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Luxusschläppchen
Es war kurz vor Feierabend, als Helgolands größter aktiver Shanty-Chor auf der Suche nach auftrittssicherem Schuhwerk wie ein Orkan in meinen Laden krachte. Ich: blond, ehrgeizig, leitende Geschäftsführerin eines Designerschuhladens, geübt im Umgang mit anspruchsvollen Kunden, heute aber extrem genervt von einer 10-Stunden-Schicht. Das Geschäft: Eine luxuriöse Boutique in der Innenstadt, Schuhkreationen, die neuesten Brands. Eine glanzvolle Edelschuhschmiede, in der Kristallspiegel und funkelnde Deckenleuchter mit dem Leder der sorgsam drapierten Schuhe um die Wette strahlen. Selbst der Marmorfußboden spiegelt und bringt so die Beine meiner Kundschaft besonders ansprechend zur Geltung.
Ich hatte gerade meine Schuhe ausgezogen, um meine schmerzenden Füße zu reiben, und feierte das Arbeitsende mit einem wohlverdienten Gläschen Sekt, denn der Laden war endlich leer, als es hinter mir polterte. Verdammt, ich hatte vergessen, die Drehtür zu sperren.
„Wir haben ge … “
„Und wir brauchen Schuhe! Auftrittssicher! Dringendes SOS!“
Ein bärtiger Mann mit Kapitänsmütze schlingerte gefährlich schwankend auf mich zu, eine Tasche, die ihm aus der Hand gerutscht war, überholte ihn und planierte meine Schuhe. Auf dem schwarzen Segeltuchstoff prangte ein plumper, braun-weißer Vogel, darunter stand in dicken Buchstaben „Helgoland – einziger Brutplatz Mitteleuropas“.
„Was soll das“, fragte ich fassungslos, denn mit einem Kapitän in einem Designerschuhladen hatte ich nicht gerechnet und deutete auf die Tasche mit dem dicken Federvieh, die gerade meine Pumps plattgewalzt hatte. Mein Blick blieb an den unbeschuhten Sportsocken des Kapitäns hängen.
„Das“, sagte er stolz und deutete auf die Tasche, „ist unsere Namensgeberin, und wir singen Shanties.“
Hinter ihm sah ich weitere Kapitäne anrücken. Und weil der Geist sich in Situationen, die ihn gleich überfordern werden, auf Nebensächlichkeiten stürzt, bestand ich leider auf der Nennung seines Namens, statt mit letzter Kraft die Tür zu schließen.
„Wer sind Sie“, sagte ich und stierte erschüttert auf die bärtige Horde, die nun Fahrt auf die Schwingtür aufgenommen hatte.
„Das sagte ich doch schon, das ist unsere Namensvetterin“, wiederholte er und deutete erneut auf die Tasche mit dem dicklichen Vogel. „Was ist jetzt fix mit den Schuhen?“
„Ja aber, wer sind Sie“, stammelte ich. Mit einem Kerl konnte ich vielleicht noch fertig werden, doch mit einer Horde?
Leider entschied er nun, dass ich nur durch Stillung meiner Bildungslücken zur Kooperation zu bewegen war und hob zu einem ausgedehnten Vortrag an: „Nun, ganz Helgoland ist stolz auf seinen einzigartigen Alkenvogel. Evolutionstechnisch gesehen von den Zehen auf die Fußwurzel gerutscht, ist er bekannt durch sein etwas bedürftiges Gangbild. Nur noch in Helgoland brütet er. Und wir sind stolz, seinen Namen tragen zu dürfen. Darf ich vorstellen?“, sagte er und deutete auf die Schwadron Seebären, die nun schon sehr nah war, „ ‚Die Helgoländer Trottellummen‘ “
Ich brach in hysterisches Gelächter aus und schnappte endlich nach der Sperre der Schwingtür, doch es war zu spät. Ein infernalisches Chaos brach über den Schuhladen herein. Ein weiterer Strumpfkapitän war durch die Drehflügel gerutscht, schwankte, krängte wie eine unbeholfene Fregatte und soff schließlich ab, direkt hinter dem Durchgang. Eine Stolperfalle für die Horde blauweiß geringelter Kerle, die sich unmittelbar nach ihm mit Macht in den Laden drängte und auf den glatten Marmorfußboden polterte. Vor mir brodelte ein blauweißes Durcheinander von Gliedmaßen, aus dem ab und an ein rotes Farbfleckchen auftauchte. Die hübsch geknoteten, roten Tüchlein, mit denen die Hälse der Kapitänsbande verziert waren, verloren selbst dann nicht ihren exakten Sitz, als sich die hereinrumpelnden Männer in einem heillosen Wirrwarr mit Akkordeons, Trompetentaschen und Banjos übereinandergestapelt hatten wie die maritim gefärbten Becher eines Speedstackers. Kapitänsmützen segelten über den Boden, Matrosenhemden rutschten aus Schlaghosen und legten weißliche Bierbäuche frei, zwei Gitarren schossen wie Sektkorken aus dem Menschenhaufen hoch und blieben an einem Kristalllüster hängen. Irgendwo zwischen ein paar mit Ankern verzierten Unterarmen qualmte eine Pfeife.
Als die Männer sich endlich entwirrt hatten, sah ich das ganze Ausmaß des Schadens:
34 ausgewachsene, blauweiße Seebären. Von Kopf bis Fuß in das gleiche, nun etwas verrutschte Seemannsgarn gewandet, schuhlos.
Das war das Problem. Unterhalb der Shanty-Uniform tummelte sich ein anarchischer Sockenhaufen.
Das Geheimnis, was der Seemann hinter seinen Pantinen verbirgt, es war gelüftet. Leider. Diesem männlichen und geruchlichen Ansturm war ich nicht gewachsen. Ich forderte sofort Verstärkung bei meinen Damen an.
Ein Sänger mit dinogemusterten Socken, offensichtlich in leitender Position, denn die Dinos auf seinen Socken waren eindeutig Raptoren, räusperte sich und kam zur Sache: „Wir sind hart am Wind, min Deern, wenn du uns nicht sofort hilfst, müssen wir kentern.“
Das Akkordeon, rosa Strümpfe, leicht gräulich am großen Zeh, setzte zu einer Erklärung dieser eigenartigen Worte an, wurde jedoch sofort unterbrochen von der Bassgitarre, deren Füße mit faltenlosen, akkurat gestreiften Socken bekleidet waren. Die Ränder schlossen an beiden Beinen auf gleicher Höhe ab. „Wissen Sie eigentlich, wen Sie vor sich haben? Wir sind ‚Die Trottellummen‘, äh, die Spitzenreiter auf dem diesjährigen Shantychorfestival, wir haben einen Ruf zu verlieren.“
Ich war ein wenig abgelenkt, weil einige besonders muskulöse menschliche Trottellummen sich über die Manolo Blahniks hermachten. Die Bassgitarre interpretierte meine nervösen Zuckungen falsch und schickte ein paar Erklärungen hinterher, jedes Wort wie für eine Schwachsinnige betonend: „Sie wissen, äh, vielleicht nicht, woher unser Name stammt, Trottellummen, äh, sind eigentlich Alk-, äh Alkenvögel.“
Ein Sänger, leicht beschwipst, grüne Kurzsocken mit weißschopfigen Entchen, die sich bei näherem Hinsehen als gefüllte Minibiergläser entpuppten, röhrte: „Wir auch, du olle Wippsteert, wir sind auch Alkvögel. Apropos, hätten Sie da vielleicht so ein Sektchen, so für den Übergang?“
„Ich muss doch bitten“, unterbrach die Bassgitarre erneut, „was soll die junge Frau denn denken! Es ist nur so, wir sind jetzt ja auch auf unsere Fußwurzeln geworfen, äh ... sockenmäßig. Und alles nur, weil uns diese Beutelratten von den „Sylter Fischstäbchen“, diese tiefgefrorene Panadenbande von minderer Qualität“, seine Stimme kippte etwas, „die Schuhe gekapert hat. Wie sollen wir denn jetzt AUFTRETEN?“
Und nun erfuhren meine mittlerweile eingetroffenen Kolleginnen und ich von der Shantychor-Challenge und der unbedingten Favoritenrolle der Trottellummen, die durch bösartige Fischstäbchensabotage ganz unerwartet ins Torkeln geraten war.
„Junge Frau“, grölte das bärtige Banjo, putzige Kätzchen auf blauem Sockenhimmel, „es soll man ihr Schaden nich sein, wir zahlen doppelte Heuer, wenn Sie uns ausrüsten. Aber so ein Sektchen für n fixen Jung, das muss schon dabei sein“.
Das ließen sich meine Damen natürlich nicht zweimal sagen und rannten sofort nach passendem Schuhwerk und perlenden Kaltgetränken.
Genau genommen muss ich mich korrigieren, meine Damen waren nicht nur Damen, zu ihnen gehörte auch ein Herr, der stellvertretende Geschäftsführer, männlich, wegen der Herren-Quote im Einzelhandel. Er trug allerdings gern Rock, vielleicht noch lieber als wir Damen. Nur eben kürzer, darunter sexy Leggings, lasziv gemustert selbstverständlich, er wusste genau, wie man den Laden aufmischte.
Als wir dann den ersten 15 Männern schwarzglänzende Luxusslipper mit echter Ledersohle unter die Socken geschnallt hatten, fiel dem Shantychor leider ein, dass man sich noch nicht für die Challenge präpariert hatte.
„Lasst uns üben, ihr Fischköppe“, sagte Dinosauriersocke, der aufgrund seiner Chefposition den ersten Schuh für sich beansprucht hatte.
„LIPPENBREMSE“, forderte er. Und der gesamte Chor, ob beschuht oder nicht, begann feuchte Luft zur gründlichen Vorbereitung der Stimmbänder durch die Lippen zu pressen. „PPPPPRRRRRHHHHHHH“. Leider bezog die Anrede ‚Fischköppe´ sich nicht nur auf das Konterfei der Musiker, sondern vor allem auf die letzte Zwischenmahlzeit des Chors. „PPPPPRRRRRHHHHH“. Der Fisch war eindeutig mit Zwiebel gewürzt. Und zu jeder Lippenbremse klackerten die Sohlen der 15 beschuhten Seebären, die ihre stimmlichen Lockerungsübungen mit etwas Gymnastik komplettierten.
„Und nun ZUNGENSCHMECKEN“, ordnete ein Sänger an, offensichtlich der künstlerische Leiter, wie man den fett gedruckten Notenschlüsseln auf seinen mintfarbenen Socken entnehmen konnte.
34 eifrige Zungen massierten die Zähne und kauten, als wären die Fischköppe samt Zwiebeln wieder in den Rachen zurückgekehrt, bis die Kehlköpfe frei beweglich mit ihrem Repertoire beginnen konnten.
34 Kehlen ließen „15 Mann auf des toten Manns Kiste“ auferstehen bis zum bitteren Ende, um sie dann sofort gegen „Dor weer eenmal een ohlen Kasten“ einzutauschen.
Ich hatte nichts gegen maritime Schlager, aber doch nicht beim Anpassen meiner kostbaren Schuhe! Würde man etwa die Verkostung erlesener Weine mit Seemannsgarn untermalen? Und nichts anderes als teurer Wein sind meine Schuhe! Ihr Leder ist der kostbare Körper, der den Gaumen, ich meine die Füße, umspült, und das Odeur des Gerbstoffes ist das duftende Bukett, das den müffelnden Strumpfsocken endlich wieder einen sexy Geruch verleiht.
Ich kannte jeden Fuß in dieser Stadt und gab jedem das Seine, um ihn ästhetisch und geruchlich zur letzten modischen Entfaltung zu bringen. Ich hatte sie alle gesehen, die Zehen und Ballen und Hühneraugen, ich hatte sie alle in meinen kundigen Fingern gehabt.
Das jedenfalls dachte ich, als plötzlich ein Stumpf in meine Hand gelegt wurde. Der dazu gehörende Fuß plus ein paar entscheidende Zentimeter fehlte.
Hinter mir sangen 33 Seebären mit vollem Herzen und noch viel vollerer Lunge Döntjes. Kameradschaftliche Geselligkeit sprudelte um die Wette mit dem Champagner aus den Geheimvorräten. Die 33 Seebären hatten mit ihrem männlich-käsigen Trottellummengeruch meine Damen und den einen Herrn kurzerhand eingemeindet und sangen sie gefühlvoll an: „Äs ick jung an Johren wär“. Dazwischen kreiste die nächste Runde Schampus und ließ den Gesang noch beseelter klingen: „And he kissed her on the face“. Das Seemannsgarn wirkte so ansteckend, dass die ersten Damen sich stimmlich anschlossen: „Adieu my fair young maidens“. 33 Seebären schunkelten innig mit meinen Damen und dem einen Herren: „Can't you dance the Polka?“
Und der 34ste Bär saß vor mir und hielt mir seinen Stumpf entgegen.
„Was soll das, Sie brauchen doch keinen Schuh“, sagte ich. „Kleben Sie einen dicken Filzgleiter drunter, damit sie besser von hier ABHAUEN können, wie ich das nämlich gleich tun werde, ich hab die Nase voll von dem Geruch und dem Theater.“
„Nu, verlieren Se man die contenance nich! Dass ich Ihnen den Dösbaddel hier machen muss, da kann ich nix für, min Deern“, entgegnete er.
Hinter mir entfesselten sich die Shanties und ihre Sänger immer mehr, die weiblichen Stimmen quiekten in vergnügter Eintracht mit Tenören, Baritönen und Bässen: „Away, haul away, O, haul away together, Away, haul away, O, haul away, Joe!“
Der Herr mit dem Stumpf fuhr fort: „Ne, ne, dass ich nu so fußlos nackich kommen muss, das tut ja nu nich not, bist ja een fixen Deern. Kannst dich drehn wie du willst, dien Mors bleibt immer achtern. Ich glaub, der Lütte da drüben mit dem Röckchen, der sich an unsern Klabauter-Peer nu ranklötert, ich glaub, der Kerl da drüben trägt mein Holzbein!“
Und wirklich sah ich den stellvertretenden Geschäftsführer. Vor Dinosocke. Beide Knie demütig gebeugt auf dem Marmorboden, gestützt auf den linken Arm, der mit dem daran geschnallten Holzbein meines letzten Kunden verziert, zu einem weiteren Bein mutiert war. Den rechten Arm zum Schwur erhoben, hockte er wie eine etwas tuntige, dreibeinige Gallionsfigur vor Dinosocke und hielt um dessen Pranke an.
PS:
Dem Vernehmen nach sollen die Trottellummen die Challenge mangels Teilnahme nicht gewonnen, aber dennoch eine sehr intensive Zeit hier in Frankfurt erlebt haben. Meine Damen habe ich bis auf eine etwas ältere nie mehr wiedergesehen und mein stellvertretender Geschäftsführer tanzt gerüchteweise seit diesem Abend Gogo bei Shantytreffen.