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Märtyrer
„Du kannst nicht hier bleiben, Manu“, wisperte Mira. Ihr rundes Kindergesicht glänzte im Widerschein des Feuers, das am Eingang der Höhle entzündet worden war, um die Tiere fernzuhalten. Manu starrte auf seine unversehrte Hand. Anstößig war sie, da sein Mittelfinger nicht auf dem Opfertisch des Schamanen lag.
„Was soll ich nur tun, Mira?“
Tränen liefen Manu über das Gesicht.
„Du hast den Zorn Gors herausgefordert“, sagte Mira. Sie zitterte.
„Wenn du bleibst, werden sie dich steinigen, sobald die Zeremonie geendet hat.“ Sie runzelte die Stirn, als sie nach den Häschern ausschaute.
„Mira, glaube mir, ich bin ein Mann“, schluchzte Manu.
Mira wusste genau, Manu war erwacht, aber in das Arkanum der Paarung * war er noch nicht eingeweiht. Er musste erst die Prüfung überstehen.
„Du hast aber nicht gelernt, vor Gor deine Stärke zu beweisen, Manu!“
Mira weinte jetzt ebenso. Sie fühlte sich wie ein gerissenes Tier, um das zwei Säbelzahntiger sich stritten.
„Ich liebe dich, Mira. Aber was die Gesetze von uns Jungen verlangen empfinde ich als Unrecht. Es beweist doch nichts! Warum soll ich mich dem Tod aussetzen? Aber mein Verrat lässt mir keine Wahl. Die Ältesten werden mir nicht verzeihen. Ich möchte nicht, dass du unter meiner Schande leiden musst. Ich gebe dich frei und erlöse dich von dem Versprechen.“
Es dämmerte bereits, als Manu seinen Pfeil und Bogen nahm. Er sah wie Miras Augen dunkel wurden.
„Es wird Zeit,“ sagte er, als die ersten Strahlen der Sonne hinter den Bergen sichtbar wurden.
„Ich werde Gor aufsuchen, mit ihm sprechen.“
Manu wanderte der Sonne entgegen. Ein kalter Wind begleitete ihn. Als er an einen Vorgebirgszug kam, wollte er bis zum Abend über dessen Flanke schreiten. Seine Mutter hatte ihm erzählt, der Pass zur Anderswelt konnte nur gefunden werden, wenn er dem Lauf der Sonne folgte bevor die ersten Sterne der Nacht aufflackerten. Doch kaum hatte er einen Fuß auf das Gebirgsmassiv gesetzt, hörte er einen Donner grollen. Er sah den mächtigen Vogel auffliegen. Der Schlag seiner Flügel dröhnte in Manus Ohren. Voller Entsetzen sah Manu die Sterne auf sich zu rasen. Er wollte schreien, aber ein Zauber hatte sich auf seine Stimmbänder gelegt. So verhallte sein Ruf in dem Nichts, das ihn umgab. Gnädig senkte sich ein schwarzer Vorhang auf ihn herab.
Als Manu wieder erwachte, schmeckte er Blut. Seine Haut war grau. Staub wirbelte auf, als er vorsichtig seine Glieder rührte. Seine Augen brannten. Manu knackte unbewusst mit den Fingerknöcheln. Das Geräusch, das er damit verursachte hallte unnatürlich laut in seinem Kopf wider. Er starrte hoch zum Himmel. Die Sterne waren ihm nicht vertraut. Langsam kam wieder Leben in seine tauben Glieder. Er sprang auf. Er hatte das Gefühl, Hirsebrei im Kopf zu haben. Irgendetwas stimmte nicht. Er lauschte. Es kam ihm zu still vor. Kein Geräusch war zu hören. Deutlich hörte er sein Blut in den Ohren rauschen. Manu hatte das Bedürfnis wie von Sinnen zu schreien. Dann erinnerte er sich an den Donnervogel, der ihn mit seinen Fängen gepackt hatte. Fühlte die Tiefe, als der Greif ihn empor trug bis die Luft immer dünner wurde.
Er atmete tief und zwang sich zur Ruhe. Er war nicht tot. Fast hätte er das leise Hüsteln überhört. Er drehte sich um.
„Mira?“
Er konnte ihren Namen nur flüstern.
„Willkommen in der Anderswelt!“, sagte das Mädchen.
„Du bist nicht Mira“, erkannte Manu.
Das Mädchen lächelte.
„Nein. Ich erscheine nur in dem Antlitz, das dir am liebsten ist.“
„Wer bist du?“, fragte er und musterte sie genauer. Sie war in Dunkelblau gekleidet. Der Stoff glänzte matt. So etwas hatte Manu noch nicht gesehen.
„Ich heiße Kara und bin die Abgesandte Gors.“
Manu ballte unwillkürlich seine Hände.
Kara trat auf ihn zu und berührte seine rechte Faust.
„Ich weiß, warum du deinen Finger nicht geopfert hast“, erklärte sie.
Sie wartete bis Manu sich wieder entspannt hatte.
Manu unterdrückte einen Seufzer.
„Ich wollte es, aber... es kam mir so sinnlos vor. Ich hatte keine Furcht vor dem Schmerz“, sagte er.
Kara sah traurig aus.
„Was ist denn? Warum weinst du?“, fragte er ebenso bekümmert wie sie.
„Es ist deine Traurigkeit. Deine unerfüllte Sehnsucht zu Mira.“
„Du kannst meinen Kummer spüren?“, fragte er fassungslos.
„Ja, ich bin eine Empathin. Mein sechster Sinn ist das Mitgefühl.“
„Verstehe“, sagte Manu obwohl er nicht begriffen hatte, was sie meinte. Er fühlte Unbehagen. Karas Gesicht wurde leicht grünlich.
„Ich merke dir an, dass du es nicht verstehst“, sagte Kara. „Aber bitte fürchte dich nicht. Dein jetziges Gefühl dreht mir den Magen um.“
„Dir wird schlecht?“, fragte Manu erstaunt nach. Eben noch hatte sich sein Magen sich zusammengezogen und er spürte schon die bittere Galle auf der Zunge.
„Bitte“, würgte Kara hielt sich die Hand vor dem Mund. „Du musst deine Gefühle zügeln!“
Als Manu Kara sah, wie sie sich krümmte, verschwanden seine Zweifel. Er versuchte, sich zu konzentrieren und seine Gefühle im Zaum zu halten. Langsam verschwand die Blässe aus Karas Gesicht.
„Danke“, flüsterte sie.
„Es ist sicherlich nicht einfach, mit dieser Gabe zu leben“, stellte Manu fest und sah Kara eindringlich an.
„Es ist eine Herausforderung, Manu. Auch du bist mutig, wagst es aufzubegehren, wenn du es fühlst.“
Sie hielt ihm eine Phiole entgegen.
„Du musst es trinken“, sagte sie leise, senkte aber dabei den Blick, als er das Fläschchen unentschlossen in Händen hielt.
„Du wirst groß und mächtig werden, denn der Trank verleiht dir Zauberkräfte“, flüsterte sie. Sie wagte wieder, ihn anzuschauen.
„Was verlangt Gor dafür?“, fragte Manu, der in ihrem Gesicht betroffene Offenheit las.
„Du wirst sein Diener und richtest über die Abtrünnigen“, sagte Kara.
„So wie ich“, fügte sie hinzu.
„Ich gebe dir Unsterblichkeit dazu“, schallte plötzlich eine körperlose Stimme. Manu dachte an seinen Vater, der vor seiner Geburt gestorben war, weil Eiter ihn auffraß. An seine Mutter, die ihn deswegen unter Opfer genährt hatte und an Mira, die er nur lieben durfte, wenn er seinen Finger ebenso abschlug wie sein Vater.
„Nein, Gor!“, rief Manu in die Unendlichkeit hinein.
„Glaubst du wirklich, ich habe mit unseren Riten gebrochen, um über Unfreie zu herrschen? Entgegen meiner Überzeugung sie zu zwingen, weiterhin zu glauben, und deiner Willkür auszusetzen? Wer bist du, der da bestimmt was gut und böse ist? Wenn ich doch das Gegenteil dessen empfinde!“
„Du bist ein Narr!“, donnerte Gor. Die gewaltige Stimme klang gereizt.
„Das bin ich nicht!“, antwortete Manu fest und er fühlte eine Stärke in sich wachsen.
Die Kraft in ihm pulsierte, breitete sich aus. Ihm war, als wolle er zerbersten.
Kara erleuchtete. Es war ein Licht, das aus ihrem Innern schien. Es wurde immer größer. Als es sie ganz erfüllte, zerplatzte sie. Myriaden von Lichtpunkten schwärmten aus, umtanzten Manu.
„Danke “,hörte er ihre Stimme deutlich im Kopf. Du hast mich befreit, aus einem jahrtausend altem Joch.“
Dann wurde ihm schwindelig.
„Geh!“,höhnte Gor. „Dein Schicksal ist besiegelt!“
Sein Schädel brummte und er versank in einem Nebel. Bilder wirbelten in seinem Kopf. Er sah seine Rückkehr zum Stamm, fühlte den scharfkantigen Stein, mit dem er seinen Mittelfinger abschlug, weil Mira als seine Versprochene nach dem neuen Gesetz Gors sonst gesteinigt würde. Roch Feuer und einen strengen Duft, als der Schamane seinen Finger verbrannte. Er fühlte die Hitze, die von dem Stumpf ausging und seinen Körper verseuchte. Von weit her hörte er Mira rufen. Spürte ihren Kuss auf seinen Lippen. Er wusste, dieser Kuss war endgültig.
*
Arkanum der Paarung Geschlechtsakt