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Luna
Luna
Einer meiner tiefgründigsten Erkenntnisse im Leben ist die, dass Menschen in einer Entfernung von über hundert Metern jedes Alter, jedes Geschlecht und jeden Kleidungsstil haben könnten. Im Auge des Betrachters versteh sich. Schade bloß, dass diese Erkenntnis so wenig auf mein Leben zugeschnitten ist, wie dieses schreckliche Hemd, das mich so schmalschultrig aussehen lässt, denn ich arbeite in einem Supermarkt, der fünfzig Meter lang und zwanzig Meter breit ist. Nun ist es wohl offensichtlich, dass es in meiner kleinen Geschichte nicht allzu spannend ablaufen wird. Eigentlich hat ein Mensch wie ich garnichts zu erzählen, aber ein mensch wie ich beobachtet gerne, was ihn ab und zu etwas sehen lässt, dass es vielleicht wert wäre aufzuschreiben.
Jeden Tag trage ich also dieses Hemd und darüber meinen blau-weißen Kittel und stelle Dinge ins Regal. Um mir dabei die Zeit interessanter zu gestalten, wäge ich bei jedem Artikel ab, ob ich ihn kaufen würde oder nicht. Später dann achte ich darauf, was für Personen die Sachen kaufen. Und unglaublicherweise sind mir die Menschen, die Dinge kaufen, die ich auch kaufen würde, sympathisch. Die anderen selbstverständlich nicht.
Vor einigen Wochen holteein junger Mann haargenau meine Favoriten aus dem Regal. Er kam öfters zu der Zeit, kaufte immer bloß wenig und erschien stets zu den Phasen, in denen die Schlangen lang waren. Es war ein sonderbarer Typ. Doch überaus sympathisch. Er hatte glänzendes, schwarzes Haar, welches strähnig auf seiner Stirn lag. Breite Augenbrauen steckten über seinen müden Augen in seinem schmalen Kopf. Eine zierliche, kaum auffallende Nase führte die Blicke über die leicht angedeuteten Wangenknochen zu seinen breiten, vollen und blutroten Lippen. Sein Gesicht erzeugte in mir eine Behaglichkeit, welche ich mir nicht erklären konnte. Seine schmucklose, schlichte und alt anmutende Kleidung bestärkte dieses Gefühl bloß. Seine Ausstrahlung ließ mich immer wieder von meiner Arbeit aufblicken.
Als ich der neuen Verkäuferin, ihren Namen habe ich vergessen, sie kaufte immer total seltsame Dinge, bei Problemen mit der Kasse half, sah ich ihn in der Schlange stehen. Mit einer Zweierpackung Toilettenpapier war er da und sah aus, als wäre er dort gewachsen. Besonders fiel mir sein Blick auf. Seine jetzt so wach und dennoch verträumt funkelnden Augen waren auf die neue Verkäuferin geheftet. Es lag so eine Spannung in diesem Blick, diesem Starren voller alberner Ernsthaftigkeit, ich konnte beinah sehen, wie das Puppengesicht der Neuen aufgesogen wurde, jede Kurve, jede Farbe ihres Körpers abgetastet wurde, um alles später vor dem inneren Auge wiederherstellen zu können. Die neue hatte einen unsagbaren Bannkreis um den Mann in der Schlange gezogen, sie verführte ihn mit ihrer unbewussten Nichtachtung. Ihre an ihm vorbeigleitenden Blicke schienen gläserne Fasern um ihn zu spinnen, welche seine Glieder erstarren ließen. Bloß der langsame, sich unvermeidbar halbminütig wiederholende Schlürschritt wurde zugelassen. Er wehrte sich nicht dagegen, er schnürte ihr Netz immer fester um sich, um darin zu vergehen, zu ersticken in der Süße ihres Atems. Willig stellte er sich an das Ende das Laufbands, hielt ihr das Geld entgegen und wartete darauf von ihrem unwissenden Blick berührt, zerstört zu werden. Er betrachtete ihre schwarz gefärbten Haare, die im Licht bläulich schimmerten und die breit in einem Seitenscheitel über die Stirn, knapp über die schmalen Augenbrauen, gekämmt waren, um sie dann hinter ihr kleines, zierliches Ohr zu streichen, während sie am Hinterkopf durch ein rotes Band zu einem kurzen Zopf gebunden worden waren. Ihre großen Augen lagen in einem dunklen Rand von schwarzem Mascara und Wimperntusche aus Gang zwei. Der dunkle Schleier, der sich durch ihr gesamtes Gesicht zog, führte zu ihrer hellen, blauen Iris, die wie das Licht am Ende des Tunnels strahlte, bei der man aber nie sicher sein konnte, ob es das Tageslicht oder ein Zug war. Blasse Haut spannte sich über die grade Nase und traf auf das bluttriefende Rot ihrer voluminösen und doch zarten Lippen, die das unfassbar schönste Verkäuferinnenlächeln herzauberten, das ein Laufband jemals zu Gesicht bekommen hat. Ihre Erscheinung wurde abgerundet durch die sanft dahingemalte Linie ihrer Wangen, die in das runde Kinn hinüberfloss. Es mag kitschig klingen, aber sie war für ihn wie das Mondlicht. Das Mondlicht, welches gegen die Straßenlampen ankämpfen musste um von jemandem bemerkt zu werden. Das Mondlicht, welches aus dem vom Mond gefilterten und verzauberten Sonnenstrahlen besteht.
Doch bloß Sonnenlicht kann Kraft schenken.
Sie blickte ihn flüchtig an, händigte ihm sein Rückgeld aus und wandt sich dem nächsten Kunden zu. ER ging jedoch wie jeden Tag mit leidendem Blick in Richtung Ausgang.
Für mich war es unerklärlich, wie sich jemand so quälen könnte. Ich übernahm ja auch nicht aus Lust und Laune das Bodenwischen. Die Neue sprach ich nie auf diesen seltsamen Kunden an, ich bevorzugte es, ohne Eingriffe das Geschehen weiter zu beobachten.
Nachdem dieses Schauspiel schon seit einigen Wochen so ablief, kam es zu diesem aus der Rolle fallenden Tag. Es begann schon bei der Art und Weise, wie er den Supermarkt betrat. Er schien verändert, jedoch nicht wesentlich. Ungewohnt hastig und dennoch relativ unentschlossen kam er durch die große Schwingtür, ging aber nicht weiter durch das Drehkreuz, sondern blieb im Ein- und Ausgangsbereich stehen. Am ganzen Leibe zitterte er, von meinem Posten konnte ich es genau beobachten. Heißer Schweiß stand ihm auf der Stirn, seine Achseln waren dunkel untermalt und seine nassen Fingerkuppen ließen schon die Eingangstür aus seinen Händen gleiten. Und ihm glitt zu jener Stunde so ziemlich alles aus den Händen. Ich bezweifle, dass es alles ein Produkt dieses Tages war, aber irgendwas musste geschehen sein. Sonst hätte er dort nicht so gestanden, keuchend und schwitzend, mit all seinem Geist schreiend nach ihr, nach ihrem Licht. Irgendetwas in ihm schien sich zwar noch zu wehren, doch dieser Teil hatte wohl schon längst die Oberhand verloren. Es war ja auch eigentlich bloß eine Frage der Zeit. Seine schmerzliche Schüchternheit hatte er überwunden, oder er hatte sie verloren an diesem Tag. Ein unwiederbringlicher Verlust.
Er stand also da wie ein Fanatiker, der bemerkt, dass er sich sein Leben lang lächerlich machte. Er so gebrochen, ich schien das schreckliche Geräusch einer zerschellenden Hoffnung nach diesem Tag noch wochenlang in jeder Nacht zu träumen. Es war dieser herzzerreißende Schrei, der eine versengend heiße Schallwelle durch den ganzen Raum schoss, in allen Ohren ein Erschrecken auslöste, welches mit keinem Horrorfilm gleichzusetzen wäre. Dieser Schreck bohrte sich in jedermanns Herz. Er kostete ihn auch so viel Kraft, dass er bloß noch auf seinen Knien da hockte, bevor er sich mit den Händen und gesenktem , angstdurchflößtem Blick, aber lustvoll zitternden Lippen, zur Kasse schleifte, zu ihr. Niemals zuvor habe ich eine so armselige Erscheinung gesehen und doch achtete ich ihn in einer seltsamen Weise, die ich mir wiedermal nicht erklären konnte. Vieles sollte mir ein Rätsel bleiben.
Ich sah ihn schließlich vor der Kasse auf allen Vieren mit sich kämpfen. Seine Augen waren erst weit aufgerissen und dann wieder zugekniffen. Er warf seinen Kopf in den Nacken und blickte in ihr Gesicht und sein Atem stoppte. Mit eingefallener Brust und Schultern, die weit nach vorne standen, zog er sich an der Kasse hoch. Die Neue war komplett verwirrt, saß regungslos da, hatte noch eine Dose Ravioli in der Hand und starrte ihn an. Wahrscheinlich war es ihr immernoch unwissende Blick, der ihn zu seinem letzten Schritt brachte. Mit beiden Händen stützte er sich ab, um auf beiden Beinen vor ihr zu stehen und er blickte ihr in die Augen. Es musste ein wundervoller Moment für ihn gewesen sein, denn zum ersten Mal wurde dieser Blick erwiedert und irgendetwas passierte zwischen ihnen. Mir fehlen die Worte es auszudrücken.
Sie nahm seine Hand, stand auf, ging um die Kasse herum zu ihm und stützte ihn, sodass er wieder grade stehen konnte. Dann führte sie ihn zum Ausgang. Er stoppte vor der Tür, schaute sie an und brachte ein gebrochenes „Ich... möchte irgendetwas... für dich sein.“ heraus, bevor sie verwirrt schaute, sagte er solle frische Luft schnappen, die Tür für ihn öffnete und er gesenkten Hauptes hindurchschritt.