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Münzen auf einer Schiene

Seniors
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21.08.2005
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Münzen auf einer Schiene

Martin betrachtete den Knick zu seiner linken. Er stand, einen Fuß auf den Asphalt gestützt, den anderen noch auf dem Pedal, die Arme auf den Lenker seines Fahrrads gelehnt, da. Es war ein schöner, sonniger Samstagvormittag mit einem blanken, stahlblauen Himmel. Martin war spontan auf sein Rad gestiegen und einfach losgefahren. Er hatte kein Ziel, sondern wollte nur das schöne Wetter nutzen und nicht drinnen vor dem PC sitzen. Er war Richtung Norden gefahren und hatte Wald und einige kleine Ortschaften durchquert, bis er langsam in eine Gegend kam, die er noch nicht kannte. Es gab massenhaft Felder, mit Getreide und Mais, in der Ferne manchmal Wälder und nur vereinzelt Häuser. Die Straße war noch neu, der schwarze Asphalt schwitzte in der Hitze und ließ sich prima mit surrenden Reifen befahren.
Und nun war da dieser Knick, der ein Weizenfeld auf seiner linken, und ein Maisfeld auf seiner rechten Seite voneinander trennte. Der Knick war ziemlich breit, vielleicht acht Meter, und sah für Martin wie ein geheimnisvoller Dschungel aus. In der Mitte waren zwei Radspuren im sandigen Boden, die von großen Grasbüscheln begrenzt und langsam wieder übernommen wurden. Zu den Seiten hin wurde das Gras höher, Büsche und Sträucher gesellten sich dazu, dann die Überhänger, Eichen, teilweise mit Efeu berankt, und schließlich kleine Gräben voller Gehölz, hinter denen die Felder anfingen.
Martin wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Knick sah verlockend und einladend aus, irgendwie alt und unberührt, wenn man von der Fahrspur einmal absah. Kurz entschlossen stieg Martin wieder auf, schaltete in den ersten Gang und fuhr in den grünen Durchgang hinein. Er war sich nicht sicher, ob das erlaubt war, aber es war kein Schild da und außerdem würde ihn eh niemand sehen, beruhigte er sich selbst. Er fuhr langsam in der rechten Fahrspur und genoss dabei den Anblick der Eichenstämme neben und der Blätterdächer über ihm, durch die die Sonne hindurchblitzte, die gedrängten Büsche und Sträucher, Gräser und Unkräuter, und das verschlungene Gehölz. Martin bemerkte, dass die Fahrspuren enger und überwachsener wurden, je weiter er kam. Nun machte der Pfad eine leichte Kurve nach rechts und er sah, dass er bald würde absteigen müssen, wenn er weiterkommen wollte, denn der Pfad wurde zusehend zugewachsener.
Zu seiner linken sah Martin eine Art Baumhaus, das sich allerdings am Boden befand und dessen Grundriss lediglich durch ein paar wenige an Baumstämme genagelte Bretter angedeutet war. Auf dem höchsten Brett, das zum Pfad hin zeigte, war mit roter und gelber Farbe und Pinsel „Mädchen der 3a“ geschrieben worden. Martin schmunzelte. Scheint so, als wären die doofen Jungs nicht erwünscht, dachte er. Im Inneren des Baumhauses lagen ein paar gesägte Scheiben von einem Baumstamm, wohl als Stühle, und Martin sah in einiger Entfernung eine gefällte Eiche daliegen, die in einzelne Segmente gesägt worden war. Das zerstörte die Illusion der unberührten Idylle, aber es war auch so noch schön genug.
Martin fuhr noch ein Stück weiter und stieg dann ab, weil die Fahrspuren inzwischen verschwunden waren. Er überlegte, ob er weiterschieben oder sein Rad hier zurücklassen sollte, und drehte sich kurz um. Die Straße war nicht mehr zu sehen, sie wurde durch die Kurve verdeckt und so ließ er sein Rad zu Boden sinken und ging zu Fuß weiter. Er hatte eine kurze Hose an, sodass ihm die Gräser um die nackten Schienbeine strichen. Leider taten das auch einige Spinnennetze.
Etwas später konnte er links das graugelb des Weizens durch das Gehölz hindurch sehen und suchte eine Stelle, an der er es durchqueren konnte. Bald hatte er eine gefunden, die zwar nicht besonders luxuriös aussah, aber immerhin ein bisschen lichter als der Rest. Er zwängte sich durch das Gehölz, wobei ihn Äste stachen und in seinen Kragen oder sonstwie unter sein T-Shirt zu gelangen versuchten. Im Graben in der Mitte des Gehölzes angekommen, der ausgetrocknet war, hockte er sich kurz hin, um Stücke von Ästen, Krümel und sonstigen Dreck von sich zu streifen. Das Graugelb war schon näher. Er erspähte eine günstige Stelle und zwängte sich auf dieselbe Weise wie zuvor weiter. Dann richtete er sich auf und schaute sich um. Er stand am Rand des Weizenfeldes, eines großen Meeres oder einer großen Sandfläche, einer Wüste, denn es regte sich kein Lüftchen und das Getreide bewegte sich nicht im Geringsten. In weiter, weiter Entfernung, am Ende des Feldes, sah er einen Bauernhof. Er riss sich ein paar Ähren vom Rand ab, löste die Körner von ihnen und warf die übriggebliebenen, nutzlosen Strunken weg. Er hatte nun eine Handvoll Weizenkörner. Nachdem er die Hülsen weggepustet hatte, steckte er sie sich in den Mund, und begann, auf ihnen herumzukauen. Es schmeckte mehlig und er erinnerte sich daran, wie sein Vater ihm das früher gezeigt hatte und gesagt hatte: „Du darfst sie nicht runterschlucken, sondern musst ganz lange auf ihnen herumkauen. Dann schmeckt es irgendwann süß!“ Aber er wollte jetzt nicht an seinen Vater denken.
Martin machte sich wieder auf den Rückweg.
Wieder auf dem Pfad angekommen, ging er in der ursprünglichen Richtung weiter.
Die Gräser vor ihm wurden immer dichter und höher, der Pfad immer schmaler, da die Büsche und Sträucher von rechts und links in seine Mitte drängten. Er sah ein Eichhörnchen, das ihn kurz mit seinen schwarzen Knopfaugen musterte, um dann weiter emsig in der Krone einer Eiche hin- und herkraxeln. Nach ein paar weiteren Kurven sah Martin plötzlich das Ende des Pfades vor sich: in einiger Entfernung lag quer ein Holzhaufen aus langen Scheiten. Er musste kurz an das Ende einer Schienenstrecke enden. Dahinter erhoben sich Brombeersträucher wie eine grüne, stachelige Wand in die Höhe. Martin stieg auf den Holzhaufen und spähte über die Brombeersträucher hinweg. Direkt vor ihm, quer, nur ein paar Meter entfernt, verliefen Schienen. Er suchte mit den Augen einen Weg, zu ihnen zu kommen, und sah nur eine Möglichkeit: durch Brennnesseln und Brombeerschlingen hindurch. Nachdem er sich durch diese unangenehme Stelle durchgekämpft hatte, erklomm er, nachdem er sich vergewissert hatte, dass kein Zug kam, den Schotter des Oberbaus des Gleisbetts und setzte sich auf eine der Schienen. Nach beiden Seiten hin verliefen die Schienen schnurgerade. Nach links verschwanden sie in weiter Entfernung in einer Kurve, und wie es nach rechts aussah, konnte Martin nicht sehen, da es so weit er sehen konnte geradeaus ging und dann die heiße Luft über den Schienen flimmerte und so alles wabernd verzerrte.
Die Sonne brannte heiß auf Martin hernieder. Am Himmel war noch immer nichts zu sehen, außer einem Flugzeug, das weit oben langsam dahinflog und einen geraden Kondensdoppelstreifen hinter sich herzog. Martin bemerkte die Brombeerbuschdornen, die er sich an den Beinen eingefangen hatte und entfernte sie aus seiner Haut. Außerdem schmierte er Speichel auf die Stellen, an denen ihn die Brennnesseln erwischt hatten, um das Brennen zu lindern. Dann stützte er die Hände hinter sich auf den Schotter, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Nach einer Weile legte er die Hand auf die Schiene, um zu fühlen, ob ein Zug kam, so wie sein Vater es ihm gezeigt hatte, wenn sie zusammen unterwegs gewesen und auf Schienen gestoßen waren, und dann zwei Pfennige daraufgelegt und auf den nächsten Zug gewartet hatten. Martin holte sein Portmonee aus der Tasche und sah hinein. Er hatte kein Ein-Cent-, aber ein Zwei-Cent-Stück. Er nahm es heraus und legte es in die Mitte auf die Schiene, auf der er saß.
Früher war er einmal mit seinem Vater unterwegs gewesen, auf einer Wanderung durch ein Naturschutzgebiet. Es war eine tolle Gegend gewesen, Natur pur und unberührt, und Martin hatte alles intensiver empfunden als heute, geheimnisvoller, zauberischer, verwunschener. Der Wald war nicht nur Wald, er war eine eigene Welt, in der wohl andere Wesen verborgen im Gebüsch und Gehölz wohnen mochten, vielleicht gute, vielleicht aber auch böse, die in der traumtrunkenen Atmosphäre des Waldes in zauberhaften Sonnen- oder Mondstrahlen ihre Rituale oder nicht zweckgebundenen Handlungen durchführten.
Sie waren auf Schienen auf einem grasbewachsenen, moosigen Damm mitten im Wald gestoßen, hatten sich auf ihnen niedergelassen und ihren Proviant verspeist: Brot, Käse und eine Salami. Dann hatte sein Vater ihm von der Sache mit den Pfennigen erzählt. Dass sie vom Zug ganz plattgedrückt werden würden. Martin war natürlich Feuer und Flamme gewesen für so ein Abenteuer. Also hatte sein Vater ihm einen Pfennig gegeben und Martin hatte ihn auf die Schiene gelegt und sein Vater seinen daneben. Dann hatte er ihm das mit der Hand auf der Schiene gezeigt, und Martin hatte seine nicht wieder weggenommen, bis er ein ganz leichtes Vibrieren gespürt hatte, so leicht, dass er erst glaubte, sich zu täuschen, aber dann nahm es zu, wurde stärker und stärker und Martin hatte das Gefühl gehabt, dass die Schiene lebte und sich in eine Schlange verwandelt hatte, die nun versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, als sie das rhythmische Rattern und Rumpeln der nahenden Eisenbahn hörten und sie schließlich auch sahen, wie sie um die Ecke gebogen kam, ein Ding aus der Welt der Menschen hier an diesem fantastischen Ort. Sein Vater hatte ihn bei der Schulter gepackt und ihm zugezischt, während sie ein Stück den Damm hinunterhasteten und sich hinter einen großen Busch warfen: „Schnell, verstecken wir uns, der Lokführer darf uns nicht sehen. Niemand darf uns sehen!“ Was für ein Abenteuer! Martin war begeistert, duckte sich so tief es ging hinter den Busch und schmiegte sich an seinen Vater. Dieser legte ihm den Arm um die Schultern und Martin konnte seinen Vater riechen, seinen ganz eigenen Geruch, nach Jeans und Leder, Stärke und Geborgenheit, und einfach nach ihm. In diesem Moment, glaubte Martin, war er glücklich gewesen. So glücklich, dass er seinen Vater hatte umarmen wollen, doch da war der Zug auf ihrer Höhe angekommen, donnerte mit seinem ohrenbetäubenden Krach an ihnen vorbei, zerriss mit Gewalt die zarte, zauberische Stille des Waldes, es rummste zweimal kurz hintereinander, und nachdem der Zug vorübergefahren war, waren sie wieder zu den Schienen hochgelaufen. Auf ihnen befanden sich nur die Abdrücke der beiden Münzen. Sie suchten daraufhin im Schotter und fanden die Münzen auch bald, plattgedrückt, genau wie sein Vater gesagt hatte.
Martin hatte das flache Stück Kupfer jahrelang aufbewahrt, bis es irgendwann verlorengegangen war. Und ja, er war glücklich gewesen, bei diesem Abenteuer mit seinem Vater.
Martin betrachtete das 2-Cent-Stück auf der Schiene neben ihm, Kupfer auf blankem Eisen mit rostigen Rändern.
Es war jetzt fünf Jahre her, dass er seinen Vater das letzte Mal gesehen hatte. Und hören tat er nur durch die zwei obligatorischen Briefe pro Jahr von ihm, einen zu Weihnachten und einen zum Geburtstag, deren Inhalt zu achtzig Prozent aus religiösem Gesülze bestanden, und die er nicht beantwortete.
Die Trennung seiner Eltern war hässlich gewesen, Gedanken zogen bei diesem Stichwort wie Überschriften durch Martins Kopf: … Streit … Geschrei … Tränen … gegenseitiges Aus-dem-Weg-gehen … Leere Augen, Apathie … Umzug … Alles neu und anders, Vater-Wochenenden … Etwas Normalität … Rückfall mit Handgreiflichkeiten … Schmerz … Zusammenbruch … erneuter Umzug … wieder alles neu und anders … Religiöser Wahn … Die Artikel zu diesen Schlagzeilen in seinem Kopf und Herzen ließ Martin gar nicht erst hochkommen. Das hatte er schon zu oft getan und es hatte ihm nie genützt, sondern ihn nur traurig gemacht. Aufarbeiten musste er das alles irgendwann, das war ihm klar, sonst würde es wachsen und wachsen und ihn schließlich verschlucken, wie ein schwarzes Loch. Er musste mit der Vergangenheit abschließen, aber noch nicht. Noch konnte er es nicht. Der Spruch Zeit heilt alle Wunden. fiel ihm ein und er lächelte bitter. Die Zeit heilt alle Wunden? Aber nur, wenn mit „Zeit“ die Mischung aus Vergessen, Verdrängen, Abwiegeln, sich selbst belügen und Bewältigen gemeint ist, dachte er.
Es war seltsam; Martin hatte das Gefühl, seit der Trennung seiner Eltern, seit dem Bruch mit seinem Vater, nicht mehr vollständig zu sein. Sein damaliges Ich, versinnbildlicht durch einen dreiradfahrenden, kleinen Jungen, war stehengeblieben. Martin hatte sich weiterentwickelt, zum Jugendlichen und schließlich zum Erwachsenen. Doch schon dieser Jugendliche und auch dieser Erwachsene waren unvollständig, denn der kleine Junge auf dem Dreirad fehlte. Die Trennung, der Bruch, hatten sich für diesen Jungen in Form eines für ihn unüberwindbaren Berges oder eines Abgrunds manifestiert und ihn von seinen Weiterentwicklungen getrennt. Der Junge war zurückgeblieben, er saß immer noch auf seinem Dreirad und versuchte, das Hindernis zu überwinden, was ihm aber nicht gelang und auch nie gelingen würde, während seine größeren Ichs melancholisch über seinen Verlust durch die Weltgeschichte wanderten.
Nach der Trennung seiner Eltern war Martin, früher ein fröhlicher, aufgeweckter Junge, zu einem stillen, in sich zurückgezogenen, nachdenklichen Teenager geworden. Er hatte wenig Freunde, eigentlich nur einen wahren, der Rest waren Kumpels, aber das war für ihn in Ordnung. Was ihn allerdings störte, war, dass er noch nie eine Freundin gehabt hatte. Er konnte nicht genau herausfinden, inwieweit das mit der Trennung seiner Eltern zusammenhing, aber er fühlte, dass es das tat. Außerdem, so hatte er erst kürzlich realisiert, hatte er im Laufe der Zeit ein Problem dazubekommen: dadurch, dass die Frauen für ihn so unnahbar waren, identifizierte er sie mit seinen Idealen und Wunschvorstellungen, mit Schönheit und Erhabenheit, sodass Frauen für ihn etwas Reines und Unbeflecktes, ja, etwas Engelhaftes versinnbildlichten. Dadurch entfernte er sich natürlich noch mehr von ihnen, indem er sie auf eine Sphäre des Edlen, Anzustrebenden hob, auf die die meisten aber gar nicht gehörten. Er hatte mit einer Freundin darüber gesprochen, die natürlich einen Freund hatte, aber sie trafen sich trotzdem manchmal, und diese Freundin hatte sein mit den Jahren verzerrtes Frauenbild wieder geradegerückt. Und nun trauerte Martin den verstrichenen, ungenutzten Jahren hinterher, in denen er manche Mädchen und Frauen insgeheim bewundert, jedoch nie gewagt hatte, etwas zu tun.
Seine Welt bestand aus Büchern, Filmen und Musik. Alles Dinge, mit denen man aus seiner realen Welt flüchten konnte, wie er festgestellt hatte…
…Martin drehte einmal mehr den Kopf nach links und sah die flirrende Eisenbahn, die in einiger Entfernung um die Ecke bog. Durch ihre seitliche Position konnte Martin ihre Geschwindigkeit sehen; nicht sehr schnell, aber auch alles andere als langsam. Als sich die Bahn dann in gerader, direkt auf Martin gerichteter Position befand, konnte er die Geschwindigkeit nur sehr schwer abschätzen, da sie sich scheinbar nicht bewegte, was sehr trügerisch war, denn plötzlich war sie doch ein ganzes Stück näher, und plötzlich noch eins. Nun konnte Martin auch an seinem Hintern die Vibration der Schiene spüren. Er überprüfte schnell die Position des 2-Cent-Stücks und sprintete dann durch die Brombeeren und Brennnesseln hindurch auf den Holzstapel. Dabei durchfuhr ihn das Adrenalin, und er kam sich wieder vor wie der kleine Junge, der damals mit seinem Vater neben sich hinter dem Busch in Deckung gegangen war. Er schluckte den inzwischen süßlich schmeckenden Brei in seinem Mund herunter und duckte sich soweit, dass er nur geradeso über die Brombeerbüsche schauen konnte. Er suchte mit den Augen das 2-Cent-Stück, da lag es, mitten auf der Schiene, und da fuhr die Bahn rumpelnd und dröhnend heran, Martin sah den Lokführer, der gelangweilt geradeaus blickte, und an ihm vorbei, es rummste einmal, und mit einem hellen Pling sprang das 2-Cent Stück in die Luft, die Zeit schien sich erst zu verlangsamen und dann stillzustehen, das kleine Geldstück hing an seinem höchsten Punkt in der Luft, drehte sich in Zeitlupe und blitzte dadurch kupferfarben in der Sonne auf, und auf seinen Schultern spürte Martin den Druck eines Armes, hörte einen Atem neben sich, roch den Geruch nach Leder und Jeans und Stärke und Geborgenheit in geradezu unheimlicher Intensität, und er spürte das Abenteuer und die Freude von damals, und da beschleunigte sich die Zeit wieder auf ihre normale Geschwindigkeit, das 2-Cent-Stück fiel in den Schotter und der Zug war vorüber. Martin zwängte sich wieder durch die Brombeeren und Brennnesseln und kletterte das Gleisbett hinauf. Er suchte im Schotter nach der Münze und wunderte sich, dass er alles verschwommen sah, bis er merkte, dass er weinte, und sich die Tränen aus den Augen wischte.
Er fand die Münze nach kurzem Suchen und sie war genauso platt wie der Pfennig damals; sie sah nicht mehr rund, sondern langgezogen wie ein Ei aus, die Prägung war verschwunden, aber man sah trotzdem noch die Konturen. Martin setzte sich wieder auf die Schiene und betrachtete das Kupferstück, während er es zwischen den Fingern drehte.
Eine neue, platte Münze.
Martin stand nun vor dem „Ernst des Lebens“: Er hatte sein Abitur gemacht, wusste aber nicht genau, was er machen wollte. Momentan leistete er seinen Zivildienst in einem Kindergarten ab. Aber was sollte er danach machen? An der Uni studieren? Was? Eine Ausbildung machen? Zu was? Und wozu hatte er dann Abitur gemacht?
Die Fragen Was kann ich? und besonders Was will ich? waren die, die ihn momentan am meisten beschäftigten. Was will ich? Martin glaubte, dass er mit dieser Frage eigentlich gar nicht richtig umgehen konnte, weil er darin gar nicht geübt war. Bisher hatte er nie entwickeln müssen, was er wollte, alles lief in geregelten Bahnen, eins kam nach dem anderen, ob er es nun wollte, oder nicht. Aber jetzt war das etwas Anderes. Jetzt war Schluss mit dem Geregelten. Klar, eigentlich alle sagten: „Mach, was du willst, was dich glücklich macht. Der Rest (Ansehen, Geld) ist nicht so wichtig, hör nicht auf die anderen.“ Aber der „Rest“ war ihnen eben doch wichtig, auch wenn sie das Gegenteil behaupteten, diese verdammten Heuchler. Sie waren alle so leicht zu durchschauen, ihre Reaktionen, wenn er (was er selten getan und sich inzwischen ganz abgewöhnt hatte) einmal etwas von seinen Überlegungen diesbezüglich verlauten ließ. Diese schreiende Widersprüchlichkeit ihres Gelabers, ihrer Augen, ihres Tonfalls, und ihrer Gesten. Eigentlich war es dieser Widersinn ihrerseits, der ihn sich dazu entscheiden ließ, wirklich zu tun, was er wollte (wenn er es doch nur wüsste), und nicht auf die anderen zu hören, auf ihr idealistisches Gesülze, das sie zwar von sich gaben, aber nicht daran glaubten. Und dass sie das taten, ärgerte Martin maßlos. So zu tun, als wäre Geld nicht das Wichtigste im Leben, Ideale wie Glück und Seelenfrieden in den Himmel zu loben, sich so als Heiliger darzustellen, in Wirklichkeit aber genau andersrum zu handeln, das war für ihn schlimmer, als hätten sie einfach gesagt: „Such dir bloß einen Beruf, der angesehen ist, und in dem du viel verdienst, das ist das Wichtigste.“ Und dieses Übel steckte in jedem Erwachsenen, hatte er leider feststellen müssen. Bei manchen mehr, bei anderen weniger, aber bei allen war es vorhanden.
Und egal, wie seine Zukunft aussehen würde, er hoffte, dass er nie so werden würde, wie diese Leute. Aber er wusste auch, dass das sehr hart werden würde.
Martin schaute auf seine Hand. Eine neue, platte Münze. Alleine gemacht, alleine das Abenteuer bestanden, ohne seinen Vater, ohne den Zauber der Kindheit, nur in der harten, melancholischen Realität. Und die Münze sah nicht schlechter aus als die von früher.
Aber wie auch immer das mit den Heuchlern sein mochte, Fakt war, dass nun sein eigener, persönlich gestalteter Lebensweg begann. Nun war es an ihm, die Richtung zu bestimmen und den Weg einzuschlagen. Er wusste, noch hatte er Zeit, nicht mehr viel, aber genug, die richtige Entscheidung zu treffen, das Richtige zu tun.
Aber, Himmel, hilf, was war denn bloß das Richtige?
Martin betrachtete wieder die platte Münze in seiner Hand.
Aber vielleicht, überlegte er, sind wir gar nicht frei zu entscheiden, vielleicht sind wir nur Münzen, und der Zug ist das Leben. Wir können uns auf die Schienen legen, auf welcher Seite wir wollen, wo wir wollen, wir können uns eine Position suchen, in der Mitte oder am Rand. Aber das Leben wird uns auf jeden Fall erwischen, und es wird uns so oder so verändern. Und nachdem es vorüber ist, dachte Martin wieder bitter lächelnd mit Blick auf das Kupferstück in seiner Hand, sehen wir alle ziemlich gleich aus. Manche Menschen verschwinden in einem hohen Bogen und mit einem lauten Pling, andere rutschen einfach so in den Schotter, unspektakulär, still.
Martin erhob sich und machte sich auf den Rückweg zu seinem Fahrrad. Es war Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Zurückblicken ist erlaubt, zurückstarren aber nicht!, oder so ähnlich, hatte er einmal gelesen. Es war an der Zeit, an die Zukunft zu denken.
Er wusste, noch hatte er Zeit, nicht mehr viel, aber genug, die richtige Entscheidung zu treffen, das Richtige zu tun.
Aber, Himmel, hilf, was war denn bloß das Richtige?

 

Hallo Maeuser,

deine Geschichte ist leider nicht wirklich nach meinem Geschmack, was natürlich nicht bedeutet, dass sie schlecht ist. Mir war sie schlichtweg zu schmalzig. Auch die getragene Sprache leistet hierbei ihren Beitrag.

Sprachlich bist du aber sehr sicher, und deine Erzählung lässt sich flüssig lesen. Allerdings frage ich mich, warum "Knick" nicht Teil meines Wortschatzes ist. Ich weiß zwar, dass ein Weg abknicken kann, aber so eine Art Knick scheinst du ja nicht zu meinen.

Ist das ein norddeutscher Begriff?

Schöne Grüße,

yours

 

Hallo Maeuser!

Das Thema Deiner Geschichte finde ich wunderschön. Besonders hat mir die Stelle gefallen, an der Martin das erste Mal an seinen Vater denkt. Ich finde, die hätte ruhig früher kommen dürfen!

Die Landschaftsbeschreibung am Anfang fand ich etwas langatmig, vor allem, da es eine bloße Beschreibung war. Wenn Du sie stärker mit Gefühlen auflädtst, und zwar mit den Gefühlen, die später eine Role spielen (Verdrängung, bittersüße Erinnerung, Orientierungslosigkeit etc.), kann das aber noch ein richtig starker Part werden.

Gruß und schönes Wochenende,

Pardus

 

Hallo yours,
tja, schade, dass ich nicht Deinen Geschmack getroffen habe, leider habe ich meistens die Neigung zum Schmalzigen hin, naja, muss ich dran arbeiten...
Knick ist in der Tat ein norddeutscher Begriff. Gemeint ist diese Art Hecke zwischen Feldern (http://de.wikipedia.org/wiki/Knick).
Danke fürs Lesen und Kommentieren!

Hallo Pardus,
schön, dass Dir die Geschichte im Großen und Ganzen gefallen hat. :)
Über die Landschaftsbeschreibungen werde ich nochmal nachdenken.
Auch Dir vielen Dank fürs Lesen und Kommenteiren!

Liebe Grüße,
Maeuser

 

Hoi Maeuser,
ich möchte dir die Aufmerksamkeit zurückgeben, die ich von dir erhalten habe.
Dein Text ist sehr interessant und besprechenswert. Zuerst einmal gefällt mir die Sprache. Wie schon gesagt wurde, bist du sehr sicher, sehr exakt und wie ich finde sehr authentisch. Du schaffst es, die Landschaft und die Figur sehr detailreich wiederzugeben und in mir präzise Bilder zu erzeugen. Ich sehe den Wald und die Schienen und die Brenneseln und kann die Hitze förmlich spüren. Auch den Zug sehe ich und fühle die Aufregung, wenn er näher kommt.
Das ist klasse und absolut nicht einfach.

Leider führt das allerdings auch zu von den anderen angesprochenen Längen, wobei ich das hier nicht so schlimm finde, wenn man sich erstmal drauf eingelassen hat.

Negativ fällt mir dann eher der Bruch auf. In der Mitte des Textes, sobald er dasitzt und mit dem Pfennig spielt schwenkt die Kamera von der naturalistischen Außensicht völlig unvermittelt in eine reflexive Innensicht. Die Natur,die eben noch so wichtig war, verschwimmt und der Text befasst sich nur noch mit den Gedanken, Erinnerungen und Sorgen der Figur. Kurz kommt die naturalistische Welt dann, wie der Zug, noch mal zurück, was sehr hübsch und dann auch mal spannend ist, aber gleich darauf tauchen wir auch schon wieder in die Reflexion.

Das wirkt mir etwas unausgeglichen, zumal dadurch die Motivation für die Naturbeschreibung etwas abhanden kommt. Warum beschreibt er die Natur so detailliert wenn sie am Ende doch nur Kulisse für die Gedankengänge ist?
Sie ist die Handlung nicht eingebunden, wenn man hier von Handlung sprechen kann. Denn Handlung ist hier zum einen der Akt mit dem Pfennig der ja in der domestizierten Natur statt findet, auf den Schienen und zweitens die Erinnerung an den Vater.
Der Rest ist Beschreibung und Reflexion. Das heißt, der Wald, die Kinderhütte und alles haben mit der Geshcichte selbst eigentlich gar nichts zu tun. Dabei hätte sich das Baumhaus angeboten, hier schon mit Reflexionen der eignen Kindheit anzufangen, wie es ja mit diesen Keimlingen ein wenig geschieht.

Kurz, mir sind die beiden Teile der Geschichte nicht genug verwoben, sie existieren weitgehend unabhängig voneinander und wirken nur wenig aufeinander ein. Gerade der Reflexion würde es gut tun wenn hin und wieder mehr Außenwelt in sie hineinfließen würde. Wenn man mehr Geräusche hört, vielleicht hin und wieder fürchtet, der Zug können unverhofft kommen . ( Der Spannung der Geschichte wegen würde ich auch eine Kurve in den Gleisverlauf einbauen  machen wir uns nichts vor, beim lesen ist es eine Faszination zu bangen, ob der arme, grübelnde Bursche vom Zug überrollt wird, weil er sich ganz in der Vergangenheit verliert. Es gibt keinen Grund nicht etwas mehr damit zu spielen. )

Fazit:
Der Fluss einer Geschichte lebt vom Gleichgewicht von Beschreibung, Handlung und Reflektion und da könntest du hier noch nachbessern.

Das Ende ist dann auch mir etwas zu schmalzig. Braucht es wirklich so ein gewaltiges Fazit? Muss der Ausblick auf eine Zukunft so pathetisch sein? Da würde ich etwas zurücknehmen, aber das ist reine Meinung, letztlich ist das wirklich dann deine Handschrift und du musst wissen was du Aussagen willst.
Im Gesamten ein , der zeigt, dass ein Autor sein Handwerk versteht, der aber noch etwas Balance vertragen würde.


Einige Formulierung wirken etwas holzern, da kann man vielleicht was dran machen:

„denn der Pfad wurde zusehend zugewachsener.“
Denn

Das klingt etwas steif. Vieleicht ginge:
"denn das Gestrüpp wurde zunehmend dichter."

„Er hatte eine kurze Hose an, sodass ihm die Gräser um die nackten Schienbeine strichen. Leider taten das auch einige Spinnennetze.“

Das ist so eine Stelle, wo man wunderbar in die Kindheit eintauchen könnte. Gibt es irgendein erlebnis mit spinnen die ihm noch ind en Knochen sitzt? So könnte man den Vater auch elleagnt einführen."

„Und hören tat er nur durch die zwei obligatorischen Briefe pro Jahr von ihm“

Weniger Umständlich klingt: Er hörte nur noch durch zwei obligatorische..." Obwohl "er las", dann so oder so besser wäre.

So weit erstmal

Gerne gelesen
Gruß marot

 

Hi Marot,

ui, da hast du ja was ausgegraben.. ;)

ich möchte dir die Aufmerksamkeit zurückgeben, die ich von dir erhalten habe.
Klasse, vielen Dank! Das tust du, sogar viel differenzierter und fundierter als ich mit meinem Beitrag zu deinem "Der Riese und die Maid".

Ich hab den Text gerade nochmal gelesen, und finde es erstaunlich, wie anders ich ihn jetzt sehe...

Du hast recht, die Naturbeschreibungen finde ich inzwischen ebenfalls zu ausführlich, das Ungleichgewicht zwischen der "naturalistischen Welt" und Reflexion habe ich ebenfalls empfunden.
Das Ende ist wirklich in der Tat zu dick aufgetragen, überhaupt finde ich den Text jetzt insgesamt zu theatralisch. Ich hatte ihn damals recht emotionsgeladen geschrieben, erinnere ich mich.

Vielen Dank für diese Kritik! Heute würde ich das Ganze anders aufziehen, aber es ist eben ein Stück in meiner Entwicklung als Schreiberling, und daher werde ich wohl auch nicht mehr daran rühren, die Anmerkungen dazu aber für künftige Projekte im Hinterkopf behalten.

Danke für diese kleine Reise in die Vergangenheit. ;)

Ich schreibe gerade etwas für "Jugend", was ich irgendwann demnächst reinstellen werde (kann aber noch ein bisschen dauern), und es würde mich sehr freuen, wenn du dann, sofern du magst, mal einen Blick darauf werfen würdest.

Viele Grüße,
Maeuser

 

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