ja auch nicht. Es gibt gar keinen Gott. Und auch keinen Teufel, keine Wiedergeburt, nichts! Ich weiß nicht, warum sich die Menschen so wichtig nehmen“
„Wieso wichtig? Natürlich gibt es einen Gott, die Menschen fühlen das!“, sagte Otto bestimmt. Niemand darf so über Gott sprechen.
„Ja, die Mensche fühlen auch Liebe und Übersinnliches und all das. Glaub mir, das gibt es alles nicht!“
„Und was passiert dann nach dem Tod, du Komiker?“
„Was soll passieren?“
Das konnte Otto nicht glauben. „Na was soll passieren?“, spottete er ihm aus. „Wir kommen in den Himmel!“
„Oder in die Hölle?“
„Genau!“
„Falsch!“, sagte Lukas, „Nach dem Tod kommt nichts, dann ist es aus!“
„Ja, genau! Und der Tod ist ja auch so alt wie die Menschheit! Und mit ihr stirbt er auch!“
Otto war nun so richtig aggressiv. Er fühlte sich irgendwie in die Ecke gedrängt. Ohne Ausweg, wie wenn man einen Abhang hinunterfällt.
„Ja, das glaube ich!“, sagte Lukas leise.
„ Das sagst du ja nur, weil du so alt bist, du Kasperle! Hast wohl Angst vor dem Tod, hä?“
Das war unfair, das wusste Otto und es tat ihm ein wenig leid. Das durfte man nicht sagen, auch wenn man noch so zornig ist.
Aber Lukas lachte und nahm sich die Kapuze vom Kopf. Was Otto da sah, konnte er nicht glauben. Er hat es ja schon an seinen Händen gespürt, aber das jemand so alt sein kann - dass jemand so alt aussehen kann - das hatte er nicht gewusst. Lukas Kopf glich einem Totenschädel. Beinahe keine Lippen mehr. Die Wangen eingefallen, so, dass sich die Zähne darauf abbildeten. Ein paar einzelne stohige Haare auf dem kahlen Kopf... Doch am schlimmsten war, dass man seine Augen nicht mehr sehen konnte, so tief lagen sie in den Augenhöhlen.
„Glaubst du etwa ich habe Angst vor dem Tod?“, fragte Lukas. „Glaubst du das??? Ich bin bald tot!“
„Du bist der Tod!“, antwortete Otto erstaunt. Gar nicht so erschrocken, nur erstaunt.
Lukas lächelte, wahrscheinlich, Otto konnte es nicht so genau erkennen.
„Ich muss gehen, ich habe zu tun“, sagte Lukas und stand von der alten gebrechlichen Bank auf. „Ich muss gehen um meine Arbeit zu erledigen.“
„Wie lange noch?“, fragte Otto. Es war das einzige, das ihm einfiel.
„Sieh mich an! Wie lange glaubst du schaffe ich es noch?“; sagte Lukas und ging.
Otto sah ihm nach, bis er hinter den Bäumen verschwand und danach sah er ins Wasser.
Die Alte Donau floss noch immer munter vor sich her. Nichts hatte sich verändert, nichts hatte sie erschüttert. Doch diesmal konnte sich Otto kein Beispiel von ihr nehmen. Er fühlte sich das erste Mal in seinem Leben alt.