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Märchenapokalypse
Es war ein schöner Sonnenaufgang.
In seiner Erinnerung konnte Robert die Vögel zwitschern hören; gleich hier in den fahlen Gerippen, die einst Bäume waren.
Am Ende der Hauptstraße bog er in die kleine Gasse neben dem Kino ab. Als er auf ein großes Stück Wellblech trat, sah er das menschliche Skelett, das in seltsamer Haltung darunter lag, und plötzlich fragte er sich, warum er sich heute für einen anderen Weg entschieden hatte.
Behutsam schob Robert das Metall zur Seite und durchsuchte die mit einem Seil zusammengeknotete, verrottete Hose des Toten. Er entdeckte ein paar Münzen, die er beiseite warf.
Im Rucksack fand er ein Buch. Es war nicht gebunden, und sofort fiel ihm auf, dass einige Seiten fehlten. Robert blätterte durch das vergilbte, feuchte Papier, von dem lange niemand mehr gelesen hatte. Der feste Umband schmiegte sich tief an das beschädigte Innere. Mindestens fünfzig Blätter waren nicht mehr da, schätzte er.
Dann besah er sich den Titel: "Ein Königreich der Trauer."
Der Autor hieß Gilbert Rowan. Ein Pseudonym vermutlich.
Robert ließ das Buch in seinem Jutesack verschwinden, und ging weiter. Solange, bis er wusste, dass es kein Weiter mehr gab.
Am Fuße des Hügels, jenseits der Bundesstraße, fing der Friedhof des Waldes an. Verweste Natur umklomm Ast in Ast, Hand in Hand greifend die Spitze, von der aus man freie Sicht auf das Ende der Welt feilgeboten bekam.
Wie lange waren sie bereits weg?
Zuerst war der Krieg in den Metropolen losgebrochen. Von dort aus hatte sich keiner mehr in die kleineren Gemeinden flüchten können. Hier war der Krieg einige Wochen später angekommen, als die Menschen plötzlich Blut erbrochen hatten. Da war Robert elf gewesen. Er selbst hatte damals seine Haare verloren, und das, was die Menschen immer Krebs nannten, als sie noch hier gewesen waren, das wucherte auch in ihm.
Seltsamerweise bloß tötete es ihn nicht.
Nur Geschwüre und dunkle Schatten auf verbrannter Haut hatten mit der Zeit immer mehr Besitz von seinem Körper ergriffen. Manchmal platzten sie in der Nacht auf, und Robert wurde von Schmerzen geweckt. Meist summte er dann irgendeine Melodie, von der er nicht mehr wusste, woher er sie kannte.
Gegen Nachmittag stapelte er ein wenig Holz im Kamin des Hauses, das er sich als Unterkunft ausgesucht hatte. Kalt war ihm eigentlich nicht, aber das Knacken der brennenden Scheite beruhigte ihn.
Als es Abend wurde, zündete Robert zusätzlich einige Kerzen an, und erwärmte eine Konservendose mit Ravioli. Seine Mutter hatte gesagt, dass der Inhalt nie schlecht werden würde, weil die Dosen für den Krieg gemacht seien.
Als er aß, zog Robert das Buch aus dem Jutesack.
Erneut besah er sich den Titel. Da war kein Bild. Nur ein tiefes Schwarz, und auf diesem Schwarz stand in großen Lettern: "Ein Königreich der Trauer."
Dann begann er zu lesen.
"Prinzessin Penelope, Ihr kommt zu spät zu der großen Gala. So eilt euch doch!"
Das Mädchen beäugte sich im Spiegel. Den Zopf, den man der Magd befohlen hatte ihr anzulegen, mochte sie nicht. Sommersprossen waren im Laufe des Frühlings auf beiden Wangen verteilt erschienen. Sie fühlte sich selbst, als sei sie ein Kind. Eine Träne tiefster Bitterkeit blutete aus dem einen Auge, das eher blau anmutete. Das andere hingegen schillerte in hellstem Smaragdgrün. Prinzessin Penelope, die Gerechte; die mit den zwei Farben in ihren Augen, durch deren Pupillen man gleich in ihr Herz blicken kann.
Wie sehr sie diese verklärenden, an Kitsch nicht zu übertreffenden Sätze doch hasste.
Ihre Taille schmerzte unter dem Druck des viel zu eng gezogenen Kleides. Ein kurzer, schmachtender Blick in Richtung des Buches. Wie gerne hätte sie heute Abend gelesen, anstatt sich mit der feinen Adelsgesellschaft arrangieren zu müssen. Diese Leute sprachen Sätze ohne Inhalt; ein jedes Wort wie eine Seifenblase. Es schwebte hoch, zerplatzte dann allerdings, als wäre es nie von Bestand gewesen.
"Prinzessin Penelope, so eilt euch doch. Ihr wisst doch ... es ist heute besonders ..."
Bernd schreckte auf.
Da draußen war jemand.
Ruckartig richtete er sich auf, und griff mit der rechten Hand nach seinem Messer. Mit der anderen hob er ein Stück Holz von dem Regal neben sich hoch, das er gegen die gegenüberliegende Wand schleuderte.
Dann lauschte er.
Nichts geschah.
Eine lange Zeit verstrich, bis er es wagte, sich wieder zu setzen. Vor vielen Tagen hatte er einen Hund gesehen. Missgebildet von Überwucherungen. Ganz genauso, wie bei ihm selbst.
Hungrig war dieser Hund gewesen.
Bernd hatte nach dem gepackt, was zufällig da war. Ein maroder Ziegelstein. Der Schädel des Köters war zerplatzt wie eine mit Hirnmasse gefüllte Seifenblase. Kleine, klebrige Bröckchen auf Bernds Lippen, und die Einsamkeit war stärker als je zuvor gewesen.
Man sollte ihn ganz einfach in Ruhe lassen.
Erst, als er plötzlich keine Kerzen mehr benötigte, die flackerndes Licht spendeten, wurde ihm bewusst, dass er gelesen hatte, bis der Sonnenaufgang wieder einmal schön war.
Abend und Nacht waren lang, ja unerträglich quälend vor sich hingeflossen. Als Penelope ihr Zimmer betrat; die Härte des unwilligen Eindringens, der Vergewaltigung, die man ihr angetan hatte in vollem Umfang zu begreifen im Stande war, da erst musste sie weinen.
Sie weinte und weinte, doch diesmal lag die Magd bereits in ihrem Bett und schlief.
Kein Trost, keine Seelsorge.
Das Kleid hatte ihr der Prinz in Fetzen gerissen, ebenso wie den Verstand.
Ansonsten war es schön gewe ..."
Durch die Tür sprang ein Hund.
Ehe Bernd sich rühren konnte, hatte das Vieh ihn bereits in den Hals gebissen.
Als Kind war Bernd einmal heimlich in das Wohnzimmer geschlichen, als seine Eltern auf einer Feier waren. Viele Jahre vor dem Krieg, und überhaupt fragte er sich gerade, warum er es heimlich getan hatte. Waren die Menschen damals schon nicht mehr dagewesen?
Im Fernsehen jedenfalls hatte es einen Vampirfilm gegeben.
Der Hund jedoch leckte bloß gelangweilt an dem Blut; überließ die Fontäne der Halsschlagader der Gier eines anderen.
Vampire gab es früher, im Fernsehen. Bloß ein hungriger Köter.
Ein letzter Gedanke kam Bernd, zeitgleich mit der letzten Seite, dem letzten Satz, und er sprach laut aus, was er las und dachte: "Du hast den falschen ..."
"... Prinzen erwischt."
Penelope schluchzte nun, und als sie das Buch schloss, sagte sie:
"Ich wünschte, ich wäre du, Bernd."
Dann schlief sie ein.