Mitglied
- Beitritt
- 02.04.2003
- Beiträge
- 5
Lydia
Es riecht anders, als ich es in Erinnerung habe. Aber vielleicht trügt mich meine Erinnerung, schließlich bin ich lange nicht mehr hier gewesen. Ich schließe die Tür hinter mir und sehe mich um. Alles ist leer. Nicht einmal Kisten stehen herum. Die Möbel, die Bücher, selbst der Teppich ist verschwunden. Die Wände sind kahl und beängstigend weiß. Ich gehe in den Raum, der einmal das Schlafzimmer war. Dort stand das Bett, da der große Schrank mit den Kleidern. An der Wand kann man noch sehen, wo die alte Kommode stand. Der Qualm der Zigaretten hat ihre Umrisse festgehalten. So lange bis neu gestrichen oder tapeziert wird. Ich setze mich auf den Boden, wo früher das elterliche Bett stand und versuche mir vorzustellen, wie ich als Kind diesen Raum betrat.
Alles erschien mir damals groß, alles etwas befremdlich. Ich ging nur in diesen Raum, wenn meine Eltern nicht zu Hause waren. Das war der Augenblick, in dem er etwas seiner Heimlichkeit verlor. Ich ging in den Raum, um zu suchen. Um nach dem zu suchen, was meine Eltern dort aufbewahrten. Nach Urkunden, nach Versicherungen, nach Zeugnissen, wer sie waren. Ich mochte es, ihren Namen auf Papier zu sehen. Das machte alles reeller, alles wahrer. Manchmal glaubte ich, meine Eltern führten ein geheimes Leben. Und dort, in ihrem Schlafzimmer, fand ich ihr richtiges Leben. Ein Zeugnis meines Vaters, eine fünf in Mathematik. Aber Betragen sehr gut. Die Lebensversicherung meines Vaters. An die Höhe kann ich mich nicht mehr erinnern. Ein Photo meiner Mutter mit ihren alten Schulfreundinnen, von denen eine früh verstorben war. Eine Adoptionsbescheinigung. Ein Photo von mir als Baby.
Meine Eltern hatten mir verschwiegen, dass sie mich adoptierten. Ich fand es heraus an einem der Nachmittage, an dem ich ihr Territorium eroberte. Ein gelblicher Zettel, eine Ecke geknickt. Nicht ordentlich abgeheftet, wie die meisten ihrer Unterlagen. Ganz unscheinbar lag er da, zwischen Ordnern und Heftern, Briefen und Postkarten. Der Name meiner Eltern stand darauf, mein Geburtsdatum und mehrere Unterschriften und Stempel. Und ein fremder Name. Mein Name ist Yulia. An dem Tag entdeckte ich mein Alter Ego Lydia.
Meine Eltern haben nie davon erfahren, dass ich von Lydia wusste. Sie haben mir nie von ihr erzählt. Stattdessen sitze ich auf dem Boden, wo früher ihr Ehebett stand, und frage mich, wer Yulia und wer Lydia ist.
Ich stehe auf und gehe durch die anderen Zimmer, die einmal das Bad, die Küche, das Wohnzimmer waren. Das Kinderzimmer betrete ich nicht, sondern gehe zur Tür, blicke noch einmal zum Schlafzimmer zurück und lasse sie hinter mir ins Schloss fallen. Ein Taxi bringt mich zum Friedhof.