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Märchenstunde
Baron von Friedrich verließ den vorgeschriebenen Weg, um sich lieber in seinem Schloss mit der gewitzten Millionenerbin Clarissa Berger zu treffen. Er wollte mit ihr nicht nur eine Idee, sondern sein gesamtes verschuldetes Anwesen abklopfen, es endlich in ein Nobelhotel verwandeln, mit erstklassiger Gastronomie und einem Golfplatz. Für diese Vision benötigte er einen beruhigenden Kreditrahmen. Dafür hatte er sogar die Liebe zum rehäugigen Aschenputtel geopfert.
Ihr war er im früheren Leben begegnet, auf einer Vernissage, bei der sie die Getränke servierte, nur damit er sie austrinken konnte - die weiße Bluse mit dem schnittigen Namenszug der Cateringfirma deutlich mehr gestärkt als ihr Selbstwertgefühl. Von Friedrich trank viel. Zum einen, weil er es aus Gewohnheit tat, zum anderen, weil er sie für jedes Glas wieder in seine Nähe winken konnte. Sein Champagnerblick hatte ihr Lächeln zur Perle des Abends auserkoren. Am liebsten hätte er dem Mädchen seine Telefonnummer gleich zwischen die Beine geschoben. Und schon am nächsten Tag überhäufte er Aschenputtel mit Schuhen und führte sie abends auf einen Presseball.
Bis er sich eines schlechten Tages doch gegen den vorhersehbaren Weg entscheiden musste, der vielleicht zur großen Liebe, aber mit Sicherheit in ein kleines Leben geführt hätte. Deshalb ließ er das arme Mädchen sitzen, und sie äußerte nur noch die Hoffnung, er bekäme wenigstens auf dem Golfplatz den Schläger hoch. Er trank weiterhin viel, sie aber lächelte niemals wieder so, wie sie für ihn gelächelt hatte. Der Baron vergaß sie schnell, denn für romantische Träume fehlte die Zeit. Die blühten meistens nur eine Nacht, wenn Alkohol kurzzeitig die Wurzeln vertrockneter Leidenschaft umspülte.
Clarissa, das millionenschwere Mädchen, war grün- und nicht blauäugig. Ihr Einfluss reichte bis in die Wirklichkeit, und sie hatte von Friedrich signalisiert, notfalls auch an einer schmutzigen Partnerschaft interessiert zu sein. Vorerst geschäftlich natürlich; als Frau von Welt, die genau wusste, was sie auf keinen Fall wollte. Sie fürchtete sich nicht vor Typen, die sie wie Dreck behandelten, sondern nur vor der Erkenntnis, dass ihr das irgendwann gefallen könnte. Von hündischen Kriechern hatte sie jedenfalls die zweimal operierte Nase voll. „Wir sollten aus unserem Größenwahn eine Fernsehserie machen“, schlug sie von Friedrich vor. Aber der Herr Baron war dagegen, weil er sich Dinge erträumte, die nicht fernsehserientauglich waren. So durchschritten sie Raum und Zeit und musterten aufmerksam die Möglichkeiten. „Haben Sie Kinder?“ „Nein.“ „Ausgezeichnet!“ Am Ende wusste Clarissa, womit sie rechnen konnte und womit sie rechnen musste. Der Baron saß bereits mit gezücktem Goldfüller an seinem Mahagonisekretär und knisterte vor Erwartung. Sie stützte sich mit beiden Händen auf die Schreibtischplatte und bot ihm - sich äußerst gekonnt vorbeugend - erste Absichten. Großartig, was von Friedrichs adelige Augen da geboten bekamen, liebte er doch speziell diesen kleinen Schatten zwischen den Brustansätzen, dort, wo selbst das Nichts verheißungsvoll wurde. Vor allen Dingen genoss er Darbietungen, die der Fantasie nur noch den letzten Milimeter Spielraum gönnten. Diese zarte Grenze zwischen Anblick und Ahnung, kurz bevor Erotik in Sex umschlug oder der Gedanke in ein Wort.
Aschenputtel, die eigentlich Laura heißt, verirrte sich unterdessen in eine andere Geschichte, in der immer dann Lücken auftraten, wenn sie sich nach Liebe sehnte. Das Restleben, das ihr geblieben war, bot zwar jede Menge Schicksal, aber so plötzlich allein gelassen war ihr die Lust daran vergangen. Selbst ihre Mutter vermied es seit einiger Zeit, sich mit ihr in plüschigen Cafés zu treffen, dem sonst idealen Ort für Mutter-Tochter-Gespräche, zwischen Kaffeeduft und Sahnesünden. Denn Lauras Kummer hatte nie etwas mit ihrer eigenen Realität zu tun, und das konnte eine Mutter zur Verzweifelung treiben; wenn über neunzig Prozent praller Lebenserfahrung von der Tochter mit einem Stirnrunzeln absorbiert wurden.
So packte Laura eines Tages ihre sechs bis acht Sachen und machte auf dem Absatz kehrt. Keiner wusste genau, wohin sie verschwand. Hätte sie einen Freundeskreis gehabt, wäre vielleicht eines Tages das Gerücht aufgekommen, sie arbeite jetzt irgendwo in Hessen als Prostituierte in einem kleinen Mittelklassepuff, in dem überwiegend Supervisoren von irgendwas und stellvertretende Stellvertreter verkehrten. Am Ende sei aus dem Aschenputtel leider keine Prinzessin geworden. Sie blase nun Frösche, bis sie platzten und schlucke gegen Aufpreis verlorene Seelen. Prinzen kämen ohnehin nie vorbei. Die spielten lieber Golf und vögelten mit grünäugigen, unsagbar reichen Hexen.