Männertheater AG
Der dunkle Darsteller stürmte wild auf das Angebot von Kuscheltieren zu. Sein Kreuzblick war auf einen undefinierbaren Zielpunkt in der Ferne gerichtet. Er fegte einige der Tierchen mit einem Handstoß vom Regal. Dabei bekam er ein Stoffkätzchen zwischen die Finger, welches er sogleich übel zu malträtieren begann. Er riss ihm die sternförmig abstehenden Schnurrhaare aus, zog vergeblich an dem Schwänzchen und machte sich an den Knopfaugen zu schaffen. Zum Schluss warf er es unter Verwendung voller Muskelkraft in die Ecke. Im Zuge einer 360 Grad-Drehung schwenkte er seinen irren Blick noch einmal in alle Richtungen. Plötzlich lachte er gelöst und seine Mimik entkrampfte sich. Er hob das lädierte Kätzchen zartfühlend auf und versetzte ihm einen überschwänglichen Kuss auf die Stoffschnauze.
„Bist doch süß.“
Seelenfischer hatte amüsiert zugesehen, dennoch war ihm nicht nach Beifall klatschen. Er lehnte am Bühnenrand und hieß eigentlich Klausi, aber da Seelenfischer nichts Banales mochte, wurde er kurzerhand auf sein Hobby umgetauft.
Der Schauspieler sprang elegant von den Brettern, die die Welt bedeuten können und die in diesem Fall aus Sperrmüll zusammen gestapelt waren. Seelenfischer zögerte gerade noch ihm graziös die Hand entgegenzustrecken.
„Scheinwelt IV“ war der Arbeitstitel des ersten Theaterstücks, welches die neu formierte Theater Arbeitsgemeinschaft des Männerheims Bahnhofstraße 28 einstudierte. Alles war selbst gemacht – von der Idee bis zur Umsetzung. Drehbuchautor Ratze aus Zimmer 12 wollte experimentell Sensibilität mit Brutalität verknüpfen. Regisseur Heinz verwirklichte die Geschichte eines Obdachlosen beim Kauf eines Teddybären, der wegen nicht korrekter Wechselgeldausgabe den Spielzeugladen verwüstet, die Verkäuferin als Geisel nimmt und diese trotz beschwichtigender Polizisten und extra herbeigerufener Bezugspersonen am Ende erschießt. Eine Diskussion um die Situation von Randgruppen folgt.
Ratze saß meist am Bühnenrand und betrachtete stolz die Umsetzung des von ihm gebastelten Handlungsbogens. Die sorgfältig auf die Rollen abgestimmten Darsteller parierten – Disziplin statt Arbeitsunwillen hatte sich eingestellt. Die tragische Rolle der Verkäuferin, die einzige weibliche Rolle, wurde von der Heimangestellten Rosi übernommen. Diese beobachtete schmunzelnd das eifrige Treiben, sobald sie im 2. Akt erschossen wurde und damit ihren Part durchgespielt hatte.
Samuda war nicht nur Seelenfischers Bühnenpartner, sondern auch sein Zimmergenosse. Zuerst hatte Seelenfischer das Zimmer allein genutzt, doch es war ein Doppelzimmer, dessen leere Hälfte vor wenigen Wochen dem jungen Obdachlosen zugewiesen wurde. Seelenfischer war irritiert, als er seinen agilen, hoffnungsvollen neuen Mitbewohner das erste Mal sah. Glücklicherweise waren die Bett- und Waschbereiche mit einem Vorhang versehen, so dass jeder sich in seine Nische zurückziehen konnte.
Samuda hatte am ersten Tag viele kleine Heiligenbücher mit mosaikförmig gepuzzelten Abbildungen und eine Rosenkranzkette auf seinem Bettregal aufgebaut, die eine nicht versiegende Faszination auf Seelenfischer ausübten.
„Klingt toll Dein Name, wie Bermuda“, bemerkte er räuspernd. Der Name sei wohl orientalischer Herkunft, hatte Samuda vage angedeutet. Über den genauen Ursprung wären die Experten sich uneinig. Doch Seelenfischers Fantasie reichte dieser Hinweis, und so stellte er sich Samuda vor, ein Jahrzehnt älter, in folkloristische Gewänder gehüllt, patriarchalisch inmitten von geschäftigem Familienleben thronend.
Samuda redete nie über das Wetter oder die Jahres- und Tageszeit, überbrückte keine Phasen des Schweigebedürfnisses mit hektischen Äußerungen darüber, ob es zu warm, zu kalt, zu hell, zu dunkel, zu früh oder zu spät war. Nur als Seelenfischer Samuda in seiner ersten Woche die Heimsauna vorführte ließ er sich, um die latente Peinlichkeit der Nacktheit zu überspielen, zu einem „Herrje, ist das heiß hier drinnen!“ hinreißen.
„Der Sinn deines Lebens könnte darin bestehen, dass du jemand anderem das Leben rettest.“ Das war ein typische Philosophie von Samuda. An diesen Satz erinnerte sich Seelenfischer immerzu. Von da an achtete er auf seine Umwelt, immer darauf bedacht, an jeder beliebigen Ecke eine dramatische Lebensrettungsaktion durchführen zu müssen und den Sinn seines Lebens damit zu bekräftigen.
Echte Hunde waren sinnigerweise gerade im Männerheim streng verboten. Die beiden entschlossen sich dennoch nicht auf einen vierbeinigen Freund verzichten, um ihre unfreiwillige Leerlauf-Boheme etwas zu versüßen. So erfanden sie einen Hund in der imaginären Fassung, Gattung Lufthund. Samuda wollte ihn Hades oder Cerberus nennen, aber da Seelenfischer nichts Dunkles mochte, einigten sie sich schließlich auf Waldi. Das war zwar banal, aber Banales fand Seelenfischer dann doch nicht so schlimm wie Düsteres.
Am nächsten Monatsanfang nach der Taschengeldausgabe im Heim kaufte Seelenfischer in einem Zoogeschäft Halsband, Futternapf und Hundeknochen.
Die fast tägliche Beschäftigung mit Waldi wurde zum Ritual. Waldi büxte aus, Waldi bekam es mit einer nachbarschaftlichen Katze zu tun, Waldi zerrte sich die Pfote (Samuda brachte Seelenfischer gerade noch davon ab, den Lufthund zum Tierarzt zu schleppen), Waldi verhielt sich stuben-unrein, Waldi besetzte im Zuschauerraum einen Sitzplatz während der Theaterproben.
Die Proben zu „Scheinwelt IV“ fanden inzwischen täglich statt. Finanziert von einer Wohltätigkeitsorganisation rückte der Uraufführungstermin näher. Nebendarsteller Matze und Otze studierten mit putziger Ernsthaftigkeit ihre Rollentexte als Polizisten, Bühnenbildner Fiete rückte rastlos Ausstattungsutensilien umher. Der alte Herbie, der mit seinem offiziellem Einverständnis als Mädchen für alles fungierte, stand etwas verloren in dem ganzen Trubel.
Während der turbulenten Probearbeiten zog sich Seelenfischer kurz auf sein Zimmer zurück. Er betrat seine Waschnische und drehte den Hahn auf, um sich kaltes Wasser auf die Unterarme laufen zu lassen. Sofort wurde angeklopft. Seelenfischer seufzte und drehte den Hahn ab. Er öffnete die Tür schwungvoll und erwartete wohl Sozialarbeiterin Rosi.
Doch stattdessen standen zwei Männer direkt auf der Fußmatte vor ihm, sie waren keinen Höflichkeitsschritt zurückgetreten. Er öffnete, und sie befanden sich keine 20 Zentimeter von ihm entfernt. Nach einer Schocksekunde, in der er die beiden für Behördenmenschen hielt, sah er an der Aufschrift ihrer Schiebermützen, dass sie offensichtlich einer Tierschutzorganisation angehörten. Er trat seinerseits einen Schritt zurück.
Die beiden erklärten sich. Sie gingen Hinweisen über einen vernachlässigten Hund nach.
Seelenfischer hatte das Talent, sich in einer Stresssituation in Watte zu packen. Er mochte dann wirken wie ein Drogensüchtiger, dabei haben Drogen ihn nie interessiert. Er taumelte und sah statt der Tierschützer die Orte seiner Kindheit, wo er im Schatten der großen Eichen Dreirad gefahren war, wo er erste obszöne Zeichnungen mit Kreide auf den Asphalt geschmiert hatte, die beim nächsten Regen verwischten und ein paar Tage später ganz verschwanden.
Die Männer drangen in das Zimmer vor und reckten die Hälse dreist in die Ecken, um sich davon zu überzeugen, dass kein gequälter Hund mit bittenden braunen Augen und heraushängender Zunge dort hockte. Die beiden beäugten misstrauisch die Waldi-Utensilien, die unter dem Waschbecken aufgebaut waren, unterhielten sich leise und kamen wohl zu dem Schluss, dass doch kein Hund im Zimmer versteckt war. In das Körbchen seiner Kindheit zurückgezogen ließ Seelenfischer sie gewähren. Noch immer sah er Bilder von den giftigen Tollkirschen vor dem blauen Himmel seiner Jugend. Er wünschte sich nur, dass die beiden wieder gingen. Doch sie blieben und starrten ihn schwammig-erwartungsvoll an.
Samuda-Darsteller Willi betrat die Szene und lachte abwiegelnd.
„Haste halt deinen Text vergessen, Klausi. Kommt ja vor. Du wolltest ja unbedingt den Seelenfischer spielen, der hat halt viel Text. Musst halt noch mal üben. Aber mach dir mal nicht so viele Sorgen, dass du jetzt gleich die Rolle los bist. Glaub ich wirklich nicht, so tief in der Seeeeele, weißt du…“ Er presste sich dramatisch die Hand auf den Brustkorb.
Klausi grinste gequält, aber es war immerhin ein Grinsen.