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Müll mal zwei
Müll mal zwei
Tina sieht auf ihre Armbanduhr. Jetzt bleibt ihr doch noch eine Stunde Zeit für eine gemütliche Tasse Kaffee auf dem Balkon, bevor sie zur Vorlesung muss.
„Nur noch den Abfall nach unten bringen und dann ist der Frühjahrsputz beendet“, sagt sie laut zu sich, schnappt die Mülltüten und ihre Wohnungsschlüssel und betritt gleich darauf das Treppenhaus.
Kaum fällt ihre Wohnungstür mit einem Klack ins Schloss, schon öffnet sich die ihrer Nachbarin. Sie wohnt gegenüber auf der gleichen Etage des Mehrfamilienhauses.
„Hallo Fräulein Schulze!“, tönt es zu Tina herüber und eine kleine dickliche Frau erscheint im Türrahmen. „Heute Großputz gemacht?“
„Guten Morgen, Frau Müller“, grüßt Tina mit einem süßsaueren Lächeln zurück. „Ja, es musste mal wieder sein.“
„Ist ja ein Wunder, dass heutzutage die jungen Dinger überhaupt noch putzen können. Zu unserer Zeit hätte es das nicht gegeben, in Ihrem Alter schon eine eigene Wohnung. Da blieb man im Elternhaus bis man heiratete und danach wurde man vom Ehemann versorgt.“
Mit diesen Worten stellt sich Frau Müller auf dem Treppenabsatz der jungen Frau in den Weg, so dass diese nicht an ihr vorbeigehen kann.
„Ja, ja, früher war bestimmt alles besser und gesitteter als heute.“ Mit diesen Worten versucht Tina sich an ihrer Nachbarin vorbeizudrücken, was aber unmöglich ist, da diese mit ihrer fülligen Figur die ganze Treppenflucht einnimmt. Außerdem hat ihr die Studentin ein neues Stichwort geliefert: Sittsamkeit.
„Sittsamkeit wurde ein unserer Zeit sehr groß geschrieben. Stellen Sie sich doch mal vor, gestern Abend kam die Tochter der Frau Schneider aus dem Stock über uns nach Hause. Aber nicht alleine. So einen dunkelhäutigen Ausländer hatte sie bei sich. Da haben sie sich doch direkt hier vor meiner Tür hingestellt und stundenlang geknutscht und sich an allen möglichen Stellen befummelt. Was sagen Sie dazu, Fräulein Schulze? Die ist doch gerade erstmal vierzehn.“
Erwartungsvoll sieht sie zu Tina hinüber, die sich gerade noch ein Grinsen verkneifen kann.
„Ja, da kann man nichts machen“, presst diese mühsam hervor, um nicht laut Lachen zu müssen.
„Natürlich kann man da etwas unternehmen. An der Erziehung liegt es.“ Frau Müller verfällt in einen Schulmeisterton. „Aber was kann man schon anderes erwarten von einer allein erziehenden Mutter, bei der täglich andere Kerle ein und aus gehen.“
„Woher wollen Sie das denn so genau wissen?“ fragt die Studentin dazwischen. „Sie wohnt doch nicht auf unserem Stockwerk.“
„Nein, das nicht. Aber Frau Kovalski hat es beobachtet und mir berichtet“, antwortet Frau Müller.
„Ach Frau Kovalski. Das ist ja auch so eine“, entfährt es Tina.
„Was soll das heißen ‚Auch so eine’?“ Die Nachbarin schnaubt laut und sieht die junge Frau mit funkelnden Augen angriffslustig an.
Diese macht eine kurze Pause und stammelt etwas verlegen: „Eine Mitbewohnerin, die ständig Augen und Ohren offen hält. Genau wie Sie.“
Bei der Antwort grunzt die ältere Frau zufrieden. „Das muss man auch in so einem Mehrfamilienhaus. Wie schnell kann es gehen, und man liegt eines Tages in seiner Wohnung und keiner merkt was“, fährt sie fort.
‚Bei dir würde es den Bewohnern schon nach kurzer Zeit auffallen, wenn du nicht mehr deine Tage tratschend im Treppenhaus verbringst. Und ich würde jetzt bei einer Tasse Kaffee gemütlich auf meinem Balkon die Sonne genießen’, denkt Tina wütend. ‚Warum musste ich nur noch den Müll rausbringen wollen?’
„Da ist doch im Wohnblock meiner Schwester vor vier Wochen ein Mord geschehen“, fährt die Nachbarin unbeirrt fort. „Keiner der Hausbewohner will etwas gesehen haben. Eine junge Frau, gerade mal zwanzig, wurde ein ihrem Schlafzimmer erstochen. Wenn nicht zufällig deren Bruder aufgetaucht wäre, hätte sie wahrscheinlich heute noch niemand gefunden.“
„Ja, Frau Müller“, unterbricht Tina den Monolog. „Ihnen wäre der Mörder nicht entgangen.“
„Machen Sie sich nur lustig über eine alte einsame Frau. Ich beobachte die Geschehnisse im Haus ganz genau.“
Plötzlich schnüffelt Tina im Treppenhaus und fragt: „Sagen Sie, haben Sie noch etwas auf dem Herd stehen? Es riecht hier so verbrannt!“
„Oh Gott, mein schöner Marmorkuchen“, jammert die Nachbarin und eilt in ihre Wohnung.
Schnell schnappt Tina ihre Abfalltüten und läuft die Treppe hinunter zum Mülleimer. ‚Jetzt aber nichts wie wieder hoch in meine Wohnung, so lange die Müller noch in ihrer Küche beschäftigt ist. Obwohl’, denkt die junge Frau, ‚mein Sonnenbad kann ich allerdings vergessen und alles wegen diesem Müll!’