Luzifer
Daniel Polster
Luzifer
Die himmlische Hierarchie:
"Die Drei, die Eins sind" (Synonym: Heilige Dreifaltigkeit, Trinitas, Triade) bestehend aus Kyrios (später Iehova/Allah genannt; Gott), dem Richter (seinem Sohn) und Hagia (Kurzform für Pneumia Hagion, den Heiligen Geist)
1. Engelskaste (Seraphim): Engel mit dem Körper einer Schlange und drei Paar Flügeln; die Leibgarde Gottes; ein Vertreter ist Metatron, die "Stimme" Gottes
2. Engelskaste (Cherubim): vor der Erschaffung des Menschen tragen sie die drei Gesichter des Adlers, Löwen und Stieres; ihr Hauptaufgabengebiet liegt in der Bewahrung der Natur und dem Schutz Edens, der Erde vor dem Erscheinen des Menschen
3. Engelskaste (Thröne = "Engel des goldenen Lichts"): die fanatischen Elitetruppen der himmlischen Streitkräfte
4. - 6. Engelskaste (die "Gewalten", "Tugenden" und "Mächte"): Engel, deren Aufgabengebiet sich auf das Bewahren von Wissen, Glauben und Harmonie erstreckt; sie überwachen und verwalten die Erfüllung von Gottes Anordnungen durch die niederen Engelskasten
7. - 8. Engelskaste (Erzengel): Befehlshaber der himmlischen Streitkräfte bestehend aus tausenden Engeln der 9. Kaste
Mitglieder sind u.a.: Luzifer (der "Lichtbringer"; die rechte Hand Gottes), Michael ("der ist wie Gott"; ein Engel bestehend aus Eis; Leiter des Büros für Innere Angelegenheiten), Samael (das "Gift Gottes"; der Todesengel), Uriel (das "Licht Gottes"; Kommandant der Grenztruppen, welche die Barriere zur Hölle bewachen), Gabriel (der "Mann Gottes"; der Laufbursche der Trinitas)
9. Engelskaste (normale Engel): mit Abstand die größte Kaste; einige Tausend Angehörige
Gefallene Engel: der Feind; Bezeichnung für Engel, die in die Hölle verbannt wurden, nachdem sie sich gegen Gott aufgelehnt hatten
Zwischen Himmel und Hölle
Kapitel 1
Ein winziges Licht schob sich über den Horizont, sondierte die dunklen Wasser zu seinen Füßen, blinzelte zweimal, und beschloss schließlich, nicht wieder in die Finsternis hinab zu tauchen, aus der es soeben entkommen war. Seine Strahlen tasteten über die Wellen des ruhig schlafenden Ozeans, suchten nach etwas oder jemandem, der ihrer Gewahr wurde.
Ein Funkeln in Gottes Auge. Nein, nicht im Auge des alten Herrn, sondern im Antlitz des Universums, berichtigte sich Luzifer, und starrte gebannt auf das Spektakel, das sich seinen Blicken bot. Jeden Tag das gleiche Schauspiel, und doch verliert es nichts an seiner Faszination, dachte er und seufzte.
Das Licht hatte zusehends an Intensität gewonnen. Die Sonne war jetzt so hoch gestiegen, dass sie eine flach-ovale Scheibe über den endlosen Weiten des Ozeans formte. Eine Möwe tauchte in die leuchtend-goldenen Wogen und sicherte sich ihr Morgenmahl. Keine einzige Wolke war am Himmel zu sehen, der Sonnenaufgang war einfach perfekt. Das Spiegelbild des gelben Sternes tanzte auf der lebend-anmutenden Oberfläche des Wassers. Ein leichter Wind wehte aus Richtung Westen und spielte sanft mit den Federn auf Luzifers Rücken. Die riesigen vogelähnlichen Schwingen wippten leise zu einer Musik, die nur er selber hören konnte.
Wie doch ein einziger Augenblick der Ruhe und des Glücks all den Zorn und Schmerz der letzten Wochen neutralisieren kann, dachte Luzifer. In solch einem Moment könnte man fast glauben, das Universum sei nicht das lebensfeindliche, entropiegesteuerte Monster, als das es sich immer wieder präsentierte. Mit dem alten Herren als seinem egozentrischem Werkzeug, dachte er bitter.
"Kommst du noch immer jeden Tag hierher?", riss eine vertraute Stimme Luzifer aus seinen Gedanken. Wütend drehte er sich um. "Was willst du, Michael?"
"Hier vom Ostwall des kleinen Südkontinents hat man wirklich einen atemberaubenden Ausblick auf den Sonnenaufgang", murmelte sein Gegenüber. "Mein Kompliment, du leistest wirklich ganze Arbeit."
"Die Sonne über das Firmament gleiten zu lassen, ist eine meiner kleinsten Übungen", zischte Luzifer. "Ich habe keine Lust auf Höflichkeitsfloskeln, also komm zur Sache! Was willst du?"
Michael hob beschwichtigend die Hände, seine Schwingen klappten sich eng an seinen Rücken. "Immer mit der Ruhe, Bruder! Für einen Erzengel bist du ziemlich leicht zu reizen."
"War das alles?", schnaubte Luzifer.
Als hätte er die Frage nicht gehört, lief Michael ein paar Schritte auf dem Gebirgskamm entlang und richtete seinen Blick auf die Sonne, die den Horizont mittlerweile hinter sich zurück gelassen hatte. "Man sagt, du hast Probleme mit dem Boss. Es gibt Gerüchte, denenzufolge, es in letzter Zeit ein paar... Meinungsverschiedenheiten gab." Er richtete seinen Blick auf Luzifer, der sich merklich versteifte. Seine Augen schienen ein Loch in den Körper des anderen Engels zu bohren.
"Die Seraphim haben also mal wieder getratscht", sagte Luzifer mit einer monotonen Stimme, in der sich leichte Anzeichen von aufflammendem Zorn erkennen ließen. "Und natürlich übertreiben sie maßlos. Von Problemen kann keine Rede sein. Es gab nur einen kleinen Streit, da Gott glaubt, mir ständig seine Macht demonstrieren zu müssen." Er schnaubte. Düster drang die Erinnerung auf ihn ein. "Mir! Mir, der die Sonne jeden Morgen am Himmel erscheinen lässt!"
Er unterbrach sich, als er den leicht schockierten Ausdruck in Michaels Gesicht erblickte. Mit Mühen gelang es ihm, sich auf seine innere Ruhe zu konzentrieren, und sein emotionalen Ausbruch zu mildern. "Aber wir haben uns ausgesprochen, und jetzt ist alles wieder in Ordnung", fügte er wesentlich ruhiger hinzu.
"Sieht nicht so aus", erwiderte Michael und streckte seinen rechten Arm in Richtung Osten.
"Was?", fragte Luzifer verdutzt und richtete seinen Blick auf die riesige, dunkle Wolke, die aus dem Nichts erschienen war, und sich vollständig vor die Sonne legte. Mit einem Mal wurde es dunkel.
"Wie...?", keuchte Luzifer. "Er macht schon wieder mein Werk kaputt, nur um mir seine Macht zu zeigen. Was will er damit bezwecken? Was glaubt er, wer er ist?", schrie er außer sich vor Wut.
Mit einem Mal krochen unzählige Auseinandersetzungen und Konfrontationen der vergangenen Wochen und Monate gleichzeitig aus seinem Bewusstsein hervor. Die Erinnerungen umspülten und blendeten seine Gedanken. Ein Zittern durchlief seinen Körper, während angestaute Emotionen die Kontrolle übernahmen.
"Wie kann er es nur wagen? Das wird er noch bereuen!" Die letzten Worte brüllte er mit solch einem Zorn heraus, dass die Wolke von der ungeheuren emotionalen Wucht zerrissen wurde.
Ein Blitz spaltete den Himmel und schlug wenige Meter vor Luzifer in die Bergkette ein. Eine Felslawine suchte sich tosend ihren Weg nach unten. Eine Barriere in Luzifers Geist tat es den Felsen gleich. Der Erzengel entfaltete seine Flügel zu voller Größe und setzte an, sich in blinder Raserei in den Himmel empor zu schwingen, als Michael sich auf ihn stürzte und ihn zu Boden warf.
"Ruhig, Junge, ganz ruhig!" Er musste seine ganze Kraft aufwenden, um den tobenden Bruder vor der größten Dummheit seines Daseins zu bewahren. "Du kannst dich nicht mit ihm anlegen! Er ist der Chef! Und du... du bist nur ein Erzengel, Angehöriger der siebten Engelskaste. Der siebten, hörst du! Nicht der ersten oder zweiten, sondern der siebten! Du spielst nicht mal ansatzweise in seiner Liga! Also, bleib ruhig!"
Luzifer bäumte sich auf. "Wir Erzengel sind mächtiger als du glaubst, mein Freund!", schrie er. "Wir sind Soldaten. Keine Bibliothekare, Hofnarren oder Speichellecker wie die Seraphim und Cherubim. Sondern echte Krieger. Jeder von uns befehligt ganze Divisionen von Engeln. Ich weiß nicht, wie's bei dir aussieht, aber meine Truppen stehen voll und ganz hinter mir. Welcher Engel der ersten oder zweiten Kaste verfügt schon über solches Potential? Die Seraphim und Cherubim ahnen doch nicht einmal, was wahre Macht bedeutet!"
Langsam ließ sein Widerstand nach, und Michael lockerte seinen Griff. "Beantworte mir bitte eine Frage, Bruder. Warum existieren wir und unsere Legionen?"
"Soll das ein Test sein?", fragte Luzifer wütend. "Natürlich um den Himmel vor den Gefallenen Engeln zu beschützen. Den Rebellen, die sich seit Anbeginn der Schöpfung von Gott losgesagt haben, und ihr Dasein in der dunkelsten Hölle fristen."
"Das ist richtig. Und willst du sie begleiten?"
Mit einem Mal erschlaffte Luzifers Widerstand. "Wie... wie meinst du das?", fragte er stirnrunzelnd. Der Schleier aus Wut, der seinen Verstand benebelt hatte, zeigte erste Auflockerungen und ließ ein paar beunruhigende Gedanken bewusst werden.
"Wenn du Gott angegriffen hättest, wärest du selber zum Gefallenen Engel geworden", mahnte Michael.
Luzifer zwinkerte nervös. Scham kroch tief aus seinem Inneren empor. "Bei allem, was mir heilig ist, was habe ich getan?", flüsterte er. "Wie konnte ich mich nur meinem Zorn hingeben?" Beinahe hätte ich die Arbeit von Jahren in einem unbedachten Augenblick geopfert, dachte er bestürzt.
"Ist schon gut", beschwichtigte ihn Michael. "Technisch gesehen, hast du ja nichts gemacht. Ich werde niemandem was erzählen, wenn du's auch nicht tust. Und der Chef wird bestimmt ein Auge zu drücken. Schließlich bist du seine rechte Hand."
Deswegen bin ich nicht erschüttert. Ich habe keine Angst vor dem Alten, dachte Luzifer. Und auf dein Mitleid kann ich verzichten, du Narr von einem Bruder. Du hast doch keine Ahnung, worum es eigentlich geht. Erst wenn es zu spät ist, wirst du merken, was hinter deinem Rücken all die Jahre vorbereitet worden war. Dann wirst du genauso überrascht sein wie der Alte höchstpersönlich.
"Da fällt mir gerade ein", unterbrach Michael seine Gedankengänge. "Der Boss will dich sehen. Deshalb bin ich hergekommen."
Luzifer spürte, wie sich eine eiskalte Klaue um seinen Hals legte. Hatte der senile Greis etwas bemerkt? Wusste er gar Bescheid? Aber woher und wie? Die Gerüchte um Gottes Allwissenheit hielt Luzifer seit jeher für absurd übertrieben, doch nagten in diesem Moment ernsthafte Zweifel an seinem Bewusstsein. Doch wenn er allwissend wäre, hätte er schon längst etwas unternommen - schon vor Jahrzehnten, und nicht erst jetzt, versuchte der Erzengel sich zu beruhigen. Ich bin seine rechte Hand, wieso sollte er mir misstrauen?
Er schluckte. "Hat er gesagt, was er von mir will?", fragte er mit mühsam unterdrücktem Zittern in seiner Stimme.
Ernste Augen fixierten seinen Blick. "Das sagt er dir lieber selbst", flüsterte Michael.
Die Klaue um Luzifers Hals drückte merklich zu.
Kapitel 2
Sie sind alle hier, dachte Luzifer und ließ seinen Blick über die Gestalten schweifen, die rechter und linker Hand des Himmelsthrones Stellung bezogen hatten. Es ist wirklich ernst, wenn der alte Herr seine beiden Schoßhündchen her beordert hat. Einen kurzen Anfall von Furcht unterdrückend, richtete der Erzengel seine Aufmerksamkeit auf denjenigen, der majestätisch das Innere des gewaltigen Thrones ausfüllte. Er spielt schon wieder seine Spielchen, dachte er grimmig. Wenn ich wollte, könnte ich mich auch auf die zehnfache Größe aufplustern. Merkt er nicht, wie lächerlich er sich mit diesen albernen Machtspielchen macht?
Aus den Augenwinkeln behielt er die beiden anderen Mitglieder der heiligen Triade im Auge. 'Die drei, die eins sind' sind nichts weiter als eine Gruppe von Angebern und Scharlatanen, dachte Luzifer grimmig. Sie sind nicht halb so mächtig, wie sie glauben, doch sichern sie sich die Ergebenheit der Engel durch billige Tricks und Kunststückchen.
Er schrak zusammen, als er bemerkte, dass die mit einer Kapuze verhüllte Gestalt zur rechten Seite des Thrones ruckartig den Kopf hob, und den Erzengel mit durchdringenden Augen musterte. Kann der Bengel etwa Gedanken lesen?, dachte Luzifer bestürzt. Nicht viel war unter den Engeln bekannt über denjenigen, den alle nur "den Richter" nannten. Er war Gottes Sprössling, soviel war allgemein publik, doch welche Aufgabe der alte Mann ihm zugedacht hatte, wusste niemand. Es gab Gerüchte, denenzufolge der Gottessohn als Richter, oder vielmehr Auftragskiller, unter einer Gruppe gefallener Engel gewütet haben soll, doch war diese Legende wohl zweifellos der Propagandaabteilung der Seraphim zuzuschreiben, dachte Luzifer.
Wieso können nicht alle drei so aussehen wie Hagia? Mit einem inneren Lächeln zwinkerte er der Frau auf der linken Seite zu. Wenn sie nicht so ein kaltes, gefühlloses Biest wäre, dann...
"Die Trinitas heißt dich willkommen, Luzifer. Angehöriger der siebten Kaste. Persönlicher Adjutant des Kyrios, des heiligen Vaters", ergriff Metatron, von dem Luzifer erst jetzt Gewahr wurde, das Wort.
Des Erzengels Flügel wippten in erzwungener Ehrerbietung. Alberne Rituale, zischte er innerlich. Als ob er nicht selbst mit mir reden könnte. Statt dessen spricht er durch diese Marionette eines Seraphen. Nicht das erste Mal fragte sich Luzifer, ob Metatron überhaupt noch einen eigenen Willen besaß. Zumindest reicht seine Intelligenz aus, um nachher zu seinen Brüdern zu fliegen und ihnen haarklein zu erzählen, was die Drei mit mir zu besprechen hatten, dachte er grimmig. Er konnte sich ausmalen, wie das Topthema des Tages lauten mochte: 'Gott deckt geheime Verschwörung seines engsten Engelsvertrauten auf. Luzifer in Misskredit geraten. Wer wird die neue rechte Hand des Chefs?'
"Wir haben eine Widerstandszelle enttarnt", fuhr Metatron fort. "Wie du sicherlich weißt, Luzifer, leidet das Reich seit einigen Jahren nicht nur unter der ständigen Bedrohung von außerhalb durch die Gefallenen Engel, sondern auch durch zunehmend erstarkende Kräfte von innen. Die Gefallenen sind dank der Hilfe von deinesgleichen und euren Truppen keine unmittelbare Gefahr, doch die Rebellen bereiten der Trinitas mehr und mehr Sorgen. Die Sabotageakte und versteckten Überfälle häufen sich von Jahr zu Jahr."
Ich weiß, mein gefiederter Freund, dachte Luzifer und spürte eisige Kälte von seinem Körper Besitz ergreifen. Die Triade hatte ihn als Anführer des Widerstandes enttarnt, wieso sollte sie ihn sonst mit diesen allgemein bekannten Tatsachen quälen?
"Doch letzte Woche fand ein Angriff rebellischer Engel auf unsere biologische Forschungsanlage in Zentralafrika statt. Eine Reihe Zuchttanks wurde zerstört, sogar einige..." Metatron runzelte die Stirn. "Spezimen wurde entwendet."
Wie bitte? Luzifer versuchte sich seine Irritation nicht anmerken zu lassen. Was für eine Forschungsanlage? Was für Spezimen? Er hatte von keinen neuen gentechnischen Versuchen gehört, seit die letzten Tierarten auf der Erde Fuß gefasst und sich fleißig verbreitet hatten.
"Wir konnten die Spur der Angreifer zurück verfolgen. Das ist der Punkt, an dem du ins Spiel kommst, Luzifer."
Oh, oh, jetzt kommt's. Er wappnete sich auf die entscheidende Anklage.
"Du sollst diese Widerstandszelle ausrotten! Verbreite das Licht des Herrn und bringe Verdammnis über seine Gegner! Gott will, dass du diese Rebellen in die Hölle verbannst!"
Was? Luzifer schnappte laut nach Luft. Er spürte die bohrenden Augen Hagias und des Richters, doch Gott lächelte ihn unschuldig an.
"Du kannst jetzt gehen", befahl Metatron.
Unfähig, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen, verneigte sich der Erzengel zitternd und verließ den Thron so schnell es seine Würde zuließ. Noch halb im Gehen befürchtete er, die vernichtenden Worte Gottes in seinem Rücken zu spüren, doch blieb der erwartete Schuldspruch aus. Die Triade hatte scheinbar nicht die geringste Ahnung.
Kapitel 3
Krachend stürzte die Mauer in sich zusammen. Eine Stichflamme schoss in das Innere der Höhle und brachte die Wände zum Glühen. Tobendes Feuer schmolz die Ränder des künstlich erschaffenen Eingangs und brachte die Luft zum Kochen. Inmitten des Infernos zeigten sich die unscharfen Umrisse einer Person. Langsam gewann die Form an Kontur, dann sprang der Eindringling plötzlich vor und packte den nahestehendsten der verdutzten Engel, die von dem plötzlichen Einfall in ihr Versteck wie gelähmt waren.
Luzifer schleuderte sein Opfer herum und ließ es schmerzhaft gegen die Hinterwand der Höhle krachen. "Seid ihr denn wahnsinnig?", schrie er. Die anderen drei Engel schienen einen halben Kopf zu schrumpfen, und halfen ihrem Kameraden wieder auf die Beine zu kommen.
Der Erzengel konnte nur mit Mühe seinen Zorn unterdrücken. "Was habt ihr euch bei diesem Angriff nur gedacht? Wie konntet ihr nur eure Spur zurück verfolgen lassen? Ihr seid meine Untergebenen, stellt euch vor, der Alte hätte einen anderen Hohen Engel als mich gesandt! Vielleicht sogar den Richter!"
Bei der Erwähnung dieses Namens zuckten die Engel noch weiter zusammen. Es kostete sie allen Mut, aufrecht stehen zu bleiben, und die Tirade über sich ergehen zu lassen. Doch Luzifer war noch nicht besänftigt.
"Die Spur hätte bis zu mir zurück verfolgt werden können, ihr Schwachköpfe! Das hätte das Ende des Widerstands bedeutet! Wir sind noch nicht zahlreich genug, um uns öffentlich bekennen zu können! Kapiert ihr das denn nicht?"
Vorsichtig nickten die Engel mit kurzen abgehackten Bewegungen. Ihre Augen waren schuldbewusst zum Boden gerichtet.
"Wieso", fuhr Luzifer fort, "habt ihr überhaupt dieses Biozentrum angegriffen? Von mir stammt kein derartiger Befehl. Bis vorhin wusste ich nicht einmal von dessen Existenz."
"Vielleicht kann ich da weiterhelfen", meldete sich eine Stimme aus der Tiefe der Höhle zu Wort. Die vier ertappten Engel atmeten hörbar auf. Offenbar waren sie froh, dass jemand die Verantwortung für ihre Taten übernahm.
Irritiert blickte Luzifer zu dem Neuankömmling hinüber, und zog im gleichen Moment scharf die Luft ein. Glühende Adleraugen stachen ihm aus der Dunkelheit entgegen. "Wir sind ertappt", stammelte Luzifer, fing sich jedoch sofort wieder, und setzte zum Angriff auf den Cherub an, der aus den Schatten aufgetaucht war.
Dieser hob abwehrend die Hände und fiel auf seine Knie. "Ich bin nicht euer Feind, edler Erzengel", sagte der Cherub beschwichtigend, wobei er dieses Mal mit dem Gesicht des Stieres sprach. "Vielmehr bringe ich dem Führer des Widerstandes die aufrichtige Anerkennung der gesamten Cherubim dar. Wir wussten, dass ein mächtiger Engel der Drahtzieher sein musste, doch bin ich höchst überrascht, dass ausgerechnet die rechte Hand Gottes hinter allem steckt. Eure Soldaten haben euch nicht verraten, selbst als ich ihnen den Angriffsplan auf die biotechnische Forschungsanlage unterbreitete."
Tiefe Furchen zogen sich über Luzifers Stirn. "Einen Augenblick, bitte schön langsam", sagte er und wippte nervös mit den Flügeln. "Seit wann sympathisieren die Cherubim mit dem Widerstand?"
Ein Schaudern lief über Luzifers Rücken als er das bösartige Grinsen sah, dass sich in das Gesicht des Cheruben stahl. "Wir Cherubim sind es leid, ständig die zweite Besetzung hinter den Seraphim zu spielen. Sollte der Widerstand jedoch letztlich siegreich sein, wovon wir ausgehen, dann würde jeder Seraph Gott auf seinem Wege in die Verbannung begleiten."
"Und diesen Blödsinn soll ich glauben?" Der Erzengel verzog angewidert das Gesicht. "Für wie dumm haltet ihr mich eigentlich? Habt ihr auch einen Namen, Cherub?"
"Man nennt mich Ysiel..."
"Ich hab noch nie von einem Cherub namens Ysiel gehört", unterbrach ihn Luzifer. "Vielleicht sollte ich euch einfach töten, und wieder zur Tagesordnung übergehen."
Der Cherub senkte unterwürfig den Kopf. Das hinterhältige Grinsen, dass sich in sein Gesicht stahl, blieb Luzifer verborgen. "Überstürzt nichts, oh mächtiger Lichtbringer. Allein die Tatsache, dass du noch nichts von mir gehört hast, unterstützt die Tatsache, dass wir Cherubim nur im Schatten der Seraphim stehen. Und das wollen wir ändern. Besonders..." Er legte eine theatralische Pause ein, genau wissend, dass diese ihre Wirkung auf Luzifer nicht verfehlen würde.
"Besonders was?", fuhr ihn der Erzengel ungeduldig an.
Eine weitere Pause folgte, dann sprach Ysiel weiter. "Besonders seit uns Informationen über das biotechnische Zentrum in Zentralafrika zugekommen sind. Wir wussten schon seit langem über die Widerstandszelle hier Bescheid, also wurde ich geschickt, um die Rebellen zu einem Angriff zu bewegen. Die Forschungseinrichtung darf nicht weiter bestehen. Wir wissen zwar nicht, was Gott genau im Sinne hat, doch sind wir sicher, dass sich die Machtverhältnisse erheblich verschieben werden, wenn die Wissenschaftler erst erfolgreich sind."
Luzifers Blick verfinsterte sich weiter. "Ihr sprecht andauernd von dieser Einrichtung. Was wird dort überhaupt geforscht? Soll noch eine weitere Tierart auf der Erde angesiedelt werden? So groß ist der Planet nicht, es ist jetzt schon kaum Platz für die bisherigen Bewohner. Außerdem ist das ökologische Gleichgewicht viel zu fragil, als es unnötig zu belasten."
Das Löwenhaupt Ysiel's schüttelte sich energisch. "Es geht nicht um irgendeine Tierart, das beweist schon die Tatsache, dass die Leitung des Projektes einem Seraph zugeteilt worden ist."
"Himmel! Das ist wirklich ein beunruhigendes Zeichen!", zischte Luzifer. "Wenn ein Engel der ersten Kaste niedere Arbeit verrichtet, dann kann das nichts gutes bedeuten. - Aber was genau ist denn nun der Zweck des Biozentrums?"
Ysiel gab den vier Engeln, die bisher nur unbeteiligte Zuschauer gewesen waren, ein Zeichen, und diese eilten in die Tiefe der Höhle. Nach wenigen Sekunden kehrten sie zurück, zwischen sich einen zwei Meter langen, aus durchsichtigem Material bestehenden Glaszylinder tragend.
"Wir konnten ein Exemplar entwenden, ehe uns die Verteidigungsstreitkräfte zurück drängten. Sie dir das 'Tier' genau an, Luzifer."
Vorsichtig trat der Erzengel näher an den Zylinder heran und wendete sich gleich darauf angewidert ab. "Um Gottes Willen, was haben denn die Wissenschaftler mit diesem Affen gemacht? Er ist ja total deformiert. Auch sein Körperfell ist viel dünner als normal, der würde keine Woche in Freiheit überleben."
"Dies, mein lieber Luzifer", sagte Ysiel belehrend, "ist Spezimen 52 aus einer langen Reihe von gezielten Genmanipulationen am Erbpool eines Affen, wie du schon richtig gesehen hast. Doch die gentechnischen Veränderungen sind noch lange nicht abgeschlossen. Zum Glück, muss ich sagen, denn das Endergebnis wird erschreckend sein!"
Der Ernst in den Augen des Cherub ließ Luzifer einen Schauer über den Rücken laufen. "Wie kommt Ihr darauf?", fragte er.
Ysiel seufzte. "Sieh dir seine Hände an", flüsterte er.
Ohne zu Zögern kam der Erzengel der Aufforderung nach und hielt die Luft an. "Bei allen himmlischen Sphären!", keuchte er. "Was ist das für ein krankes Experiment? Das sind nicht die Hände eines Tieres! Das... das sind die Hände eines Himmelsbewohners!"
"Das Wesen, das du hier siehst, wird die Zukunft für immer verändern", sagte Ysiel. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: "Das ist der Prototyp eines Menschen."
Zeit des Richtens
Kapitel 4
Endlich ist es soweit. Die Früchte meiner Arbeit sind reif zum Ernten. Luzifers Glauben an die Trinitas ist nur noch eine Fassade, hauchdünn und bereit hinweg gewischt zu werden, um die unvorstellbaren Kräfte zu entfesseln, die sich in den letzten Wochen in seinem Inneren gestaut haben. Ich darf meiner Marionette keine Zeit lassen, die Informationen zu verarbeiten. Der Zeitpunkt für meinen größten Trumpf ist gekommen. Die Bauern sind auf dem Spielfeld erschienen und haben ihre Positionen bezogen. Jetzt kommen die schweren Geschütze... dann endlich kann das Inferno beginnen!, dachte Ysiel und bezwang nur mit Mühen den unbändigen Wunsch, in schallendes Gelächter auszubrechen.
"Und nun, oh mächtiger Erzengel, sieh in den Geist der Kreatur. Sieh tief hinein. Spüre. Spüre die Essenz...", flüsterte Ysiel, ein hämisches Lächeln mit Widerwillen unterdrückend.
Argwöhnisch verengten sich die Augen des Erzengels, als er das Gesicht des genetisch veränderten Affen näher musterte. Zunächst schien es, als würde er nicht bemerken, auf was der Cherub ihn hinweisen wollte. Doch plötzlich weiteten sich seine Augen und er stolperte nach Luft schnappend zurück.
"Das... das ist... das kann einfach nicht sein... nein, das darf einfach nicht sein! Das ist völlig unmöglich!", stammelte er. Die Federn seiner Flügelspitzen spreizten sich vor Abscheu und blankem Entsetzen.
Mit verschränkten Armen stand Ysiel schweigend daneben und beobachtete interessiert die Reaktion des Erzengels. Dessen Gedanken rasten, während er verzweifelt versuchte, eine logische Erklärung für das Gesehene zu finden. Doch war dieser Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt.
"Er", Luzifer spuckte dieses Wort geradezu heraus, "hat diesem Tier eine Seele gegeben. Eine Seele! Die wenigsten von uns Engeln haben eine! Er macht uns diesen... diesen Monstrositäten untertan!"
Wut und Hass paarten sich zu dem Schock, der ihn befallen hatte, und gewannen letztlich die Oberhand. Die Luft fing plötzlich Feuer und brannte lichterloh. Entsetzt sprangen die anderen Engel zur Seite als Flammenfinger in alle Richtungen loderten. Der Boden der Höhle bebte. Kleinere Felsbrocken lösten sich von der Decke und prasselten zu Boden, während Luzifer die tobenden Energien in seinem Inneren bündelte. Im wahrsten Sinne des Wortes kochte er vor Wut.
"Der Alte ist verrückt geworden! Die Macht und Arroganz haben seine Gedanken vergiftet und seinen Verstand zerstört!", tobte er.
"Er ist eine Gefahr für den ganzen Planeten", fügte Ysiel berechnend hinzu. Luzifers Zorn ist ein idealer Nährboden für unterschwellige Bemerkungen, dachte er grimmig.
"Eine Gefahr! Ja... er ist eine Gefahr für die ganze Erde! Er und diese... Mutanten!", schrie der Erzengel und richtete einen Finger auf den reglosen Menschen zu seinen Füßen. Ein Flammenblitz schoss daraus hervor und hinterließ einen ansehnlichen Krater. "Wir müssen... wir müssen..."
"Ihn stürzen", führte der Cherub den begonnenen Satz zu Ende. So, nun ist es raus. Mal sehen, wie er darauf reagiert, dachte er.
"Was?", schrie Luzifer und durchbohrte sein Gegenüber mit glühenden Augen. "Nein... nein! Das ist völlig ausgeschlossen. Er ist schließlich Gott!"
Ysiel's Miene verfinsterte sich. Was soll das denn jetzt auf einmal? Bei allen Himmeln, der ist ja doch schwerer zu beeinflussen als ich dachte. Er klammert sich an einen letzten Funken Loyalität, der ihm geblieben ist. Dabei wollte er noch vor wenigen Stunden im Alleingang den Himmelsthron stürmen. "Es ist die einzige Möglichkeit. Hör auf die Stimme in Deinem Inneren, großer Erzengel. Hör auf die Stimme und erkenne die Wahrheit. Es ist die einzige Möglichkeit."
"Nein... nein, das ist... das kann...", keuchte Luzifer und brach auf den Knien zusammen. Das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer. Die Entscheidung drückte mit der Masse einer ganzen Welt auf seine Brust. Einige Augenblicke sprach niemand ein Wort, dann richtete sich der Erzengel langsam auf. Neue Zuversicht flammte in ihm auf, stützte und stärkte seinen Körper. Seine Stimme schien aus tiefster Dunkelheit zu tönen.
"Ihr habt recht. Die letzten Stunden der Trinitas sind gezählt. Es wird Zeit, dass die Vereinigten Kräfte des Widerstandes und der Cherubim die Kontrolle übernehmen. Es gibt keine Alternative." Seine Augen wichen bodenloser Schwärze. "Wir müssen angreifen!"
Ysiel lächelte; ein hämisches, sich der vollen Kontrolle bewusstes Lächeln, das seine Löwenmine zu einer bösartigen Fratze verkommen ließ.
Kapitel 5
Mit einem ohrenbetäubenden Krachen platzte die planetare Kruste auseinander. Kräfte jenseits aller Vorstellungskraft rissen an den Kontinentalplatten, schoben sie nach vorn und zurück, tauchten sie tief in das Innere des Planeten, nur um sie kurz darauf in gigantische Höhen zu schleudern. Eine infernale Hitze schmolz Gestein und verdampfte Erdreich. Die Atmosphäre stand in Flammen, jegliches planetare Spurenleben war schon vor Minuten von der unbarmherzigen Strahlung verschlungen worden.
Der Planet kochte; ein riesiger Flammenball, der jedoch winzig neben seinem großen Bruder aussah, der sich ihm mit rasender Geschwindigkeit näherte.
Endlich erreichten die ersten Partikelwellen ihr Ziel und zerrissen die groteske Magmamasse, die alles war, was von dem einstmals wunderschönen Planeten übrig geblieben war.
Die Zerstörungsfront der Supernova raste unaufhaltsam weiter, absolute Vernichtung im Schlepptau ihrer flammenden Bahn ziehend. Ein ganzes Planetensystem hauchte sein Leben mit einem brüllenden Inferno aus. Ein System, das noch nicht einmal lange genug existiert hatte, als dass ihm jemand hätte einen Namen geben können.
Doch die Ereignisse in diesem Sektor des Weltraums waren kein Einzelfall. Überall im Universum starben Welten, explodierten Sterne, ja sogar ganze Galaxien kollabierten, und gaben Millionen Planeten der Vernichtung preis.
Die Ewigkeit bereitete sich auf die größte Schlacht aller Zeiten vor, und brachte das Gefüge von Raum und Zeit zum Beben.
Inmitten des einbrechenden Chaos präsentierte sich ein Anblick, wie ihn kein Auge jeh zuvor gesehen hatte. Zwei Millionen Flügelpaare peitschten die Luft um einen kleinen Planeten am Rande einer unscheinbaren Galaxis. Rüstungen schimmerten in den unterschiedlichsten Farben des Regenbogens, Flammenschwerter blitzten, bläuliche Auren persönlicher Schilde flackerten.
An forderster Front erstrahlten zwei Miniatursterne - der eine so hell wie die Sonne, der andere so dunkel wie die Nacht.
Kapitel 6
"Ich habe Luzifer gesagt, er solle angreifen, sobald er die Truppen des Widerstandes mobilisiert hat. Wir müssen also jeden Augenblick mit dem Einsetzen des Sturmes rechnen", meinte Ysiel und musterte den Verhüllten, der vor seinen Füßen kniete.
"Soll ich die Truppen in Alarmbereitschaft setzen, Herr?", fragte der Knieende.
"Nein!" Ysiel hob abwehrend die Hand. Er ist ein guter Soldat und Schüler, aber manchmal auch ein wenig ungestüm. "Dafür ist es zu früh. Der Widerstand hat überall seine Spitzel. Wenn die Divisionen alarmiert sind, wird der Lichtbringer es erfahren, und den Angriff womöglich abbrechen."
"Das glaube ich nicht, Herr", sagte der Verhüllte, richtete sich auf und ging zum riesigen Panoramafenster, dass den ansonsten karg ausgestatteten Raum mit ewigem Licht erfüllte. "Immerhin habt Ihr ihm die Hilfe der Cherubim versprochen. Zusammen mit seiner Armee hält er einen Sieg für möglich."
Der Cherub lachte. "Der arme Irre. Obwohl die Streitmacht eines Hohen Erzengels gewaltig ist, werden die Himmlischen Truppen mit seinen Rebellen kurzen Prozess machen. Egal, ob sie in Alarmbereitschaft sind oder nicht."
Der Blick des Verhüllten verlor sich in der Ferne. Ohne die geringste Geste fügte er trocken hinzu: "Wer sagt, dass er nur seine eigenen Soldaten gegen den Himmel führt, Herr?"
"Was willst Du damit sagen?" Falten fraßen sich in die Stirn des Cheruben als er mit seinen Adleraugen den Horizont nach der näherrückenden Streitmacht absuchte. Seine Flügel spreizten sich vor Überraschung. "Das sind zuviele. Das sind weit mehr Engel als unter Luzifers Kontrolle stehen. Das sind selbst mehr als zwei ganze Armeen." Ysiels Augen verengten sich, als er versuchte, nähere Details zu erkunden. "Der schwarze Stern", flüsterte er.
"Samael", ergänzte der Verhüllte zur Bestätigung. "Scheinbar macht der Lichtbringer mit dem Todesengel gemeinsame Sache. Damit ändert sich die Lage."
"Nein, tut es nicht!", zischte Ysiel. Ganz bestimmt nicht. "Dann haben sie eben doppelt so viele Soldaten wie ich erwartet habe, dennoch haben sie keine Chance." Luzifer ist doch immer für eine Überraschung gut, dachte er.
"Es sind sogar mehr als zwei Armeen", erinnerte ihn der Verhüllte. "Ich kann einige Hundert weitere Engel sehen, dabei große Teile aus Gabriels Kontingent..."
"Was? Dieses Weichei würde niemals rebellieren", unterbrach ihn Ysiel wütend. So war das alles nicht geplant, dachte er, ein kurzes Resümee ziehend. Die ganze Angelegenheit darf mir auf keinen Fall aus den Fingern rutschen. Drei Erzengel wären ein echtes Problem.
"Nein, nein", beschwichtigte ihn der Verhüllte. "Gabriel ist nicht bei den Rebellen. Scheinbar hat er seine Soldaten nicht unter voller Kontrolle, Herr."
"Egal, dafür wird er zur Rechenschaft gezogen werden, wenn alles vorbei ist. Genau wie Michael. Der Geheimdienst hat völlig versagt!" Einen tiefen Atemzug später fasste der Cherub einen Entschluss. "Also gut, alarmiere die Truppen. Wir können sie nicht völlig unvorbereitet lassen. Sieh zu, dass Du alle verfügbaren Ressourcen aktivieren kannst. Vielleicht kann Uriel auch einige seiner Leute entbehren. Wenn wir kein furchtbares Gemetzel hereinbrechen lassen wollen, müssen wir den Widerstand schnell und schmerzlos vernichten."
Kapitel 7
Selbst die dunkelste Nacht erstrahlte wie ein Leuchtfeuer neben der Finsternis, die sich gewaltsam durch die Landschaft fraß. Selbst das kälteste Herz schlug lauter als die absolute Stille, die sich über die felsenbedeckte Einöde gelegt hatte, und jeden Todesseufzer des kargen Landes erstickte. Das Bild beherrschend erstreckte sich ein riesiger Spalt quer durch das Land - unendlich dunkel und unendlich tief. Nichts war zu hören. Nichts. Bis auf das gleichmäßige Schlagen zweier Flügelpaare, die sich von Osten näherten.
"Diese Grenzpatrouillen zerren an meinen Nerven", meinte einer der Engel, während er mit seinem Flügelmann über das Ödland dahin fegte.
"Du hast recht. Ständig glaubt man Stimmen aus der Schlucht zu hören. Ein ewiges Wehklagen, dass an Deine Sinne dringt und Dich Dinge erahnen lässt, die tausendmal schlimmer sind als alles, was Dir Deine Albträume zu bieten haben. Die Stimmen, sie schreien in Deinen Gedanken, sie rufen..."
"Stop!", unterbrach ihn der erste Engel und blickte seinen Kameraden böse an. "Wenn Du nicht willst, dass ich wahnsinnig werde, dann halte um Himmels Willen Deinen Mund!" Eine Weile flogen beide still neben einander her.
"Hsss... kommt doch nääääher..."
"Was?", riefen beide Engel simultan und starrten sich verdutzt an. Langsam senkten sie ihren Augen und blickten in den Abgrund unter ihren Füßen. Ihre Hände zitterten, als Angst ihren Rücken entlang bis in ihre Flügelspitzen kroch. Da niemand von Ihnen gesprochen hatte, musste die Stimme ihren Ursprung dort unten haben.
"Schilde aktivieren!", schrie endlich einer der Engel und durchbrach damit die Paralyse, die von beiden Besitz ergriffen hatte. Seine Hände glitten an seinen Gürtel, und eine Sekunde später schimmerte ein bläuliches Energiefeld und versprach ihm ein Mindestmaß an Schutz vor der möglicherweise drohenden Gefahr. Sein Partner machte es ihm gleich.
"Haaaabt keiine Angssssst...", ertönte die Stimme erneut. Diesmal waren sich die Engel eindeutig sicher, dass der Sprecher in den Tiefen des Spaltes lauerte. Woher er gekommen war, lag auf der Hand.
"Bei allen Himmeln", murmelte einer der Engel. "Wir müssen Uriel Bescheid geben. Die Gefallenen sind wieder aktiv."
Ein höhnisches Lachen erschallte und brachte die Erde zum Beben. "Urielll wird ssssteeeeerben." Erschrocken wichen die beiden Engel ein paar Meter weiter zurück. "Luuuzifeeer wird ssiiiiegen... hsss..."
"Wie bitte? Was ist mit Luzifer...", runzelte der Engel die Stirn.
"Keiiine Zzzzeit zum Plaudeeern", unterbrach ihn die Stimme. "Wiiir müssssen Luuuzifeeer heeelfen..."
Von einem zum anderen Augenblick brach im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle los. Hunderte und Tausende von Dämonen quollen aus dem Schlund der Hölle hervor und stürzten sich auf die beiden Engel der Grenzpatrouille, die kreischend versuchten, ihr grausames Schicksal zu umgehen. Rasiermesserscharfe Klauen schnitten durch ihre Schilde und Rüstungen und setzten ihrem Dasein ein abruptes Ende.
Kapitel 8
Funken sprühten, als das Flammenschwert vom Schild seines Kontrahenten abprallte. Ein zweites Schwert durchbrach das Energiefeld auf der entgegengesetzten Seite und schnitt tief in das Fleisch des Engels, der röchelnd zusammen brach. Blut färbte die Flügel der Angreifer dunkelrot. Lachend stürzten sie sich auf ihr nächstes Opfer.
Der Kampf tobte und wütete. Luzifers Soldaten fielen mit erbarmungsloser Wut über die Verteidiger der Himmlischen Ordnung her, die in einer Eilaktion bewaffnet und mobilisiert worden waren. Zahlenmäßig war die Schlacht nahezu ausgeglichen, doch verfügten die Loyalisten über schweres Kriegsgerät, dass den Rebellen schwer zu schaffen machte. Eine Verteidigungsplattform schnitt unaufhörlich mit Flammenfingern durch die Reihen der Angreifer, brachte Schilde zur Überladung, verbrannte Haut und Knochen. Die Laserbatterien wummerten kontinuierlich und verschafften den Gottestreuen Freiraum und Platz sich zu organisieren und zu planen. Obwohl ein moralischer Faktor auf Seiten der Aufständischen kämpfte, so war ihr Vormarsch dennoch zum Stillstand gekommen und nun versuchten sie mit aller Macht den gewonnenen Raum zu halten.
"Wo sind die verdammten Cherubim?", schrie Samael über das Tosen der Schlacht hinweg. "Ich habe keine Ahnung!", brüllte Luzifer zurück und rammte sein Schwert tief in den Geschützstand einer Plattform, die augenblicklich stotternd erlosch.
***
"Sie fragen sich, wo die Cherubim bleiben", kommentierte der Verhüllte die Schlacht.
Neben ihm stehend warf Ysiel sein Löwenhaupt lachend zurück. "Ich frage mich, wann Luzifer merkt, dass er in eine Falle gelaufen ist." Er schüttelte den Kopf. "Der große Lichtbringer. An seiner eigenen Arroganz erstickt." Ein Stern blitzte am Horizont auf.
"Das war schon wieder eine Verteidigungsplattform, Herr. Die Rebellen schlagen sich wirklich gut. Luzifer schreit unseren Leuten gerade irgend etwas von einer ‚Herrschaft der Tiere' und der geistigen Unzurechnungsfähigkeit Gottes entgegen. Scheinbar versucht er einige der Soldaten zum Überlaufen zu bewegen."
"Gut, dann sortieren wir wenigstens gleich alle Unzufriedenen aus. Aber wieso dauert unser Sieg so lange? Sollten wir Ihnen nicht mindesten drei zu eins überlegen sein?", fragte Ysiel.
"Bis kurz vor Schlachtbeginn waren wir das auch. Doch dann wurden die Gefallenen Engel plötzlich mobil..."
"Was?", schrie der Cherub und blickte den Verhüllten fragend an. "Das kann unmöglich ein Zufall sein!"
"Dieser Ansicht bin ich auch, Herr. Jedenfalls habe ich Rafael mit seinen Truppen zu Uriels Unterstützung schicken müssen. Damit bleiben nur drei Hohe Erzengel zu unserer Verteidigung, und Gabriels Truppen sind sogar gespalten." Er blickte in die Ferne. "Nichtsdestotrotz werden wir gewinnen", fügte der Verhüllte nach einer kurzen Pause hinzu.
Ein weiterer Stern erstrahlte und zeugte vom Ende einer Verteidigungsplattform. "Was ist denn das?", murmelte er und beobachtete angestrengt einen fernen Punkt der Schlacht.
***
"Kämpft gefälligst wie echte Krieger - Engel gegen Engel!", tönte eine tiefe Stimme und begleitete einen Flügelschlag, der das Geschützrohr der schweren Laserbatterie zerschmetterte. Rotglühende Augen funkelten den verdutzten Schützen an, der kurz darauf in Flammen aufging. Schreiend hielt er die Hände vor die Augen, doch war jede Mühe umsonst. Das Feuer leckte und nährte sich von Haut und Knochen.
Der angreifende Engel, der in eine Aura aus blauem Feuer gehüllt schien, nahm Kurs auf die nächste Verteidigungsplattform, hob seine Hand und entließ mit einem kurzen Ausruf eine Schockwelle, die den Geschützstand in seine Moleküle zerfetzte. "Wir werden keine Sklaven der Tiere werden!", brüllte der Engel über den Lärm des Infernos hinweg.
***
"Herr, eine Division Gewalten-Engel ist soeben in die Schlacht eingetreten!", rief der Verhüllte wütend. "Sie nehmen unsere Plattformen auseinander, als wären sie aus Papier. Der Kampf wendet sich zu unseren Ungunsten. Luzifers Leute sind jetzt wieder auf dem Vormarsch!"
"Nein!", schrie Ysiel. Feuerbälle umspielten seine Handflächen und entluden sich in den Wänden des Raumes. "Schick die Thröne aus!", befahl er düster.
"Aber Herr!", meinte der Verhüllte entsetzt. "Die werden keinen Stein auf dem anderen lassen!"
"Na und? Es gibt keine Alternative. Eine Niederlage wäre völlig inakzeptabel."
Der jüngste Tag
Kapitel 9
"Thronangriff!", schrie Samael und sah mit Grausen, wie sich eine Wolke aus Dutzenden Miniatursternen auf das Schlachtfeld senkte. Die winzigen Sonnen fegten durch Freund und Feind, zerschlugen die Schilde der normalen Engel und drangen sogar durch die Auren der mächtigen Gewalten-Engel. "Gott, der Herr, ist allmächtig!", riefen die Thröne und schlugen erbarmungslos auf alles ein, was ihnen in die Quere kam. "Wir leben für den einen, wir kämpfen für den einen, und wir sterben für den einen!"
Eine Gruppe aus knapp zwei Dutzend Engeln, darunter vier Gewalten, formierte sich und startete einen kombinierten Angriff auf einen Thron. Schockwelle um Schockwelle schlug auf den goldenen Stern ein, während die niederen Engel unbeirrbar Angriffe mit ihren Schwertern flogen. Eine Sonnenklinge schlitzte einem der Engel die Kehle auf, ein anderer verbrannte im atomaren Feuer, das aus den Händen des Thrones schoss. Engel um Engel fiel dem wütenden Elite-Krieger zum Opfer, ein Gewalten-Engel ging jämmerlich zu Grunde, als sich seine Rüstung in pures Plasma verwandelte.
Ein Ausbruch dunkler Energie, gebündelt in einem einzigen Blitz, zerschlug den strahlenden Schild des Thrones. Sofort stürzten sich die verbliebenen Engel der Gruppe wie ein Schwarm wütender Hornissen auf den seiner Verteidigung beraubten Goldenen Engel. Diesem Ansturm konnte selbst der fanatischste Soldat nicht stand halten. "Ich danke Dir, Samael!", schrie ein Gewalten-Engel, als er seine Fänge tief in die Eingeweide des Thrones hieb.
***
"Wenn Du glaubst, Du könntest es mit mir aufnehmen, dann bist Du beschränkter als ich dachte!", zischte Luzifer und intensivierte das ihm eigene Licht um ein Vielfaches. Selbst eine Supernova wäre neben ihm verblasst, geschweige denn der Goldene Engel, der ihm gegenüber schwebte. Dessen Licht schien in dem immensen Ausbruch an photonischer Energie zu ertrinken, doch der Thron ließ sich nicht beirren. "Gott gibt mir die Kraft, Dich zu vernichten, Verräter!", schrie er und griff an. Nur mit Mühe parierte der Erzengel die wütenden Attacken, doch verausgabte sich der Goldene Engel zu schnell. Die Schläge des Thrones wurden langsamer und langsamer, während Luzifer zur Höchstform auflief und den Gegenangriff startete. Selbst als sein Gegner regungslos zu Boden fiel, drosch der Erzengel mit aller Kraft auf die leere Hülle ein, ließ Knochen brechen und Blut spritzen.
"Und jetzt... Gott...", fauchte er.
***
"Die Thröne sind übermächtig! Wir haben keine Chance!", schrie Samael. "Auch wenn wir einen von Ihnen töten, so fallen dafür etliche Dutzend von unseren Leuten. Der Angriff reibt uns auf. Wir sollten uns vielleicht zurück ziehen!"
"Auf gar keinen Fall!", tobte Luzifer. "Wenn wir den Palast jetzt nicht erreichen, dann nie! Die Zeit arbeitet gegen uns. Unsere Truppen sterben! Sammel die verbliebenen Soldaten. Wir schlagen eine Schneise in die Verblendeten. Wir müssen versuchen, jetzt bis zu Gott vor zu dringen, sonst ist es zu spät!"
***
In einem letzten verzweifelten Aufbäumen, setzte sich der Widerstand in Bewegung und durchbrach in keilförmiger Formation die Stellungen der Verteidiger. Die Thröne schlugen immer wieder Löcher in den Keil, und fügten schwere Wunden zu. Doch der Angriff dauerte an. Die Rebellen waren fest entschlossen, ihr Ziel zu erreichen. An die Seraphim, die Gottes Thron bewachten, mochte vorerst noch keiner denken.
***
Wahnsinnigen Titanen gleich fielen die Seraphim über die ersten Engel her, welche die Pforte des Palastes erreichten. Mit den Thrönen im Rücken wurde der Widerstand in die Zange genommen, und die Zahl der Rebellen verringerte sich zusehends. "Wir müssen an den Seraphim vorbei!", befahl Luzifer, musste aber mit großem Entsetzen ansehen, wie seine Soldaten bei diesem Versuch ergebnislos ihr Leben gaben.
Plötzlich brach in einem Areal von mehreren tausend Kubikmetern inmitten der Seraphim-Front die Hölle los. Die Luft ging in grünem Feuer auf, fraß sich entlang der Flügel der Hohen Engel und brachte sie zum Absturz. "Brennt, ihr abscheuliche Schlangenbrut!", erscholl eine beherrschende Stimme. "Brennt!" Kurz darauf trat ein Cherub keuchend aus den Flammen hervor und verneigte sich vor Luzifer. "Wir werden versuchen, das Fenster so lange wie möglich offen zu halten. Ich hoffe, ihr könnt Gott von seinem wahnsinnigen Plan abhalten. Ich hoffe es für unser ganzes Volk."
"Danke", stammelte Luzifer am Rande seiner Kräfte und wechselte einen kurzen Blick mit Samael. "Vielen Dank für Eure Hilfe. Wir hatten schon nicht mehr damit gerechnet. Ysiel hat sich wirklich Zeit gelassen." Er setzte sich in Bewegung und erstürmte die Stufen zu Gottes Palast. Samael und eine Garde aus einer Handvoll Rebellen und Gewalten-Engel im Schlepptau.
"Wer ist Ysiel?" waren die letzten Worte, die Luzifer vernahm, als er durch die aufgesprengte Pforte schritt.
Kapitel 10
"Wo ist er?", schrie Luzifer und richtete sein Flammenschwert auf den Richter, der regungslos in der Mitte des Raumes stand. Samael und der Rest der Rebellen-Engel hatten draußen Stellung bezogen, in der festen Absicht, jeden unliebsamen Störenfried am Eindringen zu hindern. "Ich frage kein drittes Mal! Wo ist Gott?"
"Du Sohn eines Wurmes solltest auf der Stelle vor mir niederknien!", befahl der Richter, erntete dafür aber nur ein hämisches Lachen.
"Was?", fragte Luzifer leicht belustigt. "Du Missgeburt willst mir Befehle erteilen? Mir, dem Lichtbringer? Ich werd Dir gleich Manieren einbleuen!" Schreiend stürzte sich der Erzengel auf den Richter, dessen Augen düster unter der Kapuze glühten. Mitten im Flug verlor Luzifer das Gleichgewicht und krachte zu Boden. Etwas hatte ihn hart von der Seite getroffen. Verdutzt rappelte er sich auf. Als er den Schuldigen sah, ballten sich seine Fäuste vor Zorn.
"Du!", brüllte er. "Misch Dich nicht in Dinge ein, die Dich nichts angehen!"
Langsam kam der Angesprochene näher, in jeder Hand ein Schwert aus Eis schwingend. Ein intensives blaues Licht zeugte vom aktivierten Schild des Neuankömmlings. "Es ist sehr wohl meine Sache. Du glaubst doch nicht, dass Du mit Deinem Verrat durch kommst, oder, Luzifer?"
"Michael, geh mir aus dem Weg! Die Trinitas will Tiere in Überengel verwandeln! Sie will stinkenden Affen eine Seele geben! Verstehst Du? Eine Seele!"
Der Eisengel schüttelte den Kopf. "Das rechtfertigt nicht Deinen Verrat, Bruder. Unsere Aufgabe ist es, Gott zu dienen, egal, was er von uns verlangt. Und wenn wir die... Diener von räudigen Viechern werden sollen, so müssen wir uns dieser Order fügen. Er ist Gott... er ist der Schöpfer. Es steht Dir nicht zu, sein Urteil anzufechten."
"Der ewige Sklave", schnaubte Luzifer. "Mehr bist Du nicht. Eine Marionette seiner 'Heiligkeit'. Doch auch wenn Du nicht die Schuld an Deiner Verblendung trägst, so kann ich trotzdem nicht zulassen, dass Du Dich mir in den Weg stellst."
Unter Mobilisierung aller verbliebenen Energien ging der Lichtbringer auf Michael los. Die Schwerter zischten als sie aufeinander trafen. Michael wirbelte herum und versuchte mit kombinierten Angriffen aus zwei Richtungen Luzifers Verteidigung aufzubrechen. Doch dessen Flammenschwert parierte jeden Hieb, während er versuchte, des Eisengels Rüstung mit Sonnenfeuer aus seiner freien Hand aufzuweichen. Ein Fußtritt schickte Michael gegen die nächste Wand, sofort war der Lichtbringer über ihm und umschloss mit glühenden Fingern dessen Hals. Verzweifelt versuchte Michael sich aus der Umklammerung zu befreien, doch drückte sein Gegner ohne jedes Erbarmen zu. "Das ist für Dich, Bruder!", spuckte ihm Luzifer ins Gesicht, ehe er den reglosen Körper zu Boden rutschen ließ.
Keuchend und am Ende seiner Kräfte stand der Erzengel auf und schwankte auf den Richter zu. "Nun zu Dir, Bürschchen!", zischte er.
"Es ist genug!", erscholl eine Stimme aus dem Hintergrund. "Leg die Waffen nieder, Luzifer", befahl Ysiel.
"Ich verstehe nicht...", sagte der Erzengel und sah den Cherub fragen an. Langsam senkte er sein Schwert. "Was tut Ihr hier? Ich dachte..." Seine Worte erstarben, als er der Kälte gewahr wurde, die sich in seiner Brust ausbreitete. Fassungslos betrachtete Luzifer das kalte Schwertblatt, dass sich aus seinem Thorax schob. Röchelnd ging er auf die Knie, während Michael hinter ihm bewusstlos zusammenbrach, vom letzten Aufbäumen seines Lebenswillens an den Rande des Abgrundes gedrängt.
Verächtlich versetzte Ysiel dem Lichtbringer einen Tritt, der ihn quer durch den Raum fliegen ließ. Majestätisch schritt er auf den verletzten Erzengel zu, und beugte sich zu ihm hinab.
"Weißt Du, mein lieber Luzifer, was schon immer Deine größte Schwäche war?", flüsterte er höhnisch mit honigsüßer Stimme. Seine Augen bohrten sich tief in die des Erzengels. "Du betrachtest Deine Mitengel nur oberflächlich, Du siehst nicht in sie hinein. Du kannst es, aber Du tust es nicht."
Halb besinnungslos versuchte Luzifer den grauen Schleier vor seinen Augen weg zu blinzeln, der sein Sichtfeld zunehmend einschränkte, und blickte durch die äußere Fassade des Cherub. "Nein...", flüsterte er leise. "Nein, nicht Ihr..."
"Doch!", bestätigte Luzifers Peiniger. "Die Möglichkeiten, die der Körper eines Cherub bietet, sind ziemlich interessant, meinst Du nicht auch?", fragte Kyrios. "Du hast mir viel Leid beschert, mein Freund. Heute sind viele Engel gestorben und sterben noch immer. Viel mehr, als beabsichtigt war. Und das ist alles Deine Schuld!"
"Warum? Warum das alles? Sie haben mich doch zu dem Angriff überredet", flüsterte Luzifer.
"Ich erklär es Dir", meinte Kyrios lächelnd. "Das muss ich sogar, damit Du die Funktion, die ich für Dich vorgesehen habe, richtig ausfüllen kannst." Er seufzte und blickte in die Ferne. "Weißt Du, ihr Engel langweilt mich. Zu ewigen Gehorsam verpflichtet... irgendwie öde, findest Du nicht? Doch dann kam das Menschheitsprojekt ins Spiel. Die Menschen sollen die Wahl haben. Die Wahl, ob sie mir dienen wollen oder nicht. Nur gab es da zwei Probleme. Zum einen brauche ich einen Gegenpol - eine Alternative zu mir, wenn Du es so bezeichnen willst. Wieso sollten mich die Menschen anbeten, wenn sie es nicht müssen. Gibt es aber eine andere Seite, eine, die auf sie wartet, wenn sie sich mir versagen, sieht die Sache schon ganz anders aus. Das andere Problem war, dass das ganze Projekt auf deutlichen Missmut in den Reihen der Engel stoßen würde. Das war mir völlig klar. Diese Engel galt es zu finden und zu isolieren.
Mit meinem Plan habe ich beide Probleme elegant gelöst, findest Du nicht. Naja, von ein paar kleinen Formfehlern abgesehen. Zum Beispiel grenzt an grausame Ironie, dass Teile der Cherubim tatsächlich mit dem Widerstand sympathisiert haben, und euch unterstützten."
"Sie elender..." Blutspuckend unterbrach sich Luzifer, als ihn eine Hustenattacke schüttelte. "Das war also der Grund", murmelte er, als sich sein Hals beruhigt hatte. "Durch den Angriff des Widerstandes wurden die potentiellen Unzufriedenen enttarnt. Aber was ist mit dem Gegenpol?"
"Die Hölle, Luzifer. Die Hölle!", antwortete Kyrios begeistert. "Wer mir nicht dient, dessen Seele landet nach seinem Tode im ewigen Purgatorium. Doch die Hölle braucht einen Anführer, um einen glaubhaften Gegenpol zu bilden. Einen starken, einen mächtigen Anführer! Dich!"
Nun war es Luzifer, der lächelte. "Mich? Ihr gebt mir die Kontrolle über die Hölle und macht mich zum Anführer der Gefallenen Engel?"
"So ist es. Natürlich wirst Du Dir Deinen Rang dort erst erkämpfen müssen, aber ich bin sicher, Du schaffst es. Du bist bei weitem der mächtigste Engel, weißt Du?"
Das schallende Gelächter, das plötzlich aus Luzifers Kehle drang, ließ Kyrios ein paar Schritte zurück weichen. Neue Energie schien vom Körper des Erzengels Besitz ergriffen zu haben. "Ein fast perfekter Plan. Aber lasst mich Euch eines sagen. Eine Art Prophezeiung, wenn Ihr so wollt." Seine Stimme sank um einige Oktaven, während grelle Flammen seinen Körper umspülten. "Ihr irrt Euch", sagte er düster, "wenn Ihr glaubt, dass Euch die Seelen-Affen anbeten werden, nur weil Ihnen das Purgatorium droht. Euer größter Fehler ist, ihnen das Geschenk der Intelligenz zu geben, und ihnen dennoch den freien Willen zu lassen. Die Tiere werden anbeten, wen immer sie wollen. Oh, sicherlich wird es Zeiten geben, da man Eurer gedenkt, doch glaubt mir eines: Der Tag wird kommen, da Ihr nicht mehr als eine bloße Erinnerung sein werdet; ein uraltes Märchen, das nicht mehr Bestand hat, als eine Feder im Wind. Und dann werde ich da sein, Legionen von Seelen und Tausende unzufriedener Engel an meiner Seite. Und wir werden diese Unterhaltung weiter führen. Das schwöre ich bei allen Himmeln!
Ihr habt heute den Grundstein zu Eurer eigenen Vernichtung gelegt."
ENDE
[Beitrag editiert von: Visek am 07.04.2002 um 09:24]