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- 10.10.2004
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Macht des Wahnsinns
Erich Kästner
Irrwege
₪
Irgendwo in weiter Ferne krähte ein Hahn. Sedric schlug die Augen auf. Er hatte schon immer einen leichten Schlaf gehabt, und seitdem er im Kerker saß, schlief er noch schlechter.
Langsam erhob er sich und verzog schmerzvoll das Gesicht. Die harte Holzpritsche, gepaart mit Kälte und Feuchtigkeit, bereitete ihm üble Rückenschmerzen.
Stöhnend stand er auf, ging ans Fenster und blickte nach draußen. Fenster? Trotz seiner Beschwerden musste Sedric grinsen. Es war eher ein Loch in der Wand, das zusätzlich mit Gitterstäben gesichert war. Völlig unnötig, wie er fand. Nicht einmal ein Kind hätte sich durch die Öffnung quetschen können.
Draußen schneite es. Der erste Schnee dieses Jahres, da war er sich ziemlich sicher.
Zitternd setze er sich wieder hin und schlang die Arme um den Körper. Wenn die Temperaturen weiterhin fielen, würde er bald erfrieren. Mit klammen Fingern griff er an das große Medaillon, das ihm am Hals hing. Mit aller Kraft zerrte er daran, doch es war vergebens. Es war an einer engen Eisenkette befestigt, welche sich weder durchtrennen, noch über den Kopf abstreifen ließ. Er resignierte. Seine bisherigen Bemühungen hatten ihm nur einen wundgescheuerten Hals beschert, sonst nichts.
Schritte näherten sich seinem Verlies. Essen? Um diese Zeit? Der schwere Riegel wurde beiseite geschoben, die Zellentür öffnete sich und ein dunkler Schatten erschien im Lichte des Ganges. Sedric schloss die Augen, hielt sich die Hände schützend vors Gesicht. Nicht, weil es so blendete, sondern weil er Schläge erwartete. Wieso war der Wärter sonst so früh gekommen?
»Komm mit. Du wirst erwartet.«
Erleichterung machte sich breit. Stumm leistete er der Aufforderung folge. Mit dem Aufseher war nicht zu spaßen, das hatte Sedric die vergangenen Monate schmerzvoll erfahren müssen. Anfangs war er noch aufsässig gewesen, doch mit jedem weiteren Tag, mit jedem weiteren Schlag war er gefügiger geworden. Mittlerweile verzichtete der Wärter sogar darauf, ihm die Hände zu fesseln. Sedrics Widerstand war gebrochen.
Der Aufseher ging voran, und sein Gefangener folgte ihm, aus der Düsternis ans Tageslicht.
***
Die Soldaten vor dem Tor beobachteten die zwei argwöhnisch, dann nickte einer von ihnen und öffnete.
»Hör zu, Sedric«, flüsterte sein Bewacher, »wir gehen jetzt zum König. Benimm dich, oder du wirst es bitter bereuen.«
Ratlosigkeit machte sich in ihm breit. Der König? Was kann der nur von mir wollen?
Sie betraten den Thronsaal. Sonnenlicht flutete durch bunte Glasfenster und tauchte alles in zauberhaftes Licht. Das Erste, das ihm ins Auge fiel, waren drei große Statuen, denen man die Köpfe abgetrennt hatte. Die enthaupteten Götter. Sie standen links und rechts des Läufers Spalier, um die Absichten eines Besuchers ergründen zu können, ehe er dem König Aufwartung machte. Jedenfalls war das früher so gewesen. Langsam gingen Sedric und der Wärter vorwärts.
Linkerhand stand Rajas, Gott des Feuers, flammenden Charakters und seines Hauptes beraubt, dann kam Neya, Göttin des Winters, wunderschön und verstümmelt, und am Ende wartete Kydon, Gott der Blitze, der in wolkenhafter Gestalt das Schicksal der anderen teilte.
Er sieht dem Hauptmann wirklich ähnlich …
Entmachtete Götter, tote Götter. Und der Mann, der ihnen das angetan hatte, saß im hintersten Winkel des Saales. Der Ungläubige. König Ciron.
Sein Blick war fest auf die zwei Neuankömmlinge gerichtet. Sedric kam sich in diesem Umfeld ungeheuer schäbig vor. Barfuß, in zerlumpten Gewändern, und das vor ihm. Am liebsten wäre er wieder ins Verlies zurückgegangen.
»Mein König, ich bringe Euch den Wahnsinnigen«, sagte sein Bewacher, als sie beim Thron angekommen waren. Der Ungläubige nickte und gab seinen Soldaten einen Wink. Zwei von ihnen kamen auf Sedric zu und bezogen neben ihm Stellung.
»Du kannst gehen«, sagte er an den Wärter gewandt. Dieser verbeugte sich und zog sich zurück.
Momente, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, starrten sie sich an. Ciron war schon alt, das lange Haar schlohweiß und blaue Augen, die ihn mit unergründlichem Blick musterten. Seine Miene war völlig ausdruckslos und -
Der Schlag auf Sedrics Rücken war so brutal, dass er stöhnend in die Knie ging.
»Erweise dem Herrscher die Ehre!«, rief einer der Soldaten.
Vor gar nicht allzu langer Zeit hatten ihn Könige, Edelmänner und Grafen wie einen von ihnen behandelt. Jetzt kniete er in Lumpen vor einem und wurde von seinen Handlangern gedemütigt. Wie sich die Dinge doch geändert hatten.
»Helft ihm auf die Beine«, sagte Ciron.
Das Gewicht des Medaillons zerrte an seinem Hals, als ihn kräftige Arme wieder aufrichteten.
»Ich will gleich zur Sache kommen, Sedric«, sagte er und sah ihn dabei so eindringlich an, dass er eingeschüchtert den Blick abwandte.
»Das, was du meinem Volk angetan hast, ist durch nichts wiedergutzumachen. Anfangs spielte ich mit dem Gedanken, dich dem Pöbel vorzuwerfen und ihn über dich richten zu lassen, doch die Vernunft gebot mir schlussendlich Einhalt.«
Einer der Soldaten riss an seinen Haaren und lenkte seinen Blick wieder auf Ciron. »Sieh den König gefälligst an, wenn er mit dir redet!«
Diese Augen machten ihn verrückt. Sie schienen direkt in seine Seele zu sehen, nichts, wirklich gar nichts konnte er vor diesem Blick verbergen. Und mit dem Blick kam ein Gefühl in ihm auf, dass er in seinem Leben selten verspürt hatte - Reue. Und das so stark, dass es wehtat. Irgendetwas musste er tun, um sein Gewissen zu erleichtern. Nur was?
Entschuldigen?
»Es … es tut mir leid, was ich Eurem Volk angetan habe.«
Habe ich das jetzt wirklich gesagt?
Er fixierte eine Wandvertäfelung, die sich hinter dem Thron befand.
»Schön, dass du deine Schuld einsiehst. Ich jedoch habe dich nicht gerufen, um mir Reuegeständnisse anzuhören.«
Will er mich hinrichten lassen? Angst stieg in ihm auf. Er fürchtete sich nicht vor dem Tod, aber sehr wohl vor den Schmerzen auf dem Weg dorthin.
»Wir brauchen deine Hilfe, Sedric.« Wie vom Donner gerührt sah er Ciron an. Hatte er sich gerade eben verhört?
»Nein, das hast du nicht«, sagte der König. Seine Augen nahmen ihn noch mehr ins Visier, es schien fast so, als würde er gezielt nach etwas in Sedrics Geist suchen.
»Wir haben eine Gegenoffensive gegen deinen ehemaligen Verbündeten gestartet und sind ins Stocken gekommen. Wir können seine Festung nicht erobern.«
»Und jetzt wollt Ihr, dass ich Euch helfe, den Todesfürsten zu besiegen.«
»Exakt.«
»Und was ist, wenn ich mich weigere?«
Der König richtete sich auf. »Du hast gar keine andere Wahl!« Er wandte sich an die Soldaten. »Besorgt dem Wahnsinnigen neue Kleider, draußen erfriert er uns sonst noch.«
Bedeutet das, dass ich heute noch …
Ciron bedachte ihn mit einem schiefen Lächeln. »Um deine Frage vorweg zu nehmen: Ja, du wirst unverzüglich zur Festung aufbrechen.«
***
Seine Prozession durch Tyradon hatte begonnen. Er saß gefesselt auf einem offenen Wagen, den Wurfgeschossen des Pöbels schutzlos ausgesetzt. Sie hatten ihn in einen warmen roten Umhang gesteckt und ihm Schuhe gegeben. Am Straßenrand standen aufgebrachte Menschen, die von Soldaten zurückgehalten wurden.
»Wieso wird der Wahnsinnige nicht hingerichtet?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Stirb, Mann, stirb!«
»Stirb, Mann, stirb!«
Sedric konnte die Aufregung der Menge verstehen. Sie hatten jedes Recht, ihn zu hassen. Er sah sich die Stadt genauer an. Die Schäden, die er angerichtet hatte, waren noch gut zu sehen. Eingestürzte Häuser, Feuerschäden überall. Trümmer, von Raureif bedeckt. Er reckte seinen Kopf, wollte einen Blick auf die majestätische Kuppel der Goldenen Zitadelle erhaschen. Doch dort, wo sie sich einst ehrfurchtgebietend erhoben hatte, war nichts mehr. Das Gebäude musste nach dem verheerenden Brand vollständig eingestürzt sein.
Die vielen Toten werden sie sicher schon alle begraben haben, dachte er und fühlte sich so elend wie nie zuvor in seinem Leben.
Ein Stein traf ihn an der Schläfe, jemand spuckte ihm ins Gesicht. Er nahm es hin.
Der König wollte ihn mit dieser Schau anscheinend demütigen, ansonsten hätte er ihn ja einfach unauffällig aus der Stadt schmuggeln können. Was für ein Bastard. Früher hatte ihn in einer solchen Situation stets die kalte Wut gepackt, doch der Anblick der verwüsteten Stadt ließ sie gar nicht erst aufkommen. Was hatte er nur getan? Sedric ließ den Kopf hängen. Hoffentlich ist es bald vorbei …
Sie erreichten das Tor, der Wagen hielt.
Lange Zeit tat sich nichts, dann schälte sich ein Mann mit grasgrünem Umhang aus der Menge. Er hatte eine schleppende Gangart, seine linke Gesichtshälfte wurde von einer silbernen Maske verdeckt.
Sedric wurde blass, als er ihn erkannte. Das war unmöglich! Der Kerl konnte die Schlacht nie und nimmer überlebt haben, er war damals regelrecht zerstückelt worden!
Verdammter Mist, verdammter, verdammter Mist!
Es war Asél, der Grüne Magier. Asél, der so verbissen gegen ihn gekämpft und am Ende doch den Kürzeren gezogen hatte. Asél lebte. Bei allen gestörten Göttern, wie war das nur möglich?
Der Mann stieg auf die Ladefläche und grinste ihn gehässig an.
»Überrascht, mich zu sehen, oh Wahnsinniger?«
Sedric brachte kein Wort heraus.
»Wie habe ich mich nur auf dein verblüfftes Gesicht gefreut«, sagte der Magier, klopfte ihm auf die Schulter und erhob das Wort an die Menge.
»Seid alle unbesorgt, Leute! Sedric der Wahnsinnige wird bald seine gerechte Strafe erhalten. Ich bitte nur noch um ein paar Tage Geduld!«
Unter protestierendem Geschrei des Pöbels verließ die Prozession die Stadt.
***
Es war nur eine kleine Gruppe, die sich zur Festung des Todesfürsten aufmachte. Außer Sedric, Asél und dem Fuhrmann gingen noch eine Handvoll Soldaten mit. Es hatte wieder angefangen zu schneien.
Im Laufe der letzten Monate hatte Sedric seine Taten immer mehr bereut, aber beim Grünen Magier bereute er nur, dass er ihn am Leben gelassen hatte.
»Ich kann mir gut vorstellen, was gerade in dir vorgeht, oh Wahnsinniger«, sagte Asél, nachdem er auf der gegenüberliegenden Sitzbank Platz genommen hatte. »Du fragst dich sicher: ›Wieso ist er nicht tot, warum hat er nicht einfach verrecken können wie alle anderen auch?‹«
Sedric wagte nicht, zu antworten.
»Nun ja«, fuhr Asél fort, »es war ein bisschen Glück dabei. Ich lag verkrüppelt in der Gosse, wie ein zerrissenes, geschändetes Abbild jenes prächtigen Mannes, der ich einst gewesen war. Ich blutete wie ein Schwein und es wollte und wollte nicht aufhören. Aber zu deinem Pech wusste ich mir zu helfen.« Asél grinste ihn an, und er sah, dass ein paar Zähne fehlten.
»Ich verödete meine Wunden mit Flammenstößen, und die Ströme des Blutes versiegten. Es war so schmerzvoll, dass ich ohnmächtig wurde. Diese … selige Schwärze. Wie gerne wäre ich in ihrer liebevollen Umarmung geblieben.«
Der Magier vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich wäre sicher gestorben, wenn mich die Heiler Tyradons nicht so schnell gefunden hätten. Sie nahmen meine schwer verwundete Hülle und setzen sie neu zusammen.« Asél nahm die Hände vom Gesicht und warf einen nachdenklichen Blick ins Schneegestöber. »Leider waren manche Extremitäten derart übel zugerichtet, dass sie Leichenteile nehmen mussten, um mich wieder zu einem vollständigen Wesen zu machen.«
Er streifte seinen rechten Handschuh ab. »Hier, sieh!«
Sedric wurde schlecht. Die Hand war stark verwest, teilweise konnte man Knochen durch die graue Haut durchschimmern sehen.
»Anfangs war sie noch frisch, doch Leichenteile sind leider nicht sehr haltbar. Alle paar Monate müssen der rechte Arm und meine beiden Beine ausgetauscht werden.«
Er packte Sedric mit seiner toten Hand am Hals. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie schmerzhaft faulende Gliedmaßen sind?« Asél schrie gellend auf, und Sedric zuckte zusammen.
»Ja, oh Wahnsinniger, so könnte ich andauernd schreien!« Er entblößte den Unterarm und hielt ihn Sedric unter die Nase. Kleine Löcher waren im faulen Fleisch zu erkennen.
»Das machen die Würmer. Verdammte Kurpfuscher! Sie fressen meinen Arm von innen auf, und ich verrecke dabei fast.«
Asél legte den Kopf in den Nacken und ließ sich die Schneeflocken ins Gesicht fallen.
»Dieser Schmerz … Es brennt, als würden sich betrunkene Horden in eine schwärende Fleischwunde erleichtern.« Seine Miene hellte sich auf. »Ja, genauso ist es! Ätzender, saurer Urin inmitten gammelnden Fleisches.«
Schockiert starrte ihn Sedric an. Unglaublich, aber der Mann war seit ihrer letzten Begegnung noch verrückter geworden. Eigentlich hatte er vorgehabt zu kooperieren, sich bedingungslos zu fügen. Doch die Präsenz seines alten Feindes ließ seinen schon verloren geglaubten Widerstand erstarken. Er leistete sich ein schwaches Lächeln. Niemals würde er tun, was der Magier von ihm verlangte. Bei der ersten Gelegenheit würde er flüchten, irgendeine Möglichkeit würde sich schon ergeben, da war er sich sicher.
Und falls nicht, nun ja … lieber sterbe ich, als von diesem Irren Befehle entgegenzunehmen.
Dass dieser Tag tatsächlich sein letzter sein würde, kam ihm trotzdem nicht in den Sinn.
***
Die Reise zur Festung des Todesfürsten zog sich ewig hin. Vielleicht lag es daran, dass es so kalt war. Oder an Aséls merkwürdigem Talent, die eigenen Schmerzen möglichst plastisch zu schildern. Höchstwahrscheinlich an beidem.
Er hielt seinem Gefangenen eine kleine Flasche vor die Nase.
»Das ist Gift, oh Wahnsinniger. Es bereitet mir üble Magenschmerzen, es macht mich träge, es vernebelt das Denkvermögen. Aber - verdammt noch mal! - es nimmt wenigstens ein bisschen von dem Leid, das du mir angetan hast.«
Er öffnete die Flasche und nahm einen kleinen Schluck. »Das Zeug macht schwachsinnig, und ich werde wahrscheinlich bald ins Delirium fallen«, sagte er augenzwinkernd zu Sedric. »Aber bevor ich total verblöde, werde ich zuerst die Festung erobern, diesen verfluchten Todesfürsten vernichten und dich hängen sehen. Und dann - wenn alles vorbei ist - werde ich mit glühenden Eisenstäben meinen Körper solange malträtieren, bis die Schmerzen meine jetzigen übertreffen und mich der geballte Schock ins Gras beißen lassen wird.«
Wieso hörte der Kerl nicht damit auf? Ergötzte er sich an seinen bestürzten Blicken? Oder war er einfach nur vollkommen verrückt geworden? Er musste etwas dagegen tun.
»Was habt ihr für Probleme bei der Festung, Asél?«, fragte er.
Der Magier sah ihn verwundert mit seiner unverborgenen Gesichtshälfte an. Mit Fragen, die nichts mit seinem Leid zu tun hatten, hatte er wohl nicht gerechnet.
»Das Übliche, oh Wahnsinniger.«
Nenn mich nicht immer Wahninniger, ich hasse das.
»Festungen lassen sich nun mal nicht leicht erobern«, fuhr Asél fort. »Erschwerend kommt noch hinzu, dass eine Belagerung, wie wir sie zurzeit vollziehen, bei diesem Gegner nicht viel bringt, da ihm weder Nahrungsmittel, noch Wasser ausgehen können.« Er kicherte verhalten.
»Aber wir haben ja dich. Unsere Stadt hast du ja auch im Nu auseinander genommen.« Er warf wieder einen flehenden Blick in den Himmel. »Und hast dabei den Bewohnern unendliches Leid aufgehalst. Besonders mir, weil ich -«
»Es reicht!«
Asél sah ihm mit weit aufgerissenem Auge an. Er harrte einen kurzen Moment unschlüssig aus, dann stürzte er sich auf Sedric.
Die verfaulte Hand packte ihn wieder an der Kehle, fester als beim letzten Mal. Viel fester.
»Jetzt hör mir mal zu, Wahnsinniger«, zischte ihm Asél ins Ohr, »es mag ja vielleicht unerträglich für dich sein, meinen Erzählungen zu lauschen, aber noch unerträglicher ist es, den Drecksack, der für mein Leid verantwortlich ist, in der Nähe zu haben und ihn nicht umbringen zu dürfen.« Asél wandte sich an den Fuhrmann.
»Bleib stehen, der Kerl braucht dringend eine kleine Kostprobe meiner Schmerzen.« Er grinste irr in seine Maske hinein. »Nie mehr soll er mir so frech ins Wort fallen.«
***
Er stand nackt im Schnee, und Asél sah ihn mit versteinertem Blick an.
Sedric bereute seinen Ausrutscher auf das Bitterste. Wieso hatte er nicht einfach den Mund halten können? Im Kerker war er schon lange Zeit nicht mehr aufsässig geworden, warum musste er es ausgerechnet jetzt tun?
Weil mich der Kerl rasend macht, deswegen, antwortete er sich selbst.
»Feuer«, sagte Asél tonlos. »Es ist böse, es hinterlässt Verbrennungen, es wird dich lehren, nicht mehr frech zu werden.«
Der Magier hob die linke Hand und fixierte Sedric mit seinem verbliebenen Auge. Er murmelte eine kurze Formel. Nichts geschah.
»Was soll dieser Mist?«
»Ihr steht zu nahe am Medaillon«, bemerkte einer der Soldaten unvermittelt.
»Stimmt, das hatte ich völlig vergessen«, erwiderte Asél kopfschüttelnd und machte ein paar Schritte rückwärts.
Und dann kam das Feuer. Und der Schmerz (Lass mich sterben, bitte, ich will sterben) brachte ihn fast um den Verstand. Sedric schrie und schrie und schrie, bis ihn Dunkelheit umfing.
***
Ein kräftiger Tritt in den Magen ließ ihn aus seiner Ohnmacht erwachen.
»Beweg dich, wir sind bald da.«
Stöhnend richtete er sich auf der schwankenden Ladefläche auf. Sofort drangen die Schmerzen wieder auf ihn ein. Er musste sich übergeben.
»Willkommen in meiner Welt«, sagte Asél irgendwo über ihm. »Geteiltes Leid ist halbes Leid, hm?« Er beugte sich zu ihm hinab. »Jetzt können wir unseren Schmerz gemeinsam ins Land brüllen, und von überallher werden uns Mitleidsbekundungen erreichen.« Der Magier fing heiser zu lachen an, und die Soldaten stimmten zaghaft mit ein.
Er hatte wieder Kleider am Körper. Asél hatte anscheinend nicht gewollt, dass er nach seiner Attacke an Unterkühlung starb. Mit schmerzverzerrtem Gesicht betrachtete er seine Wunden. Seine Hände sahen relativ gut aus, wenn man über ein paar Brandblasen hinwegsah, die seine zarte weiße Haut verunzierten. Er streifte die Ärmel seines Umhangs hoch.
Oh! Sofort packte ihn wieder die Übelkeit. Er ließ das verbrannte Fleisch schnell wieder unter dem Stoff verschwinden.
»Ohne ärztliche Versorgung wirst du bald draufgehen«, sagte Asél mit gleichgültigem Tonfall. »Deshalb schlage ich vor: Kooperiere oder verrecke.«
Fliehen konnte er vergessen. Der vermaledeite Magier hatte ihn in der Hand.
***
Die Festung des Todesfürsten thronte wie ein schwarzer Klotz in der Winterlandschaft. Drumherum befanden sich die Zelte der Belagerer, Lagerfeuer brannten, Heerscharen von Bewaffneten standen untätig herum. Sedrics Wagen wurde von einer Reihe Soldaten in Empfang genommen.
Der Magier stand auf und hob grüßend die Linke.
»Kyr-ra-ney, Männer!«
»Kyr-ra-ney, Asél!«, schallte es zurück.
»Ich bringe euch Sedric den Wahnsinnigen. Möge er die Festung in Staub verwandeln.«
»Großartig, dann können wir ja bald nach Hause gehen.«
»Hoch lebe der König!«
»Hoch lebe der Grüne Magier!«
Asél drehte sich zu Sedric um, sah ihn mit unergründlichem Blick an.
»Wir müssen nur dafür sorgen, dass der Kerl auch tut, was wir von ihm verlangen.« Er machte eine befehlerische Geste. »Vom Wagen mit ihm, Schwert und Pfeil um ihn herum!«
***
Die Soldaten aus der ersten Reihe hatten ihre Schwerter auf ihn gerichtet, die aus der zweiten Reihe ihre Lanzen, und in der dritten standen Bogenschützen. Ein Kreis aus Männern und blinkenden Waffen, und er kniete in der Mitte, im Matsch.
Er sah hin zu Asél, der außerhalb des Kreises stand. Ein dünnes Blutrinnsal trat unter seiner Maske hervor. Anscheinend war sein Gesicht noch lange nicht verheilt und die Wunden platzten immer wieder neu auf. Bin ich daran schuld? Hat er sich in den letzten Stunden zu sehr aufgeregt? Wer konnte das schon sagen.
»Ihr blutet, Herr«, sagte einer der Soldaten.
Der Grüne Magier wischte sich das Blut mit einer fahrigen Handbewegung aus dem Gesicht.
»Sedric, du wirst die Festung zum Einsturz bringen. Tust du das nicht, weißt du, was dich erwartet. Und keine blöden Tricks, Wahnsinniger! Es wird Zeit. Nehmt ihm das Medaillon ab.«
Zwei Männer knieten sich neben ihn und begannen an der Kette herumzuwerken.
Doch Sedric hatte nur Augen für Asél. Er sah Blut, das immer heftiger zu fließen begann.
Und Asél erwiderte seinen Blick. Sein einziges Auge sah ihn mit lodernder Wut an, dann erstarb das Feuer. Und sein alter Feind fing zu weinen an.
Was für ein seltsamer Anblick!
Alle Soldaten wandten sich ihrem Anführer zu, selbst die, die Sedric vom Medaillon befreien sollten. Asél nahm langsam die Maske vom Kopf und betrachtete sie traumverloren. Ein Raunen ging durch die Runde. Der Grüne sah wieder zu den Männern, und Entsetzen breitete sich auf seiner Miene aus.
»Seht mich nicht an!«, schrie er mit Verzweiflung in der Stimme. Sein Aussehen war so erschreckend, dass es nicht schwer war, seiner Bitte folge zu leisten, und dennoch nahm niemand den Blick von ihm. Alle waren sie gefangen in diesem lähmenden Moment, unfähig, daraus zu entkommen. Der Magier erbleichte, wandte sich ab und presste die Hände auf das Gesicht.
»Tut, was ich euch sage! Entfesselt den Wahnsinnigen!«
Es machte leise Klick, und das Medaillon wurde von ihm genommen.
Sedric spürte endlich wieder die Macht, von der er so lange getrennt gewesen war. Er warf einen letzten Blick auf die schwarze Festung und auf Asél, der sein blutiges Gesicht in den Händen verborgen hielt.
Dann schloss er die Augen.
***
Badawumm-bumm-bumm, Badawumm …
Langsam schlug er die Lider hoch. Verschwommene Konturen manifestierten sich vor seinen Augen, wurden mit jedem Herzschlag klarer. Sie nahmen mit fließenden Bewegungen Form, Farbe und Gestalt an, als würde alles erst durch seine Gedanken zum Leben erwachen. Schließlich war es vollendet, und seine Aufregung war nicht mehr zu steigern, als er die ganze Verrücktheit erfasste.
Er befand sich jetzt in der Gestörten Welt - im wahnsinnigen Land hinter den Augen, jenem außergewöhnlichen Flecken Existenz, der seine Zuflucht seit Kindestagen war.
Vor ihm erstreckte sich der Gerade Weg, welcher sich in Schlangenlinien den Hügel hinaufwand. Links und rechts davon befanden sich mit Heulgras bewachsene Wiesen, durch die der lachende Wind fuhr. Rosafarbene Missgeburten tanzten im Takt der Musik (badawumm …) und sie waren einfach schrecklich anzusehen. Groteske Geister wanderten über einen Himmel, der sich nicht entscheiden konnte, ob er blau, schwarz, rot oder sonst etwas sein sollte, und der Mond schien hell wie die Sonne, obwohl Nacht war.
Und hoch oben auf dem Hügel, da stand er: Der Glaspalast - das Schönste und Verquerste, das diese Welt zu bieten hatte, und alle Gestörtheit gruppierte sich um ihn herum.
Sedric machte sich auf den Weg. Er war froh, dass er endlich wieder einmal Gelegenheit gekriegt hatte, die Gestörte Welt zu besuchen, aber wirklich wohl hatte er sich hier nie gefühlt. Kalte Schauer fuhren ihm den Rücken hoch, wenn er die Missgeburten nur ansah, und das andauernde Trommeln (bumm-bumm) der Wolkenveteranen ging ihm schwer auf die Nerven. Und dennoch: Es war der einzige Ort, an dem er noch nie Feindseligkeiten erfahren hatte, der einzige Ort, an dem er so etwas wie Freunde hatte.
Je näher Sedric dem Glaspalast kam, desto mehr Details offenbarten sich ihm. Das Bauwerk war so schön, dass ihm Tränen in die Augen traten. Es war sehr groß, viel größer als Bauwerke in der normalen Welt. Türme bis hoch in die Wolken, die Zinnen unerreichbar für das Auge. Die Mauern waren so dick, dass sich das Licht des Mondes darin verirrte und wunderschöne Muster in den Tiefen des Glases zeichnete. Nicht überall war es durchlässig - teilweise widerspiegelte es die Absurditäten der Gestörten Welt. Jedes Mal, wenn eine besonders groteske Monstrosität auf das Mauerwerk zuwankte, veränderte sich das Glas und warf das absonderliche Bild zurück. Es war so, als würde der Palast leben und sich mit den außergewöhnlichsten Spiegelungen seiner Umgebung schmücken.
Donner. Blitz.
Sedric zuckte zusammen.
»Oh großer Oberbefehlshaber, endlich seid Ihr zurück!«, freute sich eine euphorische Stimme hinter ihm. Sedric drehte sich um und erblickte den Hauptmann der Wolkenveteranen. Er hatte menschliche Gestalt, und es regnete und gewitterte in ihm. Sein Aussehen gemahnte entfernt an die Statue des Blitzgottes Kydon in König Cirons Thronsaal - ein seltsamer Zufall, den Sedric vor einem halben Jahr zu nutzen gewusst hatte, um ein beispielloses Gemetzel in Tyradon anzurichten.
Der Kerl scheint seine Reinkarnation ohne größeren Schaden verwunden haben …
»Was gibt es Neues vom Krieg, Hauptmann?«
»Krieg?« Der Hauptmann legte seinen Wolkenschädel schief. »Der Krieg ist schon lange vorbei, und wir gedenken nur noch in Liedern und Märschen an ihn. Das solltet Ihr eigentlich wissen. Wie gefällt Euch unsere neueste Komposition?«
»Einfach schrecklich. Ihr solltet sofort damit aufhören.«
»Vielen Dank für die ermunternden Worte«, sagte der Hauptmann und erhob sich wieder in die Lüfte, dem gestörten Himmel entgegen.
Sedric sah ihm kopfschüttelnd nach. Es war immer derselbe Marsch, seit Ewigkeiten schon, und die Kompanie würde so schnell nicht damit aufhören. Fast schon überflüssig zu erwähnen, dass es nie einen Krieg gegeben hatte.
Badawumm-bumm-bumm, und die Monstrositäten im Garten tanzten dazu, so, wie sie es schon immer gemacht hatten.
***
Endlich war er beim Palasttor angekommen. Obwohl es nicht weit bis nach oben war, kamen ihm die Aufstiege immer sehr lang vor. Manchmal traten ihm Missgeburten in den Weg, manchmal öffneten sich spontane Spiegelungen. Wolkenveteranen hatten ihn bis jetzt eher selten behelligt.
Auf den gläsernen Stufen zum Tor saß ein alter Landstreicher. Als er Sedric erblickte, weiteten sich seine Augen vor Schreck.
»Sedric! Oh nein, was mach ich denn jetzt oder später?! Soll ich mich selbst kreuzigen, Herr, oder ein Tänzchen mit den Missgeburten wagen?«
»Es würde reichen, wenn du einfach die Zeit beschleunigen würdest, Hommel. In meiner Welt werden sie sicher schon alle nervös.«
Der Alte holte ein rundes, metallenes Ding aus seiner Jackentasche. Es hatte an der Vorderseite zwei Zeiger, die im Kreis ein paar Zahlen abliefen. »Ticker« nannte er das Gerät. Wusste der Himmel, woher er den seltsamen Gegenstand hatte.
Der Landstreicher klopfte darauf, woraufhin die Zeiger rasend schnell zu rotieren begannen. Bläuliche Wellen breiteten sich von dem Ding aus. Sie erfassten Baum, Strauch, Erde, Himmel und den Glaspalast.
Kurz sah Sedric, wie sich alles beschleunigte, wie das Trommeln immer heftiger wurde und die Monstrositäten in wilder Raserei zu der erhöhten Rhythmik tanzten. Dann wurde auch er selbst erfasst. Kurz spürte er einen scharfen, unangenehmen Ruck, dann hatte er sich an die veränderte Geschwindigkeit angepasst. Er blickte auf das Gerät. Die Zeiger standen wieder still.
»Ich habe die Zeit ganz oder gar vielleicht beschleunigt, Herr. Ich hoffe, das Unwohlsein war nicht zu verdreht.«
»Gut gemacht.«
Er passierte das Tor und ließ den alten Mann hinter sich.
Die langen Gänge aus Glas wurden durch das herumirrende Licht des Mondes erhellt. Hinter dem Mauerwerk geisterten schauderhaft anzusehende Schatten herum, die immer hässlicher wurden, je länger man sie betrachtete. Das Trommeln, das draußen stets vorherrschte, war hier drinnen eine schöne Melodie. Irgendwie gelang es dem Palast, das nervende Wummern in etwas Schönes umzuwandeln, ohne den Takt zu verändern. Jetzt, wo im Gegensatz zur Außenwelt alles schneller ablief, konnte er sich Zeit lassen. Seine Schritte, zuerst noch eilig ausgeführt, verlangsamten sich zusehends.
Vor ihm befand sich die ewig verschlossene Tür - ein riesiges Ding aus dunklem Holz, mit mächtigen, metallenen Beschlägen. Sedric grinste. Sie zu passieren war kein Problem, da sie nicht den geringsten Widerstand bot. Er machte die Augen zu und ging einfach durch.
»… und auf ewig wird sie verschlossen bleiben«, wisperten Stimmen hinter ihm.
Er befand sich fast am Ziel.
Der Thronsaal war sehr groß, und aus seinen gläsernen Wänden fiel helles Mondlicht in den Raum. Abgesehen von einem riesigen Herrschersitz in der Mitte war er völlig leer. Sedric machte sich auf den Weg.
Mit jedem Schritt Richtung Thron veränderte sich die Umgebung und die Zeit zog sich in die Unendlichkeit. Er durchwanderte Wüsten, die in ihrer Leere erdrückend waren; gigantische Städte, die keinen Funken Leben beherbergten; Wälder, die nur Dunkelheit und Einsamkeit zu bieten hatten und endlose Strände an vergessenen Meeren. Verlorene Stimmen beklagten die Jahrtausende, die dabei verstrichen.
Einen Augenblick später hatte er sein Ziel erreicht. Sein Herz raste, in seinen Ohren klingelte es und er hatte Kopfschmerzen. Die ewig augenblickliche Reise setzte ihm immer sehr zu.
Hoch oben, von Kristall und Glasgebilden umgeben, da saß er. Der Herrscher über die Gestörte Welt, die personifizierte Magie, der fantasievollste Mann, den man sich vorstellen konnte.
Auf dem Thron saß Sedrics ganze Macht. Auf dem Thron saß der Wahnsinnige.
***
»Tick Tack«, sagte der Wahnsinnige. »Meine Welt läuft nicht im Einklang mit deiner. Entweder ist Hommel vollkommen verrückt geworden oder du steckst in Schwierigkeiten.« Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Herrschers aus. »Es freut mich, dich nach so langer Zeit wiederzusehen«, fügte er hinzu.
Sedric ging zu ihm hoch und umarmte ihn stürmisch. Der Wahnsinnige glich Sedric wie ein Ei dem anderen; er hatte kurze blonde Haare, die wirr in alle Richtungen standen, ein blasses Gesicht und unegale Augen: das linke grün, das rechte braun. Nur sein Umhang war nicht rot wie Sedrics, sondern blau. Missbilligend warf der Wahnsinnige einen Blick darauf.
»Ist nicht meine Lieblingsfarbe, aber ich werde mich wohl fügen müssen.« Seufzend rollte er mit den Augen. »Maler-Maden, kommt herbei, gleicht mich an.«
Tausende Maden seilten sich mit Silberfäden von der Decke herab. Sie ließen sich auf dem Umhang nieder, färbten ihn rot und verschwanden wieder so schnell, wie sie gekommen waren.
»Nachdem wir das erledigt hätten«, sagte der Herrscher mit zufriedenen Blick, »kommen wir zu ernsteren Angelegenheiten. Was ist los, Sedric? Du siehst schlimm aus.«
Sedric hatte seine Brandwunden schon fast vergessen, weil er in der Gestörten Welt keinen Schmerz verspürte, den er in der Außenwelt erlitten hatte. Aber wenn er nur daran dachte, wieder in seine Gefilde und damit zum Schmerz zurückzukehren, wurde ihm ganz anders.
»Ich stecke in einer üblen Klemme, oh Wahnsinniger. Sie haben mich aus dem Kerker rausgeholt und zwingen mich nun, die Festung des Todesfürsten zu zerstören.«
Der Wahnsinnige legte seinen Kopf schief und sah ihn mit zugekniffenen Augen an. »Und fliehen kannst du nicht?«
»Völlig ausgeschlossen. Sie haben mich umstellt, haben ihre Schwerter, Lanzen und Pfeile auf mich gerichtet. Und selbst wenn mir eine Flucht gelänge, würde ich wohl innerhalb von Stunden an meinen Verletzungen sterben.«
»Kompliziert, wirklich kompliziert.« Der Herrscher griff sich an die Schläfen. »Diener! Bringt mir den Außenweltspiegel!«, rief er befehlend gegen die Wand. Kurz darauf tauchten zwei Gestalten aus dem massiven Glas auf. Sie durchwanderten endlose Wälder, Strände, Wüsten - und das mit rasender Geschwindigkeit, obwohl die Strecke kurz war. Beim Zusehen wurde ihm ganz schwindlig - die ewig augenblickliche Reise war selbst von hier aus betrachtet noch verwirrend.
Grunzend, immer schön den Spiegel mitschleppend, eilten die Diener auf den Herrscher und sein Ebenbild zu. Ihre Missbildungen waren so entsetzlich, dass Sedric den Anblick kaum ertragen konnte. Sie stellten ihn vor dem Thron ab, murmelten etwas und verschwanden wieder in der Wand.
Sie gingen zum Spiegel, der friedlich im Sand auf sie wartete. Er hatte einen hölzernen Rahmen, der voll mit Schnitzereien von missgebildeten Menschen war. Bemitleidenswerte Gestalten mit verkrüppelten Gliedmaßen, deformierten Köpfen und schwärenden Eingeweiden, die aus offenen Bäuchen quollen.
»Bitte töte uns, Sedric«, flüsterten sie ihm zu.
»Zeigt mir lieber die Außenwelt, ihr Jammerlappen.«
Ein kollektives Stöhnen war die Antwort. Dann veränderte sich die Oberfläche des Spiegels und offenbarte den beiden das Dilemma, in dem Sedric steckte.
Noch immer standen die Soldaten mit erhoben Waffen um ihn herum, noch immer kniete er im Matsch. Im Hintergrund war Asél zu sehen, der gerade von einem Heiler verarztet wurde. Das ganze Bild stand still, niemand bewegte sich auch nur ein Stückchen.
»Kyr-ra-ney, Asél!«, rief der Wahnsinnige, als sein Blick auf den Magier fiel. »Einfach nicht totzukriegen, der Bastard. Irgendwie mag ich ihn.«
Sedric strafte ihn mit einem vernichtenden Blick, woraufhin sich sein fantasievolles Ich betreten in die Unterlippe biss.
»Wahrlich eine vertrackte Situation«, sagte der Wahnsinnige schon etwas weniger begeistert. »Ich weiß nicht, ob ich dir da helfen kann.«
»Ich werde wohl die Festung wohl zum Einsturz bringen müssen, ob ich es will oder nicht.«
»Was willst du, Sedric?«
»Frei sein, nicht mehr leiden müssen.«
Der Herrscher legte die Stirn in Falten und fixierte das Bild wie ein Besessener.
»Wenn ich getan habe, was Asél mir befohlen hat, werden sie mich trotzdem hinrichten«, jammerte Sedric. »Und es ist nicht mal sicher, ob es uns gelingen wird, die Festung zu schleifen.« Dass er geschworen hatte, lieber zu sterben, als seinem Feind zu dienen, wollte er sich jetzt nicht mehr eingestehen. Wirklich ernst hatte er es sowieso nicht gemeint.
»Das ist es!« Ein triumphierendes Lächeln schlich auf das Gesicht des Wahnsinnigen. Mit leuchtenden Augen sah er Sedric an. »Vergiss diese Drecksäcke und ihren Krieg. Vergiss diesen Hurensohn von Magier. Ich weiß, wie du da rauskommst!«
***
Er schlug die Lider hoch und stöhnte gequält auf. Der Schmerz war in seiner Abwesenheit noch größer geworden. Weiße Punkte tanzten vor seinen Augen, als er sich aufrichtete.
»He, knie dich wieder hin, Gefangener!«, befahl ein Soldat nervös.
»Asél, ich bin bereit!«, rief Sedric mit zitternder Stimme. Der Fluchtplan des Wahnsinnigen war völlig irrsinnig, und er fürchtete sich entsetzlich.
Asél ließ den Heiler stehen und kam auf ihn zu.
»Bereit?«, fragte er. »Bereit für was, oh Wahnsinniger?«
(Du wirst viel auf dich nehmen müssen, aber du wirst frei sein, Sedric.)
»Bereit zur Flucht, du Narr.«
Aséls Auge blitzte vor Wut und Überraschung auf. Der Verband, den er in Sedrics Abwesenheit erhalten hatte, war bereits blutgetränkt und verlieh ihm ein wahrhaft dämonisches Aussehen.
»Passt auf!«, schrie der Magier mit schriller Stimme, »der Dreckskerl will abhauen! Das Medaillon, schnell!«
Doch sie waren alle zu langsam. Bevor der Gegenstand auch nur in seine Nähe kommen konnte, hatte er den Zauberspruch schon ausgesprochen.
»Unter euch befindet sich ein Mann, dessen Kinder ich beim Angriff der Stadt umgebracht habe. Jetzt rächt er sich an mir.«
Sedric hielt vor Angst den Atem an. Ein paar Herzschläge lang herrschte trügerische Stille - dann brach die Hölle los.
Einer der Soldaten stürzte sich mit hassverzerrtem Gesicht und erhobenen Schwert auf ihn. Die Männer im Rund fingen zu brüllen an, als er wie ein Besessener auf den Gefangenen eindrosch, doch keiner schritt ein. Sedrics Schmerzensschreie gingen in dem Tumult völlig unter. Ein Streich gegen die Schulter, ein Stich in den Bauch. Der Hieb gegen den Hals gab ihm schließlich den Rest. Er tauchte ein in ein Meer aus wirren Sinneseindrücken, während das unausweichliche Ende immer näher kam.
Aséls Flammen waren schlimmer …
Das Gebrüll der Männer verstummte, und um ihn wurde alles schwarz.
***
Graue Schatten und kaltes Licht, das mit ihnen spielte …
Und er stand direkt vor ihm.
»Du bist tot, Sedric«, sagte der Wahnsinnige mit irrem Grinsen im Gesicht. Im öden Grau wirkte er wie ein Farbklecks. »Und als du vom Leben Abschied genommen hast, ist die Gestörte Welt in sich zusammengebrochen. Nur ich bin übrig geblieben.« Er warf einen nachdenklichen Blick ins Trostlose. »Wirklich traurig.«
Sedric sah sich unsicher um. »Ist dies das Jenseits?«
Sein fantasiereiches Ich schüttelte den Kopf. »Wir befinden uns noch immer in deiner Welt. Es sieht nur alles anders aus, weil du keine richtigen Augen mehr besitzt.«
Er hatte Recht - wenn man genau hinsah, offenbarten sich viele Schatten als menschliche Abbilder.
»Der erste Teil deiner Flucht war erfolgreich, jetzt widmen wir uns dem zweiten.«
»Wir besorgen uns wieder einen Körper.«
»Exakt. Natürlich würde es irgendeine sterbliche Hülle auch tun, aber du willst sicher deinen alten Körper zurück. Stimmt doch?«
Er nickte. »Aber wie? Es ist völlig unmöglich, einen unversehrten Körper meines Aussehens zu bekommen.« Er hatte dem Herrscher blind vertraut, wie immer. Wenn er jetzt genauer darüber nachdachte, erkannte er erst, wie hirnrissig das gewesen war.
»Zweifel nicht an meiner Fantasie, Sedric. Auch aus dieser Situation gibt es einen Ausweg, man muss ihn nur er-finden.«
»Aber mein Körper wurde verbrannt und zerhackt, niemals wieder kann ich in ihn zurückkehren.«
»Tick Tack«, sagte der Wahnsinnige. »Es gibt dich immer noch unversehrt, aber nicht in dieser Zeit.«
Sedric sah ihn verständnislos an.
»Frühling, Sommer, Herbst und Winter; die Tage, Monate und Jahre ziehen vorbei, und wir sind stets gefangen im Fluss der Zeit, unfähig, daraus zu entkommen«, erklärte der Wahnsinnige.
Sedric nickte.
»Doch wir vergessen dabei, dass die Stunden weiterleben, nachdem wir sie passiert haben. Die Vergangenheit existiert noch immer - selbst in diesem Augenblick. Doch leider können wir uns als Menschen nur Kraft der Erinnerung in vergangene Szenarien zurückversetzen. - Erinnerst du dich noch an den Sommer, Sedric?«
»Damals hat alles angefangen«, erwiderte er seufzend.
»Ja, du hast den Todesfürsten in seiner Festung besucht. Und die Nacht davor hast du auf einer Lichtung im Wald verbracht. Also irgendwo hier in der Nähe.«
»Ich weiß nicht, wie uns das jetzt weiterhelfen sollte.«
Die Augen des Wahnsinnigen leuchteten auf.
»Ganz einfach, wir kehren dorthin zurück, nehmen uns deinen unversehrten Körper und verzichten auf einen Besuch beim dunklen Fürsten.«
»Du hast doch gesagt, dass wir gefangen sind und …«
»Nur materielle Dinge sind fest verankert. Geister können durch die Zeit reisen, weil sie nicht viel mehr als Erinnerungen sind.«
Freude kam auf. »Also können wir wirklich … Aber das … das wäre ja fantastisch!« Doch leise Zweifel mischten sich unter seine Begeisterung.
»Woher weißt du das eigentlich alles?«
»Ich weiß gar nichts, Sedric. Ich stelle einfach Behauptungen auf, die sich immer als richtig erweisen.«
»Das ist völlig irrsinnig, oh Wahnsinniger.«
»Ich weiß«, antwortete dieser mit selbstgefälligem Grinsen.
Der Herrscher reichte ihm seine Hand.
»Komm, Sedric, holen wir uns deinen Körper und gehen in ein neues Leben, ohne Krieg und ohne Schmerz.«
Und dieser Aufforderung kam er nur zu gerne nach.
Der Wahnsinnige ging voran, und er folgte ihm, durch das Grau der Welt, durch die Wirbel der Zeit.
***
Es war das größte Fest, das jemals in der Gestörten Welt gefeiert worden war. Im Thronsaal des Glaspalastes befand sich eine beinahe endlose Festtafel, die sich durch Wüsten, Wälder und Städte schlängelte.
Die Wolkenveteranen hatten ihr Orchester ins Innere des Palastes verlagert, und sie spielten ihren eintönigen, stampfenden Marsch, der durch den Palast in etwas Schönes verwandelt wurde. Die sich überlagernden Töne, die einen zauberhaft, die anderen dumpf wummernd, zeichneten ein überaus bizarres Klangbild. Groteske Geister schwebten durch den Saal und färbten die Luft nach eigenem Gutdünken; so, wie sie es draußen immer mit dem Himmel zu tun pflegten. Überall im Saal befanden sich Missgeburten, und sie tanzten ihren eigenartigen, ekstatischen Tanz mit zitternden, ruckartigen Bewegungen. Die vielen Gäste störten sich nicht daran.
Ja, die Gäste. Er mussten tausende sein, und sie waren in Aussehen und Erscheinung fast außergewöhnlicher als die Gestörte Welt: Ein brennender Dämon im Frack, der freundlich seinen Zylinder zog, eine schöne Frau, die beinahe nackt war und ihre Blöße nur durch ein seltsames zweigeteiltes Kleidungsstück bedeckte, ein alter Kerl mit weißem Rauschebart, der sich für den Schöpfer der Welt hielt …
Sedric saß am Ende der Tafel und blickte in Richtung der ewig verschlossen Tür. Es war schon seltsam: Wenn er seinen Kopf senkte, sah er endlose Weiten und die Festtafel, die sich in ihnen verlor. Wenn er ihn hob, sprang ihm die Tür ins Blickfeld, und alles kam ihm vergleichsweise nahe vor. Kopfschmerzen machten sich bei dem Anblick breit. Er rieb sich die Augen und widmete sich seinen Tischnachbarn.
Linkerhand saß ein Mann mit kurzem schwarzem Bart und weißer Wüstenkleidung. Am irren Flackern seiner Augen war deutlich zu erkennen, dass er nicht ganz dicht war. Sedric sprach ihn an - er mochte solche Leute.
»Na, was hat Euch denn hierher verschlagen?«
»Der Tod - oder Schlimmeres«, antwortete der Fremde. »Ich wurde von einem bösen Engel ausgelöscht, und ziehe jetzt mit den glorreichen Alten - gepriesen seien Sie! - herum.« Er wies auf ein paar seltsam gekleidete Männer, die gleichfalls am Tisch saßen.
Sedric nickte verständnisvoll. Der Wahnsinnige lud gerne Seelen in seine Welt ein, die ansonsten ziellos herumirrten. Und manchmal brachten sie ihre vorangegangenen Leben gleich mit.
»Er stand auf einmal hinter mir, als ich gerade durch die Wüste wanderte«, fuhr der Mann fort. »Ein Hurensohn von schrecklicher Schönheit, dessen abscheuliches Alter immer wieder durch sein Trugbild durchschimmerte.« Der Wüstenmann bekam wässrige Augen. »Und dann …«
»Lassen wir die Vergangenheit ruhen«, sagte Sedric, dem das Gespräch nicht gerade zusagte. Jammernde Geister waren das Letzte.
»Kommt, langt zu! Das Essen ist nicht vergiftet, auch wenn es so aussieht.«
Die Tafel war zwar reichlich gedeckt, aber nur das Wenigste schien genießbar zu sein. Große, grellbunte Fleischberge türmten sich zwischen seltsamen Obst- und Gemüsestauden. Das ganze Zeug war Bestandteil der Tafel - das Holz des Tisches wölbte sich an gewissen Stellen und ging fließend in Braten, Gepökeltes und Grünzeug über. Dazwischen krabbelten große Käfer, die für Getränke zuständig waren. Bierkrüge lasteten auf ihren Rücken.
Das Trommeln der Veteranen näherte sich dem Höhepunkt, die endlosen Weiten waren kunstvoll eingefärbt, die Gäste unterhielten sich prächtig. Das Fest befand sich auf seinem Höhepunkt.
Ein ohrenbetäubender Knall erschütterte die Harmonie auf das Gröbste. Er donnerte durch die Ewigkeit, drang bis in den letzten Winkel des Saales vor. Die Gäste verstummten, die Missgeburten hörten zu tanzen auf. Das Wolkenveteranen-Orchester spielte unbeeindruckt weiter.
Sedric stand auf und drehte sich um. Hinter ihm befand sich der Thron, und dort waren zwei Gestalten aufgetaucht. Sie waren in rote Umhänge gewandet, Rauch umhüllte sie.
Neben ihm tauchte der Wahnsinnige wie ein Phönix aus dem Wüstenboden auf. Stumm sahen sie sich an; beunruhigenderweise konnte Sedric so etwas wie Angst in seinen Augen ausmachen. Langsam gingen sie auf die Gestalten zu.
Der Rauch lichtete sich und offenbarte den beiden die ganze Verrücktheit dieses Moments. So unglaublich es auch klang: Sie standen ihren Ebenbildern gegenüber.
Der eine Eindringling sah ziemlich mitgenommen aus: Er war dreckig, hatte Verbrennungen im Gesicht und klaffende Wunden am ganzen Körper. Der andere unterschied sich nur durch die Farbe seines Umhangs von den Hausherren, die blau gekleidet waren.
»Bei allen gestörten Göttern, was machen die denn hier?!«, rief der Verwundete.
»Das würde ich auch gerne wissen«, sagte der Wahnsinnige. »Raus hier!«
Die zwei Eindringlinge machten keinerlei Anstalten, zu gehen. »Wo befindet sich Hommel?«, fragte Sedric. Langsam bekam er es mit der Angst zu tun.
»Zweitausend Jahre hinter uns, er kann uns nicht helfen.«
Der unversehrte Eindringling machte eine zackige Geste mit dem Arm und fluchte etwas mit schriller Stimme. Nichts geschah.
»Die Welt, sie gehorcht mir nicht!«, schrie er verzweifelt.
»Weil ich hier der Herrscher bin, deswegen«, sagte der Wahnsinnige. Die Angst verschwand aus seinen Augen, und ein teuflisches Grinsen schlich sich in sein Gesicht.
»Verschwinden wir«, sagte der Unversehrte zu dem übel Zugerichteten. Doch es war zu spät. Auf einen Wink des Wahnsinnigen schossen geschmolzene Fontänen an ihren Beinen hoch, umflossen sie und erstarrten wieder zu kaltem Glas. Die Eindringlinge waren gefangen.
Bedrohlich näherte sich der Herrscher den beiden, ein irrer Mann, der schreckliche Fantasien sein Eigen nannte und keinerlei Skrupel hatte, sie einzusetzen.
»Du siehst aus wie einer, der furchtbare Qualen durchgestanden hat«, sagte der Wahnsinnige zu dem Verwundeten, der vor Angst ganz weiß geworden war. »Mach dich auf etwas gefasst, es wird noch viel schlimmer kommen.«
Der Herrscher machte eine weit ausholende Geste, Sterne flogen von seiner Hand, die Luft knisterte. »Gebt mir eure Augen. Los!«
»Nein, nicht!«, schrien sie verzweifelt, doch ihre Hände wanderten brav dorthin, wohin sie der Wahnsinnige gewünscht hatte. Zwanzig Finger bohrten sich gleichzeitig in die Höhlen und rissen langsam die Augäpfel heraus. Und dabei schrien die Eindringlinge abgehackt und schrill. Sedric hatte noch nie jemanden so schreien hören.
Sehnen und kleine rote Muskeln zerrten verzweifelt an den Augen, wollten sie zurück an ihren Platz holen, doch die Finger waren stärker. Nach und nach rissen die Verbindungen zum Kopf. Zuerst beim Unversehrten, dann beim Verwundeten.
Zum Schluss boten sie die zerquetschten Sehorgane auf ihren offenen Handflächen dar. Der Wahnsinnige nahm sie an sich und betrachte sie.
»Geisteraugen, wirklich schön - weißt du, Sedric, gleich wie richtige Augen, jedoch nur aus Gedanken und Erinnerungen bestehend … Eure Zungen würden mich auch interessieren.«
»Neiiii …!«
»Ich glaube, es reicht!«, sagte Sedric mit scharfem Tonfall. Lange konnte er dieses Schauspiel nicht mehr ertragen, soviel stand fest.
Der Wahnsinnige drehte sich um, und kurz konnte er so etwas wie Zorn in seinem Blick aufblitzen sehen.
»Wenn du es wünscht, Sedric«, sagte er, »werde ich mich wohl fügen müssen.«
»Bring sie schnell um.«
Der Herrscher lächelte und breitete die Arme aus. Eine leuchtende Aura legte sich um ihn, kleine Blitze zuckten aus seinen Fingerspitzen.
»Kommt herbei, Vögel, Maden, Missgeburten, labt euch an ihnen, fresst sie mit Haut und Haaren, bis nichts mehr übrig ist!«
Der Wahnsinnige hatte gerufen, die Kreaturen folgten. Eine schreiende Wolke wütenden Getiers stürzte sich auf die Eindringlinge und setzte den beiden unter Höllenqualen ein Ende.
***
Sonnenstrahlen auf der Haut, Vogelgezwitscher in der Luft.
Sedric schlug die Augen auf. Vor ihm lag die kleine Waldlichtung, auf der er sich gestern schlafen gelegt hatte. Sein Kopf brummte und ihm war schlecht. Auf dem Fest hatte er weit über den Durst getrunken - nach dem eigenartigen Zwischenfall hatte er ein Bier nach dem anderen hinuntergestürzt.
Schwankend stand er auf. Wenn er rechtzeitig bei der Festung des Todesfürsten ankommen wollte, musste er sich beeilen. Er nahm sein Bündel und ging zum Pferd.
***
Die frische Morgenluft wehte ihm ins Gesicht, als er auf die schwarze Burg zugaloppierte. Mit einem Anflug von Abscheu betrachtete er das Bauwerk. Wenn ihm der Todesfürst nicht einen äußerst beunruhigenden Brief geschrieben hätte, wäre er nie auf den Gedanken gekommen, ihn zu besuchen. In diesem Schreiben hatte er über eine große Bedrohung gesprochen, die sie beide vernichten könne, wenn sie nicht bald etwas unternähmen. Mehr Details hatte er ihm vorenthalten, vermutlich aus Angst, dass der Brief in falsche Hände geraten könnte.
Seine Spannung auf die Enthüllung dieses Geheimnisses stieg, je näher er der Festung kam. Und seine Abneigung ebenfalls. Bereits im weiten Umkreis des Bauwerkes waren nur noch nackte Baumgerippe und tote Wiesen auszumachen, obwohl die Natur sonst überall am Blühen und Gedeihen war.
(Geht es dir schon besser?), fragte ihn der Wahnsinnige.
Er zuckte kaum merklich zusammen. Obwohl der Herrscher mit ihm schon seit Jahren auf diese Weise kommunizierte, hatte er sich nie wirklich dran gewöhnen können. Diese schrille, sich überschlagende Stimme, die immer so völlig überraschend in seinen Gedanken auftauchte … kalte Schauer fuhren ihm den Rücken hoch. Abgesehen davon war die Stimme seltsam indirekt; wie eine unangenehme Erinnerung, die nach langer Zeit wieder ans Tageslicht getreten war.
Nein, mir ist noch immer schlecht. Hast du schon herausfinden können, was es mit den Eindringlingen auf sich hatte?
(Das war schon seltsam, nicht wahr? Zuerst dachte ich, dass sich böse Geister unerlaubt unserer Gestalt bemächtigt hätten, doch dann …) Sein fantasievolles Ich legte eine spannungsgeladene Pause ein.
Was dann?, fragte er leicht gereizt.
(Nun ja, durch Logik war diesem seltsamen Phänomen nicht beizukommen, also habe ich einfach meinen Einfallsreichtum spielen lassen und die Lösung des Rätsels kam mir sogleich zugeflogen), sagte der Herrscher wissend. (Die zwei roten Eindringlinge waren wir selbst.)
Was?!
(Eine sehr seltsame Vorstellung, ich weiß, aber die meine Fantasie schließt so etwas nicht aus, also ist es auch deiner Magie nicht unmöglich. Die zwei kamen aus ferner Zukunft, wo es ihnen nicht gerade rosig ging, wie du vielleicht gesehen hast. Vielleicht musste der andere Sedric seine sterbliche Hülle aufgeben. Und deshalb sind sie durch die Zeit zu uns gereist und wollten deinen Körper übernehmen.)
Wie kommst du nur auf so etwas Abstruses?
(Weil ich so ein Szenario immer im Hinterkopf hatte, um dir in ausweglosen Situationen helfen zu können. Gut zu wissen, dass es nicht funktioniert.)
Sedric schwirrte der Kopf. Der Wahnsinnige hatte diese Nacht sie selbst umgebracht. Aber wie war das nur möglich, wenn er doch noch nie in eine Situation geraten war, die eine Aufgabe seines Körpers rechtfertigte? Und wieso existierten Versionen von ihm und dem Wahnsinnigen zeitlich vor ihnen? Er beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken.
Versprich mir, dass du mich nie zu so etwas verleiten wirst, bat er abschließend.
(Auf keinen Fall, bist du verrückt? Hast du schon vergessen, was ich mit uns angestellt habe?)
Natürlich nicht. Wie hätte er so etwas je vergessen können?
***
Die Zugbrücke senkte sich langsam gen Boden und gewährte ihm Zugang zur Festung. Vor ihm lag gähnende Finsternis, die gelegentlich durch geisterhaftes Aufflackern erhellt wurde.
Was war das? Monsteraugen? Totenlichter? Sedric fröstelte.
Er betrat die Brücke, ging zögernd Richtung Dunkelheit und ließ den Sommer hinter sich.
Kaum hatte er einen Fuß in die Schwärze der Burg gesetzt, flammten die Lichter auf. Dutzende Lüster in der ganzen Eingangshalle erstrahlten in einem kalten, flackernden Licht.
Sie hatten ihm zu Ehren Aufstellung bezogen. Er stand auf einem langen schwarzen Läufer, und links und rechts davon befanden sich die Kreaturen des Todesfürsten: glühende Skelette, an denen Fleischfetzen hingen; halb verfaulte Zombies, die sich kaum auf den Beinen halten konnten und leise vor sich hinstöhnten; bloße Schatten mit alptraumhaften Umrissen, die irgendwie ihre Umgebung zu krümmen schienen …
Er begann die Gasse des Grauens zu durchschreiten. Die Kreaturen des Grabes senkten ergeben ihre Häupter, als er an ihnen vorbeimarschierte. Knochen knackten, Sehnen sangen, und es wurde mit jedem Schritt kälter. Leichengeruch lag in der Luft.
Der Todesfürst erwartete ihn am Ende des Läufers. Sein Anblick erstaunte ihn immer wieder aufs Neue.
»Willkommen in meinen Hallen, Sedric.« Eine Stimme so warm und freundlich, wie er es in dieser Umgebung nie für möglich gehalten hätte. Und der Mann, zu dem sie gehörte, sah alles andere als tot und vermodert aus. Er war groß, hatte lange schwarze Haare und ein leicht gerötetes Gesicht. Lachfältchen an den Augen verliehen seinem Antlitz etwas Sympathisches. Der weiße Umhang und die Feder auf seinem Hut gaben ihm das Aussehen eines adeligen Schürzenjägers.
Ja, der Vergleich passt, lächelte Sedric in sich hinein.
»Schön, Euch wiederzusehen, Kevano.« Sie schüttelten einander die Hände. Der Todesfürst drückte so fest zu, dass Sedric Tränen in die Augen traten.
»Wir haben viel zu bereden, aber das machen wir nicht hier. Kommt, folgt mir.«
***
Als sie die Kammer betraten, flammten kalte Lichter auf. Es war noch frostiger als in der Empfangshalle, und mittlerweile fror er erbärmlich. Drei Seiten des Raumes waren gesäumt von Gitterstäben. Und hinter diesen standen halb verhungerte …
Frauen, Männer, Kinder. Die armen Menschen … Mitleid machte sich breit.
»Setzen wir uns, Sedric.«
Erst jetzt bemerkte er, dass mitten im Raum Stühle herumstanden.
»Ich hoffe, der Grund für meine lange Reise war gerechtfertigt, Kevano«, sagte er, als sie Platz genommen hatten. Die Gefangenen hinter Kevanos Rücken irritierten ihn etwas.
»Natürlich. Grundlos würde ich Euch doch nicht zu mir einladen.« Der Todesfürst sah ihn mit ernster Miene an. Dann entgleisten seine Züge völlig; die Mundwinkel schossen nach oben und er zeigte strahlend seine Zähne. Ein Lächeln inmitten all der Dunkelheit … sicher ein Anblick, den man hier nur selten zu sehen bekam.
»Verdammter Mist.« Kevano wandte sich ab, schlug die Hände vors Gesicht und murmelte etwas. Als er sich wieder zu Sedric drehte, hatte sich seine Mimik normalisiert.
»Entschuldigt bitte die Entgleisung, ich bin heute etwas unkonzentriert.«
Sedric nickte gnädig. »Was beschäftigt Euch denn so, Kevano?«
»Tyradon«, sagte der Todesfürst düster. »Diese verfluchte Stadt mit diesem Narren von König. Deswegen habe ich Euch ja eingeladen.«
Er beugte sich vor, und Sedric konnte förmlich die Kälte spüren, die von ihm ausging, obwohl seine Stimme nichts von ihrer Wärme eingebüßt hatte.
»König Cirons Alchimisten haben eine neue Waffe gegen Magier entwickelt. Keiner von uns wird sich ihrer Macht entziehen können.«
Das war also die Bedrohung, die er in seinem Schreiben nicht näher hatte erwähnen wollen!
»Was? Unmöglich, gegen meine Form der Magie gibt es keine Mittel!«, antwortete Sedric.
»Das stimmt nicht«, hielt Kevano dagegen. »Ihr wart nur immer viel zu edel, um Euch gewöhnlicher Magie zu bedienen, aber die Quelle der Macht ist bei jedem Zauberer gleich. Deswegen wirkt die Waffe auch gegen diese … außergewöhnliche Form der Zauberei, die Ihr einsetzt.«
»Was ist das genau? Was können wir erwarten?«
»Ihr werdet es gleich erfahren, ein wenig Geduld noch. Jedenfalls ist das, was ich gehört habe, äußerst beunruhigend. Ich glaube, dass es bald vorbei sein wird mit unserer Ruhe. Männer des Ungläubigen Königs werden vorbeikommen, um uns Treueschwüre und Schlimmeres abzuringen. Und wir werden uns ihnen nicht widersetzen können.«
Verdammter Mist, sag mir, dass das nicht wahr ist …
(Und du glaubst diesem Kerl einfach?), fragte ihn der Wahnsinnige.
Natürlich. Was würde es bringen, wenn er mir Lügen erzählen würde?
Kevano musterte ihn mit misstrauischem Blick. Erkannte er womöglich, was in ihm vorging?
(Fragen kannst du ja trotzdem, oder?), hakte der Wahnsinnige nach.
Selbstverständlich, wenn es dich zufrieden stellt …
»Woher habt Ihr diese Information, Kevano?«
»Von den Erbauern der Waffe.« Der Todesfürst drehte sich zu den Gefangenen um. »Ihr könnt sie selbst fragen, Sedric. Einen Teil der Alchimisten konnte ich mir nämlich schnappen. Inklusive ihrer Familien.«
Er stand auf und ging zu den Gittern. »Gemeinsam leidet es sich doch viel besser, nicht wahr?«
Die Menschen wichen zurück, drängelten sich im Hintergrund zusammen.
»Na los, erzählt dem edlen Herrn was von der Waffe.«
Schweigen. Irgendwo in der Dunkelheit weinte ein Kind.
»Na gut, wenn das so ist …«
Kevano wies auf ein paar Knochen in der Ecke der Zelle. Langsam, ruckelnd kam Leben in diese; sie erhoben sich, flogen wirr durch die Luft und setzten sich heulend zu einem Skelett zusammen. Abschließend beschwor der Todesfürst noch einen blauen Schimmer um den Knochenmann, welcher Beweglichkeit, Kraft und Grausamkeit verlieh. Glühend vor Hass setzte sich der Alptraum in Bewegung.
Und stürzte sich auf ein Kind. Seine angespitzten Knochenfinger gruben sich tief in den Hals. Die Schreie des Mädchens waren fast so schlimm wie die Todesschreie der Eindringlinge aus der Zukunft, die der Wahnsinnige heute Nacht umgebracht hatte. Sedric konnte nur voller Entsetzen zusehen.
Ein ausgemergelter Gefangener ging nach vorne. »Lasst sie in Ruhe, ich rede ja schon«, sagte er mit ruhigem, fast schon arrogantem Tonfall.
Augenblicklich ließ das Skelett von seinem Opfer ab, und das Mädchen lief weinend in die Dunkelheit, fernab all der bösen Blicke.
Sedric stand auf und ging zu ihm. »Dann erzähl mal, Gefangener.«
»Natürlich, oh Wahnsinniger«, sagte der Mann mit dünnem Lächeln.
Bei der Erwähnung des Wortes explodierte etwas in Sedric, das Blut schoss ihm ins Gesicht, all sein Mitleid löste sich in Rauch auf.
(Niemand darf dich ungestraft so nennen!), kreischte der Herrscher in seinem Kopf. Dunkle Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit stiegen in ihm auf, eine Zeit voller Leid und Demütigungen …
»Bist du blöde? Wenn Meister Beyon das sieht, kriegen wir mächtig Ärger!«
»Ach, ich denke nicht, dass das passieren wird …«
Kevano rettete ihn schließlich der misslichen Lage. Sein Skelett richtete den glühenden Blick auf den frechen Gefangenen und stürzte sich auf ihn.
»Niemand beleidigt meine Gäste, merk dir das«, sagte der Todesfürst. Erst jetzt war die Wärme aus seiner Stimme verschwunden. Das Skelett ließ von ihm ab, und der Gefangene sackte zusammen. Er fluchte lautstark, dann sah er wieder zu Sedric auf. In seinem Blick war nichts als Hass zu erkennen.
»Ihr müsst ihm verzeihen, Sedric. Arik ist ein edler Mann, der sich mit seiner Lage noch immer nicht abgefunden hat - gelegentlich rebelliert er noch. Na los, erzähl was von der Waffe!«
»Wir erschufen ein Medaillon, welches einem Zauberer alle Kräfte raubt, solange er es trägt«, sagte der Gefangene.
»Das klingt aber nicht sonderlich gefährlich«, erwiderte Sedric und dachte genau das Gegenteil.
»Das Medaillon ist nur Grundlage für weitaus effektivere Waffen, die noch in der Entwicklung stehen«, behauptete der Todesfürst. »Am Ende werden sie in der Lage sein, unsere Kräfte für immer zu rauben. Nicht wahr, Arik?«
Der Gefangene nickte widerwillig.
Kevano sah Sedric eindringlich an. »Sollen wir diese Bedrohung einfach so hinnehmen? Sollen wir die Hände in den Schoß legen und warten, bis dieser größenwahnsinnige König alle Macht an sich gerissen hat?«
Sedric schüttelte den Kopf.
»Dann helft mir, dieses Problem aus der Welt zu schaffen. Zerstören wir die Waffe. Töten wir die Alchimisten. Bringen wir den König um. Und machen wir Tyradon dem Erdboden gleich.«
***
Schwungvoll breitete Kevano die Karte der Stadt aus. Sie war sehr detailliert gezeichnet - in den Straßen waren sogar Menschen abgebildet. Fasziniert betrachtete Sedric die liebevoll gezeichneten Figuren.
»Schön, nicht? Die haben meine Spione aus den königlichen Archiven entwendet.«
So weit reichte sein Einfluss also schon! Aber eigentlich war das nicht weiter verwunderlich. Wenn es den Schergen des Todesfürsten gelungen war, hochrangige Alchimisten zu entführen, musste für sie die Entwendung der Karte ein Kinderspiel gewesen sein.
Neid machte sich in ihm breit. So großartige Untergebene konnte er nicht vorweisen.
Der Todesfürst deutete auf ein großes Gebäude im Süden der Stadt.
»Das Medaillon wird in der Goldenen Zitadelle aufbewahrt. Wochenlang haben meine Männer versucht, sich Eintritt zu verschaffen, aber leider waren ihre Mühen vergebens.«
»Ja, ich weiß, sie ist stark gesichert: Dicke Mauern, Wachen überall …«
»Für Euch doch kein Problem, oder?«
Schwang da eine gewisse Geringschätzigkeit in seiner Stimme mit?
»Nein, damit werde ich schon fertig«, erwiderte Sedric hastig, als hätte er Angst, dass jedes Zögern sein Ansehen senken würde.
»Habe auch nichts anderes erwartet.«
»Was ist mit den Truppen der Stadt?«
»Nun ja, das Übliche eben. Hunderte schlecht ausgerüstete und ausgebildete Soldaten. Die dürften uns keine Probleme bereiten. Sorgen machen mir nur die Kyr-ra-ney.«
»Kyr-ra-ney? Um was handelt es sich dabei?«
»Um eine neu gegründete Kampftruppe von Elite-Elementarmagiern. Es wäre töricht, sie zu unterschätzen. Glaubt man den Gerüchten, die sich um die Truppe ranken, verfügen sie über erstaunliche Kräfte.«
»Und dennoch sind es Elementarmagier«, sagte Sedric, und ein Gefühl der Überlegenheit kam in ihm auf. »Gegen Einfallsreichtum haben sie keine Chance.«
»Asél der Grüne führt die Truppe an.«
Ein Faustschlag mitten ins Gesicht. Ausgerechnet dieser Dreckskerl! Wenn er nur an den arroganten Bastard dachte, der ihm in der Vergangenheit so viele Probleme bereitet hatte …
(Das war früher, Sedric. Heute bist du ihm weit überlegen, es besteht kein Grund mehr zur Furcht), ermutigte ihn der Wahnsinnige. Und er hatte Recht. Ein grimmiges Lächeln schlich sich auf Sedrics Gesicht.
In Tyradon würde er also nicht nur die Waffe und ihre Erschaffer beseitigen. Wenn es die gestörten Götter so wollten, würde er auch endlich mit den Geistern der Vergangenheit abrechnen können.
***
Es war noch Nacht, als sie Richtung Tyradon aufbrachen. Eine schweigende Armee des Grabes marschierte stoisch dahin, verdammt zu ewigem Gehorsam. Nur Knochenknacken und leises, windgleiches Heulen war zu vernehmen. Die Skelette leuchteten in ihrem bläulichen Schimmer, und die alptraumhaften Geister, die der Todesfürst Schattenkrümmer nannte, sahen im Lichte des Vollmondes noch bizarrer aus als sonst. Sedric und Kevano ritten an der Spitze des Zuges.
Was für ein Furcht einflößender Anblick sich jetzt einem fremden Beobachter bieten musste! Sedric war irgendwie stolz, zu dieser Armee zu gehören. Der Todesfürst war ein wichtiger Verbündeter, mit dessen Hilfe er endlich Rache für seine Vergangenheit nehmen konnte.
Dass sie dabei auch noch eine große Bedrohung beseitigten, war ihm nur Recht. Wieder drängten sich die Erinnerungen an seine Kindheit in den Vordergrund, und er versuchte, sie so gut wie möglich zu ignorieren. Natürlich schaffte er es auch dieses Mal nicht.
Gehässiges Lachen.
»Zur Grube! Zur Grube!«
»Steckt das Schwein dorthin, wo es hergekommen ist!«
Da! Sein Gesicht zuckte wieder. Doch diesmal schien es schlimmer als beim letzten Mal zu sein - die Krämpfe, die ihn die seltsamsten Grimassen schneiden ließen, gingen auch auf den übrigen Körper über. Kevano heulte auf, ließ die Zügel los und schlug die Hände vors Gesicht.
»Hört auf damit! Lasst mich endlich in Ruhe!«
Verdammter Mist, was mache ich denn jetzt?, dachte er entsetzt.
Den Todesfürsten riss es hin und her, fast drohte er vom Pferd zu fallen. Doch bevor Sedric irgendetwas unternehmen konnte, legten sich Kevanos Krämpfe. Schwer atmend nahm er die Hände vom Gesicht.
»Das war bereits das zweite Mal!«, rief Sedric. »Wenn Euch das während der Schlacht passiert, seid Ihr geliefert!«
Der Todesfürst strafte ihn mit einem ungehaltenen Blick. »Eure Sorgen um mein Wohlbefinden sind rührend, aber die Entgleisungen sind mein Problem, ich allein muss damit fertig werden.« Und damit war das Thema für ihn beendet.
Von diesem Moment an ritten sie nur noch schweigend auf jenen schicksalhaften Tag zu, der so vieles verändern sollte.
Tyradon
☼
Tyradon bot im Lichte der aufgehenden Sonne einen beeindruckenden Anblick. Es war ein Meer aus roten Dächern, aus dem gelegentlich große Bauwerke wie Felsen herausragten. Am nördlichen Ende der Stadt befand sich die Burg des Königs, und im Süden - weit von ihnen entfernt - die Goldene Zitadelle. Die Stadt war umfriedet von einer hohen Mauer, auf der Soldaten aufgeregt herumrannten. Offenbar hatte man sie schon bemerkt.
»Ihr wisst, was Ihr zu tun habt«, sagte Kevano mit ruhiger Stimme. »Viel Glück, mein Freund.«
Sedric nickte, warf noch einen Blick auf die schaurige Armee und gab seinem Pferd die Sporen. Schnell wie der Wind jagte er auf die Stadt zu und schwenkte dann auf eine Straße um, die östlich an Tyradon vorbeiführte. Sedrics Ziel lag im Süden, und dort ritt er jetzt hin.
***
Während die Landschaft an ihm vorbeieilte, strömten alte Erinnerungen ins Gedächtnis. Auf dieser Straße waren sie damals öfters mit Meister Beyon Richtung Tyradon gewandert. Was der alte Hurenbock wohl jetzt machte? Schwer zu sagen, nach beinahe zwei Jahrzehnten ohne Kontakt.
(Wahrscheinlich hat er längst ins Gras gebissen), sagte der Wahnsinnige beiläufig. Sedric musste lachen.
Er ließ seinen Blick über die Berge linkerseits von ihm schweifen. Ah! Da war er es ja, das kleine Dorf, in das er einst geschickt worden war, um die höheren Weihen der Zauberei zu lernen. Was für ein Riesenreinfall das nur gewesen war … Wut stieg in ihm auf.
Sedrics Sicht schwenkte wieder nach rechts, wo sich die große Kuppel der Goldenen Zitadelle majestätisch hinter den Mauern der Stadt erhob. Das Medaillon hatte höhere Priorität als die Rache an alten Feinden, da konnte er machen, was er wollte. Aber er war sich sicher, dass er heute beides ohne größere Probleme erledigen konnte. Er vertraute so stark auf seine Fähigkeiten und die Fantasie des Wahnsinnigen, dass er erst gar nicht auf den Gedanken kam, dass etwas schief laufen könnte.
***
Das Südtor der Stadt war geschlossen. Obwohl er damit gerechnet hatte, fluchte er lautstark. Dieses zusätzliche Hindernis würde ihm wieder kostbare Minuten kosten. Er schwang sich vom Pferd und ging schnellen Schrittes auf das riesige, hölzerne Tor zu.
Kieselsteine knirschten, der frische Morgenwind ließ ihn frösteln. Die Wachen auf dem Wehrgang blickten gelangweilt auf ihn herab.
Sedric stemmte die Fäuste in die Hüften und sah sie blinzelnd an.
»Macht das Tor auf, ich muss dringend in die Stadt!«
»Tut uns leid, der Herr, es gibt Probleme im Norden und wir haben den strikten Bef-«
»Meine Güte, das ist ja der Wahnsinnige!«, fiel ihm der andere ins Wort.
Beide erbleichten.
Sedric schoss das Blut ins Gesicht.
Nein, der bin ich nicht. Aber er hat sich sicher was Schönes für euch ausgedacht.
***
Sedric und der Herrscher standen am Fuße des Thrones und warteten auf die missgestalteten Diener. Ihm schwirrte noch immer der Kopf von der langen Reise, die er auf sich genommen hatte, um den Wahnsinnigen von Angesicht zu Angesicht sprechen zu können.
Es war eigentlich ganz gut gelaufen: Die Missgeburten hatten sich etwas friedlicher als letztens verhalten, Hommel hatte weniger verdreht als an manch anderen Tagen dahergeredet (»Der Weg ist vorne hinten als höher«) und am Ende war die ewig augenblickliche Reise nicht so verwirrend wie sonst gewesen. Die gestörten Götter schienen es heute gut mit ihm zu meinen.
»Beeilt euch«, rief der Wahnsinnige den Dienern entgegen, die sich sichtlich abmühten, den schweren Außenweltspiegel und Sedrics neue Rüstung durch die Jahrtausende zu schleppen.
Schnaufend und schwitzend stellen sie die Sachen ab.
»Ab in die Wand mit euch, ab nach In-den-Wänden, hopp hopp«, befahl der Herrscher, und die Diener machten, dass sie davonkamen. Sedric bestaunte mit großen Augen die kunstvoll verzierte Rüstung.
»Hübsch, nicht wahr?«, bemerkte der Wahnsinnige. »Erdacht von Geistessklaven an Tagen und Nächten voll qualvoller Inspiration, geschmiedet von erzbösen, aus der Hölle gekrochenen Kreaturen und letzten Endes noch von mir veredelt. Ein mächtiges Stück Existenz, todbringend für jeden, der es wagt, sich dir entgegenzustellen.«
Sedric stand der Mund offen. Die Rüstung erstrahlte in einem metallischen Blau und eine silberne Aura der Pracht umgab sie. Ein glanzvoller Umhang mit seinem Wappen - weiße Krone über zwei ungleichen Augen - vollendete das Kunstwerk. Langsam fuhr er mit den Fingern über das Metall, spürte die feinen Verzierungen. Linien schlängelten sich um sich selbst, verloren sich und tauchten an anderer Stelle wieder aus dem Nichts auf.
»Einfach unglaublich«, murmelte er.
»Zurück zu unserem Problem«, sagte der Wahnsinnige und wandte sich dem leeren Außenweltspiegel zu. »Kommt schon«, herrschte er die Schnitzereien an, »meine Geduld ist nur begrenzt.« Das Stadttor mit den zwei starren Wachen darüber erschien augenblicklich.
Stumm musterten die beiden die unliebsame Barriere.
»Was schlägst du vor? Soll ich es mit Feuer durchbrennen?«, fragte Sedric schließlich.
»Mein Lieber, hast du denn noch immer nicht begriffen, wie deine Magie richtig funktioniert?
Deine Macht kommt nur voll zur Geltung, wenn du sie auch fantasievoll einsetzt.«
Sedric nickte. »Und ein Feuer wäre alles andere als das.«
»Du lernst schnell«, sagte der Wahnsinnige augenzwinkernd.
»Aber ich habe leider nicht viel Fantasie.«
»Dafür hast du ja mich«, erwiderte sein Ebenbild. Er ging einen Schritt nach vorne und musterte den steinernen Torbogen. »Ein bisschen Mörtel, Stein und Holz haben keine Chance gegen meinen Einfallsreichtum.« Seine Miene erhellte sich. »Mit dem Mauerwerk stimmt etwas nicht.«
Sedric trat näher an den Spiegel heran. »Unsinn, es ist völlig in Ordnung.«
»Nein, mein Lieber, das ist es nicht.«
Das Bild im Spiegel veränderte sich und zeigte einen alten Mann. Der Wahnsinnige wies mit einer ausladenden Geste auf ihn.
»Das, mein Freund, ist Egol. Er ist Bauhandwerker in Tyradon, doch in letzter Zeit macht er seine Arbeit nicht mehr so gut wie früher, weil er dem Alkohol verfallen ist.«
»Worauf willst du hin-«
»Lass mich ausreden! Vor ein paar Tagen hat er das Mauerwerk des Torbogens ausgebessert, weil dieser einzustürzen drohte. Und dabei« - er lächelte den alten Mann schadenfroh an - »hat er in seinem Delirium ein paar entsetzliche Fehler gemacht. Alles ist noch immer massiv einsturzgefährdet.«
Das Bild veränderte sich und zeigte wieder das Tor.
»Das ist absoluter Schwachsinn, oh Wahnsinniger, das Mauerwerk ist völlig in Ordnung.«
»Nur auf den ersten Blick«, sagte der Herrscher lächelnd. »Egol war immer ein guter Handwerker, deshalb hat seine Arbeit nie jemand kontrolliert. Niemand weiß, dass alles dahingepfuscht ist und nur oberflächlich einwandfrei aussieht. Ein falscher Schritt der Wachen - eine ungewollte Belastung! - führt zum Einsturz des Bogens, der in Folge das Tor darunter zerstören wird.«
»Das ist eine unhaltbare Behauptung«, sagte Sedric.
»Nein, mein Freund. Das ist eine unwiderlegbare Behauptung. Glaub mir, nur so kommst du ohne Probleme in die Stadt.«
Nur langsam wurde er sich darüber im Klaren, was der Wahnsinnige gerade erdacht hatte - und mit jedem Augenblick, der verstrich, verwandelten sich seine Zweifel etwas mehr in Freude.
»Unwiderlegbare Behauptungen«, bemerkte Sedric voller Faszination.
»Die sich immer als richtig erweisen, weil niemand je auf den Gedanken gekommen ist, sie zu widerlegen. Fantasievoll, was?«
»Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.«
»Sag einfach, dass es niemand mit meinem Einfallsreichtum aufnehmen kann.«
***
»Bei allen toten Göttern, woher hat er denn plötzlich diese Rüstung?!« Die Stimme des Soldaten überschlug sich fast.
»Alarm!«, schrie der andere Wächter. »Der Feind steht vor dem Tor!«
Bewaffnete Männer erschienen wie aus dem Nichts auf dem Wehrgang und rannten auf ihre Kameraden zu.
(Es wird Zeit, Sedric.)
Ein merkwürdiges Hochgefühl kam in ihm auf - große Aufregung, gepaart mit dem Wissen, absolut überlegen, unverwundbar zu sein. Er rückte das Diadem auf seinem Kopf zurecht und fixierte die Männer. Seine ganze Macht kreiste um die Worte des Wahnsinnigen: Der Torbogen ist massiv einsturzgefährdet … niemand hat das je kontrolliert … diese Behauptung kann niemand widerlegen …
»Der Wahnsinnige sagt, dass der Torbogen mangelhaft ausgebessert worden ist. Zwei Männer kann er noch tragen, bei mehreren bricht er ein!«, rief er aus.
Die Verstärkung war eingetroffen; zu sechst standen die Soldaten nun über dem Tor. Bögen wurden hervorgeholt, Befehle gebrüllt.
Vor seinem geistigen Auge sah er, wie Egol immer mehr dem Alkohol verfiel, wie der wackere Maurer mit zitternden Händen minderwertige Arbeit vollführte, wie er sich völlig umsonst abmühte, etwas Gutes zustande zu bringen. Stein auf Stein, Stein auf Stein, das Pfuschwerk wird bald fertig sein …
Alles hatte sich so zugetragen, wie der Wahnsinnige behauptet hatte.
Ein Rumpeln ging durch das Mauerwerk, Risse bildeten sich, Steine bröckelten. Dann brach der Bogen seufzend ein, zermalmte das hölzerne Tor unter sich und riss die Soldaten mit in die Tiefe und in den Tod. Die Männer schrien auf, dann herrschte Stille.
***
Als sich der Staub etwas gelegt hatte, schritt Sedric auf die neu gebildete Bresche zu. Während er die herumliegenden Felstrümmer überkletterte, fiel sein Blick auf den zerschmetterten Körper eines Soldaten. Er hielt inne, sein Herz begann zu hämmern, Trauer breitete sich in ihm aus. Leblose Augen, die ihn vorwurfsvoll anstarrten … Hatte er vielleicht gerade den Vater kleiner Kinder umgebracht?
(Halte dich nicht mit den Toten auf, vergiss deine Aufgabe nicht!), herrschte ihn der Wahnsinnige an. (Leite unerwünschte Gefühle an mich weiter, ich kann besser mit ihnen umgehen!)
Sedric nickte stumm und schickte all seine Trauer, all sein Mitleid und all sein Bedauern in die Gestörte Welt. Der Herrscher lachte gequält auf - und eine wohlige Kälte breitete sich in Sedric aus. Der Anblick der zerschmetterten Leiche war ihm jetzt völlig gleich; fast lachhaft, dass er sich von ihr hatte aufhalten lassen. Bar jeglicher störender Gefühle ging er weiter.
Ein dumpfes Donnergrollen aus dem Norden ließ ihn zusammen zucken - offenbar hatte sich der Todesfürst gerade Eintritt in die Stadt verschafft. Er war schneller als Kevano gewesen! Wie hatte er nur jemals an seiner Überlegenheit zweifeln können? Jetzt würde es gleich doppelt so leicht werden, das Medaillon aus der Goldenen Zitadelle zu entwenden.
Das war ihr Plan: Er erledigte alles Wichtige im Süden, während sein Alliierter die Burg im Norden angriff - ein gnadenloser Zangengriff, aus dem es kein Entkommen gab, weder für den König, noch für die verbliebenen Alchimisten. Endlich lichtete sich der Staub so weit, dass er sehen konnte, was ihn hinter der Bresche erwartete.
Sie hatten sich versammelt und starrten ihn stumm an, Dutzende Soldaten mit blinkenden Schwertern, erhobenen Bögen und nichts als Angst in den Augen.
***
»Das ist er, Sedric der Wahnsinnige.«
»Verdammt, was machen wir denn jetzt?«
»Mögen uns die toten Götter beistehen.«
»Spannt die Bögen!
Auf mein Kommando …
Pfeile los!«
Ein wahrer Geschosshagel wurde auf ihn freigelassen, instinktiv riss Sedric die Arme vors Gesicht. Oh Wahnsinniger, ich kann nur hoffen, dass die Rüstung wirklich so gut ist, wie sie aussieht … Er hörte das Sirren, erwartete den schmerzhaften Aufprall … doch nichts geschah. Er lugte mit zugekniffenen Augen hinter den Armen hervor, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich die Salve in Staub verwandelte.
»V-v-verdammt, was s-soll das?«, stammelte jemand entgeistert.
Er grinste scheinheilig. Jetzt war er an der Reihe. Andächtig lauschte er den Worten seines fantasiereichen Ichs.
Wie ungewöhnlich!
»Der Wahnsinnige sagt, dass ihr alle mit schwachen, fehlerhaften Herzen geboren worden seid. Bis jetzt haben sie tapfer alle Belastungen ertragen, doch ein großer Schock könnte sie im Nu zum Stillstand bringen.«
Mit einer Handbewegung öffnete er ein Portal in die Gestörte Welt und gewährte seinen Feinden einen Blick auf die entsetzlichsten Eindrücke, die sie zu bieten hatte. Angstvolle, schockierte Schreie. Und irgendwo eine sterbende Stimme: »Schlachtet ihn ab, Männer!« Doch gegen eine unwiderlegbare Behauptung half keine rohe Gewalt, half kein magischer Fluch, half kein inbrünstiges Gebet. Ausnahmslos alle Soldaten klappten tot zusammen, einige griffen sich dabei mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Brust.
Dann war es vorbei - so leicht - und Stille legte sich über die Szenerie. Nur aus der Ferne konnte man noch Geräusche ausmachen.
Er ging weiter, stieg über die Leichen seiner Feinde. Die Straße war breit, die Hauptstraße der Stadt, und diese führte geradewegs zum Tor der Goldenen Zitadelle. Links und rechts standen große, getünchte Herrenhäuser. Es waren schon viele Menschen auf den Beinen - die meisten flüchteten vor ihm, doch ein paar kamen geradewegs auf ihn zu. Sollte er gegen sie abermals unwiderlegbare Behauptungen einsetzen?
(Nein, bei großen Menschenmengen besteht immer die Gefahr, dass jemand dabei ist, der eine Behauptung bereits widerlegt hat), antwortete der Wahnsinnige. (Und das wäre wirklich gefährlich für dich. Sedric, es wird Zeit, meinen tödlichsten Diener einzusetzen; er und sein Gefolge werden ihnen einen grausamen Tod bereiten.)
Gesagt, getan. Auf Befehl des Wahnsinnigen betrat ein alter Landstreicher die Bühne der Welt und riesige, rosafarbene Missgeburten folgten ihm. Der Alte hatte einen fiebernden Blick, war ganz in schwarz gewandet und seine Hände schützen rostige, stählerne Handschuhe. Hommel war gekommen. Und er hatte nicht vergessen, seine Kinder mitzubringen.
***
Das erste Mal, seitdem er die Stadt betreten hatte, nahm er den entsetzlichen Gestank bewusst wahr. Gülle und Fäkalien schwammen in trägen Bächen durch die Straßen, Müll stapelte sich an jeder Ecke. Rauch aus tausend Öfen vermengte sich mit den Ausdünstungen der Gosse und sorgte für ein augenbrennendes Geruchserlebnis. Irgendwie machte ihn das alles wütend - wäre es nicht eine gute Idee gewesen, diese Stadt, dieses Krebsgeschwür menschlicher Schaffenskunst, einfach niederzubrennen? So schwer konnte es doch nicht sein, eine unwiderlegbare Behauptung für die Zerstörung Tyradons zu finden -
(Sedric, sie kommen!) Er sah auf. Frische Soldaten aus dem Norden hatten eine neue Angriffsreihe gebildet, Stadtbewohner mit Harken und brennenden Fackeln hatten sich unter sie gemischt. Brüllend stürmte die Meute auf ihn zu. Er warf Hommel einen vielsagenden Blick zu. Die Reaktion des alten Mannes war erschreckend - seine Züge verhärteten sich, die Augen fingen rötlich zu flackern an, Feuer am Grunde tiefer Brunnen.
»Auf auf, meine Kinder, nehmt sie euch so lange vor und zurück, bis sie alle gewesen waren«, sagte der Alte mit pfeifender Stimme. Das ließen sich die Missgeburten nicht zweimal sagen: Große Scheren wurden drohend erhoben, gefährliche Knochenklingen offenbart. Die Heranstürmenden wurden etwas langsamer, zögerlicher, stoppten aber nicht. Der Landstreicher machte eine zackige Geste mit stählernen Händen und seine Kinder stürmten mit Gekreische los. Gekreische? Eigentlich ist es eher ein schrilles Heulen, dachte Sedric.
Die Missgeburten nahmen sich der wütenden Meute an, und Sedric sah mit Hommel zu.
Vor seinen Augen spielten sich grausame Szenen ab. Köpfe wurden zermahlen, Arme abgetrennt. Eine Missgeburt hob einen Soldaten mühelos in die Luft und riss ihn in der Mitte auseinander. Wie furchtbar … Ich kann gar nicht hinsehen … Er wandte sein Gesicht ab und schloss die Augen.
Wütendes Brüllen.
»Habt keine Furcht, ich werde sie … AHH!«
Splitterndes Holz, krachende (Knochen).
Klirrende Schwerter.
Ein gurgelnder Aufschrei.
Brechendes Metall.
»Ich werde es euch scho-«
WAMM!
»Zieht euch zurück, das ist reinster Selbstmord!«
Wie im Schlachthaus roch es jetzt. Selbst der Gestank der Fäkalien vermochte nicht den Geruch des Blutes zu überdecken. Rauch, Ausscheidungen, Müll, Därme, Kampfgeschrei, furchtbare Szenen … ihm schwirrte der Kopf davon, es war einfach zu viel. Hatte sich der Wahnsinnige vielleicht nicht aller unerwünschten Gefühle angenommen? Die Augen hatte er noch immer geschlossen.
»Ist es Euch nicht besonders gut als besser ergangen, Herr?«, fragte ihn der Landstreicher.
Ach, wenn ich doch nur eine kleine Auszeit nehmen könnte, nur eine klitzekleine …
»Führe mich, Hommel. Führe mich zur Goldenen Zitadelle.«
Und der Alte nahm ihn am Arm; zusammen setzten sie einen Schritt vor den anderen, während Sedrics Geist langsam in die Gestörte Welt zurückkehrte.
***
Stöhnend lehnte er sich gegen einen elegant gewachsenen Krüppelbaum. Das Heulgras weinte leise, während der Wind wie eine alte Vettel lachte. Das Trommeln der Veteranen wummerte stoisch vor sich hin: Badawumm-bumm-bumm, badawumm-bumm-bumm …
War es Tag oder Nacht? Schwer zu sagen, weil sich der Himmel nicht entscheiden konnte, ob er hell oder dunkel sein wollte. Im Palastgarten tanzten eine Handvoll Monstrositäten, die sich ohne ihre Kameraden deutlich freudloser bewegten.
Ein scharfes Sirren lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich - direkt neben ihm hatte sich eine spontane Spiegelung manifestiert. Sie glich einer senkrecht stehenden Wasserfläche, die flackernd Bilder zurückwarf. Stumm starrte er auf sein waberndes Spiegelbild. Er hatte keinen Kratzer, sah nur ein wenig blasser aus als sonst. Plötzlich wandelte sich das Spiegelbild - und sein Antlitz nahm gequälte, schmerzverzerrte Züge an.
»Tut mir wirklich sehr leid, Sedric, aber ich konnte nicht alle Gefühle aufnehmen. Es war einfach … zu viel.« Eine schrille, schneidende Stimme … der Wahnsinnige.
»Wer denn sonst, mein Lieber? Oh Himmel … der Ansturm war wirklich grausam. Viel schlimmer als in deiner Jugend. Ich gebe zu, dass ich damit nicht gerechnet hatte.«
Er spielte nicht groß den Überraschten.
»Was machen wir jetzt?«
»Du wirst mit deinen Gefühlen wohl alleine fertigwerden müssen«, sagte sein Ebenbild. »Ich werde meine ganze Kraft brauchen, um dich weiterhin zu unterstützen.«
Der Herrscher warf einen Blick nach links, ins Leere. Sedric war sich sicher, dass er gerade in den Außenweltspiegel blickte.
»Hommel wird bald mit dir bei der Zitadelle eingetroffen sein. Dort sage ich dir dann wie es weitergeht.« Er zuckte zusammen. »Draußen geht es ja wirklich heftig zu … ach du meine Güte!«
»Was?«
»Kehre zurück, schnell!«
Die Spiegelung kollabierte, zerplatzte wie eine Seifenblase.
***
Ein Mann, der sich traumwandlerisch von einem Landstreicher durch die Stadt führen ließ, während seine furchtbar entstellten Getreuen den Weg freiräumten … was für einen ungewöhnlichen, was für einen legendären Anblick musste das gegeben haben!
Ein schlafender Mann ging durch die Straßen, und der Landstreicher führte ihn …
Er schlug die Augen auf.
Das Erste, was er wahrnahm, war eine brennende Missgeburt, die schreiend neben ihm zusammenbrach. Bei allen gestörten Göttern, was zum …
»Keinen Schritt weiter, Abschaum aus der Hölle!«, rief eine laute, befehlsgewohnte Stimme.
Jetzt sah er sie.
Sie waren zu dritt, und sie standen direkt vor dem Tor der Goldenen Zitadelle. Edle Männer mit prächtigen Umhängen und großen, lanzenartigen Zauberstäben. Ein brennender Blitz auf eisblauem Grund prangte stolz von ihren Gewändern. Und in ihrer Mitte …
War er es wirklich?
(Natürlich ist er es.)
Arroganter Gesichtsausdruck, grüner Umhang, langes schwarzes Haar … ja, es gab keinen Zweifel. Es war Asél. Und er strahlte eine Überheblichkeit aus, die seinesgleichen suchte.
Genau wie früher. Seine Wut explodierte förmlich.
»Geh aus dem Weg, Asél.«
Der Angesprochene ignorierte seine Worte.
»Im Namen der Kyr-ra-ney: Knie nieder und winsle um Gnade, dann werden wir dich -«
»Schweig!«
»- verschonen. Abscheulicher! Minderwertiger! Wahnsinniger!«
Hommel ließ seinen Arm los und sah ihn fragend an. Die Missgeburten gaben gurrende Laute von sich und scharrten angriffslustig mit den Füßen. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, die sich alle nur um eines drehten: Rache an seinem alten Feind. Doch nichts schien ihm angemessen genug.
(Sedric, überlass ihn mir. Ich weiß, wie man ihm am meisten Schmerz zufügen kann), bettelte der Wahnsinnige.
Was schwebt dir vor?
Der Herrscher sagte es ihm. Und Sedric konnte nicht verleugnen, dass er niemals zuvor etwas Grausameres gehört hatte. Entsetzen machte sich breit.
***
Die Magier schlugen zu. Weiße, geisterhafte Wellen brachen aus ihren Herzen hervor, flossen über ihre Arme, sprangen auf die Zauberstäbe über und verwandelten sich dort in Feuer, Blitz und Eis. Das Antlitz des linken Zauberers leuchtete bläulich auf ob der zuckenden Entladungen, die seine Disziplin waren, der rechts stehende Magier hatte eine frostige Kugel beschworen, deren Macht ihn weiß erstrahlen ließ, und Asél, der Herr der Kyr-ra-ney, glühte rot wie ein Dämon aus der Unterwelt; große Flammen schlugen aus seinem Stab, wanden sich wie Schlangen.
»Direkter Angriff!«, schrie der Grüne Magier. »Wenn der Wahnsinnige stirbt, verrecken auch seine Höllenkreaturen!«
»Kyr!«, brüllte der Linke - und Blitze rasten zuckend durch die Luft …
»Ra!«, rief Asél - und ein Feuerschwall von unvorstellbarer Macht folgte …
»Ney!«, fügte der Rechte hinzu, und klirrendes Eis vollendete den Sturm der Magie.
Hilf mir doch, oh Wahnsinniger, so hilf mir doch, flehte Sedric, dann wurde er getr-
BLAWAMM!
Der Aufprall war so gewaltig, dass es ihn von den Beinen riss, und so laut, dass er glaubte, sein Trommelfell würde platzen. Scheppernd schlug er auf dem Straßenpflaster auf.
Kurz wurde ihm schwarz vor Augen …
… dann drang alles wieder auf ihn ein: Lärm, Gestank, (Schmerzen?) und die üble Gewissheit, dass er gegen die Kyr-ra-ney kämpfte, jene Elementarmagier, die er gerade so sträflichst unterschätzt hatte. Er fühlte sich schwach.
Verdammter Mist.
»Sie sind weg, die Kreaturen!«, triumphierte Asél. »Kampfhandlungen einstellen, Männer, wir haben diese Zangengeburt erledigt!« Zustimmendes, freudiges Gemurmel.
Schwere Schritte, die auf ihn zukamen …
(Bei allem, was dir wichtig ist, bleib liegen, Sedric!) Er befolgte den Rat; vorsichtshalber schloss er noch die Augen.
***
Jemand kniete sich neben ihn. Er spürte förmlich die prüfenden Blicke. Ein paar Herzschläge passierte überhaupt nichts.
»Asél, der Kerl atmet noch. Er … verdammt … er hat nicht einmal einen Kratzer.«
»Was? Schick den Drecksack heim in die Hölle, Janus!«
Und das versuchte Janus dann auch. Himmel, er versuchte es.
Sedric hatte nie herausgefunden, was Janus letztlich dazu bewogen hatte, seine Rüstung zu berühren. War er ebenso fasziniert von ihr gewesen wie er selbst? Oder hatte er sie einfach abnehmen wollen, um ihn leichter umbringen zu können? Einerlei, denn es war zu Ende mit ihm.
Ein Schrei gellte durch Tyradon, welcher den Schmerz des Magiers wahrhaft angsteinflößend wiedergab. Als er eine Sekunde später die Lider aufschlug, musste Janus schon hundert Jahre gestorben sein. Bei allen Göttern, die Zeit hatte ihn förmlich verbrannt. Modernd zitterte sein Leichnam vor sich hin und alterte und alterte. Haut wurde grau, ledern, brüchig, bröckelte ab, legte Knochen frei. Haar fiel aus, Gewänder zersetzten sich, lösten sich auf. Schädel und Gebeine wurden spröde, bekamen Risse. Und als der Magier längst zu Staub zerfallen war, hallte sein grauenhaftes Wehklagen immer noch nach.
…
Grundgütige Götter.
Den Schock noch tief in den Knochen, richtete er sich auf.
Alle Farbe war aus Aséls Gesicht gewichen, und sein Ordensbruder sah kaum besser aus.
Jegliches Geräusch war verstummt, die ganze Stadt schien den Atem anzuhalten.
Und in diese Stille hinein flüsterte Sedric eine unwiderlegbare Behauptung. Natürlich hatte er sie auch diesmal nicht selbst erdacht.
»Die Ereignisse waren zu schrecklich, Angst und Entsetzen haben es euch unmöglich gemacht, eure Magie zu konzentrieren. Immer und immer wieder müsst ihr an den Schrecken denken, kein klarer Gedanke hat mehr Platz. Ist doch so?«
Sie sahen ihn an, und Furcht spiegelte sich in ihren Minen wider. Offenbar hatten sie gerade gemerkt, dass er Recht hatte. Dann geschah etwas, mit dem Sedric nicht gerechnet hatte: Der
Blitzmagier
ließ
seinen
Stab
fallen und
Und Asél sah ihm unschlüssig nach.
»Wirst … wirst du auch wegrennen, Asél?«
»Halt dein Drecksmaul.« Der Grüne rührte sich nicht.
»Gut so, ich würde dich sowieso nicht entkommen lassen.«
Sedric dreht sich um. In seinem blutigen Fahrwasser hatte sich eine beachtliche Meute zusammengerottet, Soldaten, Handwerker, Jünglinge … doch niemand wagte es, loszustürmen. Noch nicht.
Wie sollte er sich hier bloß in Ruhe um Asél kümmern können?
(Überlass das alles mir, Sedric. Ich sorge für deinen Schutz und führe die Verhandlung. So etwas ist nicht leicht.)
Die Verhandlung?
***
Die Missgeburten waren aus der Gestörten Welt zurückgekehrt und hatten einen großen Kreis um Asél und Sedric gebildet, in den weder jemand eindringen, noch ausbrechen konnte. Zwei Monstrositäten hielten den Zauberer fest, der schlaff und teilnahmslos in ihren Armen hing. Er hatte nicht mehr viel Widerstand geleistet. Ihre plötzliche Anwesenheit hatte ihn allem Anschein nach völlig überrumpelt, nachdem er sie schon besiegt gewähnt hatte. Hommel lehnte an einer Hausmauer und betrachtete die ganze Szene mit verständnislosem Blick. Leere Augen, die nichts verstanden …
Die Morgensonne brannte, die Verhandlung begann.
***
(Asel, hier spricht der Wahnsinnige. Ich bin dein Richter.)
»Asel, hier spricht der Wahnsinnige. Ich bin dein Richter«, sprach Sedric nach.
Der Magier hob den Kopf und sah ihn mit einem Ausdruck bodenloser Verwirrung an, in die sich langsam so etwas wie Wut mischte.
(Ich kann nicht direkt auftreten, deshalb spreche ich durch Sedric.)
»Ich kann nicht direkt auftreten, deshalb spreche ich durch Sedric.«
»Was soll dieses Possenspiel, du bist der Wahnsinnige!«, rief Asél aufgebracht. »Hilfe, ein absoluter Irrer will mich hinrichten!«
Die Missgeburten gurrten drohend, doch Asél schrie immer lauter.
(Er soll das Maul halten, Sedric!)
»Der Wahnsinnige sagt, dass du zu schweigen hast, Asél.«
Geräuschvolles Weiterbrüllen.
(Arm ab.)
Kurzes Zögern. »Arm ab.«
»Ich lass mir von dir nichts sagen, ich … Ahh!«
Die Scherenhand seines Bewachers durchtrennte spielend Stoff, Haut, Muskeln und Knochen. Dumpf fiel der Körperteil auf den Boden. In Sedric stieg es siedend heiß auf. Aus dem Armstumpf pulste das Blut.
Pflastersteine, die sich rasch rot färbten …
Oh nein, du wirst mir hier nicht sterben.
»Stillt seine Blutung!«
Und die Missgeburten taten, was er verlangt hatte. Doch etwas war seltsam dabei: Er sah nicht, wie sie es anstellten. Es war so, als würde sich einfach nur sein Wunsch erfüllen, ohne dass die Realität die nötigen Bilder dafür liefern konnte. Sie war nur imstande, minderwertige, unglaubwürdige Eindrücke zu erzeugen - anscheinend war sie sich selbst nicht ganz im Klaren, was hier eigentlich vor sich ging. Verwirrend.
Aséls Blutung war jedenfalls gestoppt worden, auch wenn Sedric den Vorgang überhaupt nicht begriffen hatte. Seinem Feind schien es genauso zu gehen. Verwundert blickte er auf seinen Armstumpf. Immerhin, ruhig war er jetzt.
Die Verhandlung konnte also fortgesetzt werden.
***
»Asél, du hast Sedric in seiner Jugend schwer misshandelt und gedemütigt. Ich will hier zum Beispiel an den Vorfall mit der Güllegrube erinnern, jener Vorfall, der ihn dazu gezwungen hat, Beyons Schule für immer zu verlassen, weil er dort seines Lebens nicht mehr sicher war.« Es war nicht leicht, diese Sätze auszusprechen. Zu viele schmerzliche Erinnerungen schwangen mit …
»Er hat noch nicht genug Scheiße gefressen, taucht ihn noch einmal«, rief Asél mit glühenden Wangen.
Und die anderen Arschlöcher pflichteten ihm johlend bei.
(Ich verlange deshalb aber …
… keine geheuchelten Entschuldigungen. Dazu wärst du sowieso nicht in der Lage, Hurensohn, oder?«
Asél erwiderte nichts.
(Nein, ich verlange nur ein Auge von dir …)
Was?
(Du hast schon richtig verstanden, Sedric.)
»Nein, ich verlange nur ein Auge von dir …«
(… das du dir selbst auszureißen hast.)
Ihm stockte der Atem, doch er gab sich einen Ruck und vollendete den Satz: »Das du dir selbst auszureißen hast.«
Er hatte den Plan schon vorher gekannt, ja, aber nicht in allen Einzelheiten.
»Ich sag dir mal was, Wahnsinniger«, sagte Asél gedehnt, »bring mich um, schlachte mich ab, tu was dir beliebt, mir ist es gleich. Aber du wirst mich niemals dazu bringen, mir selbst etwas anzutun.«
»Das habe ich mir gedacht.«
(Weißt du, wie es weitergeht?)
Ja, oh Wahnsinniger.
Sedric wandte sich dem Landstreicher zu, der das ganze Spektakel noch immer mit so etwas wie aufmerksamer Verständnislosigkeit verfolgte.
»Hommel! In diesem Haus hält sich seine Frau versteckt. Schaff sie her.«
Der Alte drehte sich um, musterte das Bauwerk einige Sekunden lang und ging schließlich zum Eingang. Die Tür flog nur so aus den Angeln, als er dran riss.
Einige Augenblicke später kam er tatsächlich mit einer Frau heraus. Was für eine Schönheit! Langes schwarzes Haar, purpurne Kleider, die ihre hinreißenden Formen nachzeichneten, sommersprossiges Gesicht, Augen wie blau schimmernde Bergkristalle.
Da war er wieder, der Neid.
»Was hast du nur in diesem Haus gemacht, Cornelia?!«, schrie Asél, weiß vor Schreck.
»Das kann ich dir sagen, Asél«, sagte Sedric, während er den Worten des Wahnsinnigen lauschte. »Sie war auf dem Weg zum Markt, als sie die Missgeburten gesehen hat. Daraufhin hat sie sich in diesem Haus versteckt. War doch so, oder?«
Die Schönheit nickte.
Nackte Angst in Bergkristallen.
Sedric wandte sich seinem Feind zu. »Ich denke, der Fall ist damit klar. Reiß dir ein Auge aus, Asél, oder der grausame Landstreicher wird deiner Frau Entsetzliches antun. Du hast die Wahl.«
Wieder dieses Gefühl, als würde die ganze Stadt den Atem anhalten …
Der Magier zögerte, fing trocken zu schluchzen an, fluchte etwas. Doch er regte keinen Finger. Ihr gestörten Götter, was sollte er nur tun, wenn Asél das Schicksal seiner Frau völlig gleichgültig war?
Zuzutrauen wäre es ihm …
Verdammt, mach endlich was!
Und endlich, nachdem er schon gedacht hatte, er müsse Hommels Grausamkeit entfesseln, da regte sich der Grüne und vollführte die Anweisung des Wahnsinnigen mit einer Zielstrebigkeit, die man einem widerspenstigen Geist wie ihm nie zugetraut hätte. Aséls verbliebene Hand wanderte mit langen Fingernägeln Richtung Gesicht, weiße Speere vor verletzlichem Terrain. Cornelia schrie vor Entsetzen, doch Sedric nahm es nicht wahr. Er war viel zu befangen von diesem denkwürdigen Moment. Zum zweiten Mal musste er sich mit ansehen, wie sich jemand auf grausamste Weise verstümmelte. Nur diesmal war es keine Erscheinung in der Gestörten Welt, sondern sein alter Feind, sein verfluchter alter Feind Asél.
Nägel.
Er zwang sich förmlich, zuzusehen.
Nägel.
Nägel, die auf Auge treffen, Auge, das sich reflexartig schließt, Nägel, die zurückzucken, Nägel, die sich nicht entmutigen lassen, Nägel, die sich eingraben, Auge, das kapituliert, Nägel, nun blutige Nägel, die kaum Halt finden, Auge, das erblindet, Nägel, die quetschen und zerren und zerren und zerren
Sedric hielt nicht durch. Er drehte er sich weg und vergrub das Gesicht in den Händen. Doch die Schreie seines Feindes peinigten ihn weiterhin.
***
…
***
Mit der Fantasie des Wahnsinnigen war das Tor der Goldenen Zitadelle leicht zu knacken gewesen; jetzt stand Sedric unschlüssig im Inneren des Gebäudes, während seine entstellten Getreuen den Weg nach draußen wieder verriegelten.
Der Geschmack der Rache lastete bitter auf ihm. Als er mit Asél fertig gewesen war, hatten die Missgeburten den Magier in eine Gasse geschleudert, wo er reglos, aber lebend, liegen geblieben war. Der Anblick seines geschlagenen Feindes hatte bei ihm keine Genugtuung auslösen können - bleischwer lasteten die Eindrücke in seinem Gedächtnis. Erst jetzt wurde er sich langsam über seine unglaubliche Brutalität gewahr. Hätte er ohne den Herrscher jemals so etwas anrichten können? Wahrscheinlich nicht, dachte er. Eine derartige Grausamkeit wäre ihm gar nicht erst in den Sinn gekommen. Er seufzte. Wenigstens hatte er Aséls Frau nichts antun müssen. Hommel hatte sie nach der Verhandlung einfach laufen lassen.
Ich bin nicht mehr ich selbst, und der Wahnsinnige ist schuld daran.
Er verdrängte diesen Gedanken, so gut er konnte. Denn die Zeit eilte, das Medaillon war jetzt an der Reihe. Doch wie sollte er es hier bloß finden?
Denn das Innere der Zitadelle war ein Gewirr aus Bögen, Arkaden, Gängen und Türen, Türen, Türen. Große, kleine, prächtige, unscheinbare. Und hinter jeder konnte der gesuchte Gegenstand verborgen sein.
Mist.
Wenigstens war das Gebäude menschenleer. In seiner Kindheit war die Zitadelle ein Ort der Andacht und des Gebetes gewesen, doch Ciron der Ungläubige hatte mit großem Eifer und aller Hartnäckigkeit eines kompromisslosen Herrschers die alten Götter vertrieben und aus dem Tempel des Glaubens ein strahlendes Fanal der Wissenschaften gemacht.
(Du kommst nicht drauf, wo der Gegenstand versteckt sein könnte, stimmt‘s?)
Weißt du es denn?
(Ach, Sedric, man muss doch nichts wissen, um etwas zu finden), sagte der Herrscher. Mit dieser Behauptung ließ er ihn alleine.
Hieß das jetzt etwa, dass er jeden Raum durchsuchen musste?
Moment …
Behauptung? Er musste lächeln. Wieso hatte er nicht gleich daran gedacht?
Direkt neben ihm befand sich eine schlichte hölzerne Tür mit eisernen Beschlägen. Recht unscheinbar, aber dennoch irgendwie …
(Verdächtig?)
Ja, genau, sie war fast zu unscheinbar. Er lächelte selig vor sich hin. Jetzt wusste er, was er zu sagen hatte.
»Das Medaillon befindet sich hinter dieser schlichten Tür, weil eventuelle Diebe garantiert woanders gesucht hätten.«
Eine glaubwürdige Behauptung. Eine unwiderlegbare Behauptung. Er strahlte.
Dann öffnete er die Tür.
Der Raum dahinter war völlig leer. Diese Tatsache schien ihn in ihrer Endgültigkeit fast auszulachen. Langsam kam ihm die niederschmetternde Erkenntnis, dass er gerade eine unhaltbare Behauptung ausgesprochen hatte.
Eine unhaltbare Behauptung.
Und mit der Erkenntnis kam der Schmerz.
Es war, als würde freigesetzte Energie wieder auf ihn zurückprallen. Die Wirklichkeit hatte diesmal gewonnen, und sie schien sich für den dreisten Manipulationsversuch rächen zu wollen. Er hatte sie nicht überlisten können.
Sein Blut kochte, Knochen brannten, der Schädel schien zu explodieren. Und in dieses Zerwürfnis aus Schmerz und Pein mischte sich die schrille Stimme des Wahnsinnigen.
(Es hätte funktionieren müssen, Sedric! Es hätte funktionieren müssen!)
Hatte es aber nicht. Der Wahnsinnige fing nun auch zu schreien an. Der Schmerz hatte die Gestörte Welt erreicht. Hommel und die Missgeburten wurden immer flüchtiger und verschwanden schließlich ganz.
Wie gerne wäre er jetzt in Ohnmacht gefallen! Doch die wütende Realität ließ das nicht zu. Qualvolle Minuten, Stunden, Tage hämmerten die Schmerzen auf ihn ein, ließen ihn keinen klaren Gedanken fassen, ließen ihn nur in Sehnsucht nach dem Tode schwelgen.
Doch irgendwann, nach Minuten (Stunden, Tagen?), da hörte der Schmerz auf, und Sedric erhob sich weinend und zitternd vom kalten Steinboden der Zitadelle. Keinen einzigen Moment war er ohnmächtig gewesen, keinen einzigen Moment hatte er auch nur ansatzweise seine Sinne verloren.
»Was machen wir jetzt, oh Wahnsinniger?«, wimmerte er vor sich hin, vergaß ganz darauf, dass man mit dem Herrscher gar nicht zu reden brauchte.
(Sie müssen das Medaillon fortgeschafft haben, an einen sicheren Ort, was weiß ich. Normalerweise lässt sich alles bedingungslos verformen, aber mit dieser Behauptung hättest du wohl zu viele Erinnerungen gebrochen, zu viele Wissende hinters Licht geführt.)
»Was machen wir jetzt?«, fragte er noch einmal.
(Nach den Entführungen der Alchimisten müssen sie das Ding aus Sicherheitsgründen fortgeschafft haben, in … die Burg. In die Burg, genau!)
»Was mach-«
(Na, was wohl? Wir ziehen nach Norden, vereinigen uns dort mit Kevanos Streitkräften und gehen gemeinsam gegen die Feste des Königs vor. Verdammt, diese Bastarde! Schlachten wir sie ab Sedric, brennen wir diese Drecksstadt nieder!)
Und das Feuer des Wahnsinnigen ging auf Sedric über. Als er sich zum nördlichen Ausgang der Zitadelle aufmachte, da war so etwas wie …
Hass?
Leere?
Mordlust?
in seinen ungleichen Augen auszumachen, und das war keine gute Sache. In der Kammer schien ein Teil seiner Persönlichkeit gestorben zu sein, sein Denken war dem des Wahnsinnigen ähnlicher geworden.
Ja, diesen linken Schachzug werden sie bereuen. Brennen sollen sie, verrecken sollen sie … schick mir Hommel und seine Kinder!
Die schrillen Befehle des Herrschers mischten sich unter seine Schritte. Zielstrebig eilte er auf den nördlichen Ausgang der Zitadelle zu.
***
WAMM!
Holz flog in alle Richtungen, als sich die massigen Missgeburten gegen das Tor warfen. Ächzend machten die Flügel den Weg frei. Es regnete Staub und Splitter. Sonnenlicht mischte sich drunter und sorgte für flüchtige Impressionen. Verträumt starrte er auf das Spiel von Licht und Teilchen, dann widmete er sich den Ereignissen, die vor der Zitadelle stattfanden. Es war die Hölle los.
»Oh nein, er kommt raus!«
Geschrei.
»Nehmt Aufstellung, ihr Narren, oder wollt ihr jetzt schon verrecken!?«
Waffengeklirre.
»Verdammt, schafft mir das Volk hier weg!«
Gebrüll.
»Keiner macht etwas ohne meinen Befehl, ist das klar?«
Es herrschte ein unglaubliches Gedränge, doch langsam schien selbst der Dümmste zu begreifen, dass er hier etwas sehr Gefährlichem im Weg war. Die Menge ordnete sich, Frauen, Kinder, ja selbst Hunde und Krüppel zogen sich hinter eine Wand aus Soldaten zurück.
»Passt auf, der Mann hat mit den Kyr-ra-ney kurzen Prozess gemacht.«
»Oh nein, was sind denn das für grauenhafte Monster?«, wisperte jemand.
»Bei allen toten Göttern …«
Endlich trat Sedric ins Freie, gab sich den Blicken der Menschen unumwunden hin. Es war deutlich wärmer geworden. Atemlose Stille breite sich aus.
***
Grauenhafte Monster. Nicht einmal diese Bezeichnung schien den Missgeburten auch nur annähernd angemessen zu sein. Und keine Worte vermochten zufriedenstellend den Eindruck zu beschreiben, den man empfand, wenn einem diese Gestalten das erste Mal unter die Augen traten.
Den Blick abwenden, schreien und wegrennen, ja, das wäre angesichts dieser Ungeheuer wohl am besten gewesen. Dumm nur, dass fast niemand dazu fähig war. Denn die Missgeburten übten eine Art der Faszination aus, über die kaum ein Mensch erhaben war.
Sie ähnelten nackten, muskulösen Pferden, die sich aufgrund irgendeines dämonischen Wahns auf ihre Hinterläufe aufgerichtet hatten. Die Beine selbst waren nasse, entzündete Fleischsäulen, die in zersplitterten Gestellen endeten.
Ihre zarte Haut wurde von schwärenden Wunden durchzogen, und immer wieder stießen spitze Knochen von innen wie Dolche durch diese wehrlose Barriere, sorgten für Entzündungen, sorgten für Eiter. Wahre Knochenwälder ragten so aus dem Rücken der Kreaturen, zugewachsen mit Adern und Schorf, bewohnt von langbeinigen Parasiten.
Ihre Scherenhände ähnelten nur entfernt riesigen Hummer- oder Krebsgreifern, bestanden sie schließlich nicht aus Panzer und Muskeln, sondern aus jeweils zwei exotisch geformten Knochen, die irgendwo am Ellbogen aus dem Fleisch brachen.
Klack Klack, dein Kopf ist ab.
Der längliche Schädel bucklig auf den grausam abfallenden Schultern, die weißen Augen eine waidwunde Leere, Quallen am Strand, der Mund ein fauliges Loch ohne Zähne und Zunge, ein deformierter Brunnenschacht … Doch das Allerschlimmste an ihnen war, dass man immer genau wusste, mit was man es hier zu tun hatte.
Mit Men sch e n.
Entstellte Menschen, ja, wahre Monster von Menschen, ja - aber trotzdem immer noch …
Sie schienen diese Tatsache irgendwie stumm hinauszuschreien.
Dass sie endlich aus diesem nie enden wollenden Alptraum aufwachen wollten. Dass sie vor Schmerzen fast wahnsinnig wurden. Dass sie …
Mitleid, geboren aus Schock, vermischt mit grauenhafter Faszination und unterdrückter Furcht.
Dieses Gefühl schien jetzt von jedem in der Menge Besitz zu ergreifen, alles starrte auf diese armen Gestalten, alles genoss den eisigen Schauer, den sie verbreiteten, und alle schienen sich irgendwie darüber im Klaren zu sein, dass das keine Ungeheuer, sondern empfindsame Menschen waren, die schrecklich unter ihrem Schicksal litten.
Das war der Zauber der Missgeburten, hier entfaltete er zum ersten Mal seine ganze Macht.
Er konnte die Reaktion der Leute gut nachvollziehen, hatte er sich doch selbst nie ganz an den Anblick seiner Getreuen gewöhnen können.
Und wenn du nicht brav bist, wirst du selbst einer von ihnen.
Und wenn du nicht brav bist, wirst du selbst einer von ihnen.
Und wenn du nicht brav bist, wirst du selbst einer von ihnen.
Und wenn du -
Der Anführer riss sich als Erstes los.
»Hört zu, Wahnsinniger! Niemand in Tyradon kann verneinen, was Ihr uns heute angetan habt, aber wenn Ihr ohne weiteres Blutvergießen die Stadt verlässt, kann vielleicht eine Lösung gefunden wer-«
Seine Stimme erstickte in Sedrics Blick.
»Ich bin nicht hier, um mir wirres Gewäsch anzuhören, Handlanger. Pack deine Ratten und verlasse das sinkende Schiff, ehe der Sturm euch darnieder schmettert!«
Wellen von Wut brandeten durch seinen Körper. Was glaubte dieser Bastard eigentlich, wen er hier vor sich hatte? Er war kein wehrloser Jüngling mehr, der sich hänseln und herumschubsen ließ, kein armer Wurm, der sich bereits mit seinem Schicksal abgefunden hatte.
(Bravo, Sedric, solche Töne bin ich gar nicht gewohnt. Was ist denn in dich gefahren?)
Halt deinen Mund und ersinne mir endlich eine Plan zur Zerstörung der Stadt!
(Blitz und Chaos und Geschichten, Geschichten, Geschichten …)
Was?
(Erkläre ich dir später. Schaff erst mal diese Soldaten aus dem Weg. Wenn sie der Anblick der Missgeburten so derart in den Bann zieht, dann setz ihnen doch mal etwas … richtig Verstörendes vor. Ich denke, meine hoch gerühmten Paradoxa werden hier schnell für klare Verhältnisse sorgen.)
Oh ja, Paradoxa!
Ewig augenblicklich, rückwärts driftende Zukünftigkeit … im Gegensatz zu den unwiderlegbaren Behauptungen musste er sich die Anwendung eines Paradoxons nicht extra vom Wahnsinnigen erläutern lassen. Zu oft hatte er diese Disziplin bereits ausgeübt.
Routiniert setzte er die widersprüchlichsten Dinge in die Welt, schmetterte sie den Soldaten förmlich entgegen.
***
Er vollführte eine komplizierte Handbewegung, brachte die Finger zum Glühen und zeichnete ein paar wirre Objekte in die Luft. Bläulich wummerten die Luftmalereinen vor sich hin.
Abschicken.
»Himmelschön anzusehen, wie der Rost auf euren polierten Schwertern funkelt, so freuet euch doch über die frisch geschliffene Stumpfheit eurer Waffen.«
Die Zeichnungen flogen auf die Ziele zu, vereinigten sich mit ihnen. Ein greller Blitz folgte, dann war nichts mehr wie vorher.
Was für ein Anblick!
Die Schwerter hatten sich verändert, waren plötzlich alt und neu zugleich, zur selben Zeit gepflegt und verwahrlost, wahrhaftige Paradoxa in einer Welt, die Widersprüchlichkeiten normalerweise nicht billigte. Wie auf Kommando ließen die Männer ihre Waffen fallen und wandten schreiend den Blick ab, als hätten sie Angst, durch bloße Ansicht verrückt zu werden. Und diese Angst war gar nicht so unberechtigt.
»Verdammt, es hat sich eingebrannt, ich kriege es nicht mehr aus dem Kopf!«, brüllte ein hagerer Soldat, die Hände wie ein kleines Kind vors Gesicht geschlagen. Ein paar seiner Kameraden stürzten zuckend zu Boden.
»Seht sie nicht an, seht sie nicht an, seht sie nicht an!«, schrie der Anführer, der anscheinend selbst Probleme hatte, das Bild aus dem Schädel zu kriegen. Wie ein Schwachsinniger hämmerte er auf seine Schläfen ein.
Sedric schüttelte missbilligend den Kopf. So schlimm war der Anblick der Schwerter gar nicht. Das Problem der meisten Menschen war, dass ihr Denken unmögliche Sachen von vorhinein ausschloss, was bei einer plötzlichen Konfrontation mit einem Paradoxon natürlich immer unabsehbare Reaktionen zur Folge hatte. Aber wenn man seinen Geist dem Unmöglichen öffnete und ausreichend Zeit und Muße zum Üben hatte, ja, dann konnte man den Anblick durchaus ertragen lernen.
Versucht es nicht zu begreifen, das würde euch nur verrückt machen. Akzeptiert es einfach.
Zwecklos. Fast alle Soldaten hatten den Kampf bereits verloren, lagen reglos am Boden. Ein paar Leute in der Menge hatte es auch erwischt, wenn auch nicht viele. Die meisten waren rechtzeitig geflüchtet.
Euch kriege ich auch noch, verdammtes Pack.
Mit einem lauten Knall zerbarsten die Schwerter. Paradoxa hielten sich nicht lange in dieser Welt, so war das nun mal. Irgendwann wurden sie sich selbst ihrer Widersprüchlichkeit bewusst und negierten sich daraufhin. Das war jedenfalls seine Theorie zu diesem Phänomen.
Mittlerweile waren alle Männer ohnmächtig geworden, alles Kämpfen, alles Jammern und Schreien hatte nichts gebracht.
Er wusste, dass die Geschädigten noch Wochen unter den Bildern zu leiden haben würden, die starken Geister unter ihnen würden mit der Zeit damit fertig werden, die schwachen daran zerbrechen. Eine wunderbare Kampftechnik, wenn auch nicht so durchschlagend wie die unwiderlegbaren Behauptungen, wie er sich eingestehen musste.
Sedric setzte seinen Weg fort, Hommel an der Seite, die Missgeburten im Schlepptau.
***
Sein Weg zur Feste des Königs würde nicht so geradlinig verlaufen wie sein Weg zur Goldenen Zitadelle, das stand schon mal fest. Denn Tyradon war eine Stadt, die sich nach Süden öffnete, und das hieß, dass hinter der Zitadelle Schluss mit breiten Boulevards und Prachtbauten war, dass hinter der Zitadelle Verwinkelung vorherrschte. Es schien so, als würden sich alle kleinen und unwichtigen Häuser im Schatten des großen Bauwerkes verstecken, sie duckten sich wie Küken hinter einer Glucke …
Unübersichtliche Gassen, die mit düsteren Straßen einhergingen. Und jede ein Abenteuer für sich. Im Schlaf würde er das nie und nimmer packen, ein führe mich, Hommel würde hier nicht viel bringen.
»Quere Winkel und möglicherweise nicht helle Wege machen mich außerordentlich extra oder weniger mürbe«, bestätigte der Landstreicher. Er starrte unsicheren Blickes umher, wie ein Mann vom Lande, zum ersten Mal eine Stadt betreten hatte. Ganz und gar nicht seine Art.
»Ich weiß, Hommel, ich weiß«, beruhigte ihn Sedric.
Es war verdächtig ruhig, als sie in eine dunkle Gasse eintraten. Nur das schwere Schnaufen der Missgeburten und der rasselnde Atem des Landstreichers waren zu vernehmen.
Drückende Hitze, Fliegenschwirren.
Am Ende der Gasse saß ein alter Mann. Sonnenlicht schien ihm auf die Glatze, während er träge in den Tag hineindöste. Vom Angriff schien er herzlich wenig mitgekriegt zu haben, eine Aura der Ruhe und Gelassenheit umgab ihn.
Was für eine friedliche Szene! Nach all den Toten, Verstümmelten und geistig Darniederliegenden hatte er mit so etwas am wenigsten gerechnet. Ein Lächeln verdrängte seine unangenehmen Gedanken. Wenigstens hier würde ihm ein Gemetzel erspart bleiben.
(Das hier ist der Anfang. Hier werden wir mit der Zerstörung beginnen.)
Das Lächeln erstarb.
Dürfte ich dann endlich deinen Plan erfahren?
Sie kamen dem Mann immer näher.
(Natürlich. Nun höre denn: Man kann Tyradon mit einer einzigen unwiderlegbaren Behauptung zerstören, ja, aber das würde ein viel zu großes Risiko bedeuten. Fast so, als würdest du ein Raubtier auf einen Hirschen hetzen, das zuerst ihn erledigt und dich im Anschluss ebenfalls zerfleischt. Nein, wir erlegen diesen Hirschen mit vielen kleinen Pfeilschüssen. Viel sicherer für dich und für mich.)
Weiter, weiter …
Und dann berichtete ihm der Wahnsinnige von der geheimnisvollen Steigerungsform der unwiderlegbaren Behauptungen: dem Geschichtenerzählen.
***
Im Grunde, so sagte der Wahnsinnige, wären alle erfundenen Geschichten nur eine Abfolge von gekonnt rübergebrachten Behauptungen. Der Geschichtenerzähler erschaffe sich eine Figur, die er dann mit einer wahren Flut von Behauptungen konfrontierte: Wer die Person sei, wieso sie etwas mache, was sie antrieb: Cole der Henker war ein Bär von einem Mann, behauptete der Erzähler. Cole machte sich eines Tages zu einem großen Turnier auf, weil er ein Meister im Schwertkampf war … behauptete der Erzähler.
Je nach Länge der Geschichte ergäbe das mehrere hundert bis abertausend bei den Haaren herbeigezogenen Behauptungen hintereinander, die zusammen ein mehr oder weniger imposantes Gesamtbild ergeben würden. Und das, so sagte der Wahnsinnige, wäre das Besondere am Geschichtenerzählen: In Summe würden die ineinander verwobenen Behauptungen mehr ausrichten können als eine gleiche Menge an unwiderlegbaren Behauptungen, die nichts miteinander zu tun hatten, die keine Geschichte erzählten. Denn eine Geschichte wäre immer mehr als die bloße Summe ihrer Worte. Die Herausforderung bestände lediglich darin, reale Begebenheiten derart geschickt mit erdachten Behauptungen zu verknüpfen, dass sie ein roter Faden miteinander verbinden würde. Und zusammen würden sie dann ihre ganze Macht entfalten können.
Als Sedric Bedenken hinsichtlich der Durchführbarkeit anmeldete, erwiderte der Herrscher, dass jedwede Sorge unbegründet sei, denn er, der Wahnsinnige, würde sich immer etwas einfallen lassen, würde seine Fantasie blitzschnell jeder erdenklichen Situation anpassen und sie mit wohl gewählten Worten fortführen, bis das eindrucksvolle, noch nie dagewesene Ende einträte.
Und nun, sagte der Wahnsinnige, werde ich dir die Geschichte von der Zerstörung Tyradons erzählen, und du wirst sie wahr werden lassen.
Meine Güte … ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll, ich … Sedric standen Tränen in den Augen.
Niemand kann es mit meinem Einfallsreichtum aufnehmen, behauptete der Wahnsinnige.
Niemand!
***
Er stand jetzt direkt vor dem Mann. Der Alte schlief seelenruhig weiter, in völliger Ahnungslosigkeit, wer gerade neben ihm aufgetaucht war.
(Sprich mir nach: Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel, und schläfrige Stille herrschte in der kleinen Gasse vor, in der alles beginnen sollte. Welch befremdlicher Gedanke, dass ausgerechnet heute …
… der Untergang der Stadt sein würde! Und dennoch würden am Abend nur noch Asche, Trümmer und Staub von der einstigen Größe Tyradons künden.«
(Erschaffe dir eine Figur, tu es jetzt!)
Was, was?
(Einen Namen, gib ihm einen Namen!)
»Hallo, Egol!«
(Verflixt und zugenäht, warum ausgerechnet dieser Name! Wie soll ich daraus bloß etwas Brauchbares zurechtbiegen können!)
Ich bin komplett einfallslos, schon vergessen?, antwortete Sedric verärgert.
Der Alte öffnete die Augen und sah ihn mit getrübtem Blick an. Geplatzte Äderchen auf seinen Wangen zeugten unwiderlegbar davon, dass er dem Alkohol nicht gerade abgeneigt war. Zweifellos, es war derselbe Mann, mit dessen Hilfe er heute das Tor überwunden hatte.
»Egol?«
Der Blick des Alten wurde wacher, doch er schien weder Sedric, noch sein Gefolge wahrzunehmen.
Was ist mit ihm los, Wahnsinniger?
(Erkennst du das denn nicht? Egol wurde durch deine Worte zu einer Figur in deiner Geschichte. Und Charaktere in Geschichten ignorieren den Erzähler, fügen sich aber bedingungslos seinen Worten. Weiter, weiter! - Egol, der Maurer, saß vor dem Zunftgebäude der Bauhandwerker, als er jemandem begegnete …)
Donner. Blitz.
Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel, und schläfrige Stille herrschte in der kleinen Gasse vor, in der alles beginnen sollte. Welch befremdlicher Gedanke, dass ausgerechnet heute der Untergang der Stadt sein würde! Und dennoch würden am Abend nur noch Asche, Trümmer und Staub von der einstigen Größe Tyradons künden.
Egol, der Maurer, saß vor dem Zunftgebäude der Bauhandwerker, als er jemandem begegnete, an dessen Existenz er bis jetzt nicht recht geglaubt hatte. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder, all seine Müdigkeit fiel von ihm ab. Wie konnte das nur möglich sein?
Träumte er?
Vor ihm stand eine Kreatur wahrhaft abenteuerlichen Aussehens: Eine dunkle Wolke menschlicher Gestalt, in der Blitze hin und her zuckten. Weißflackernde Augen, umrandet von düstrer Substanz, gaben seinem Antlitz einen wahrhaft bedrohlichen Charakter.
Hatte er vielleicht doch zu viel getrunken?
»Verdammter Mist, schick den Hauptmann der Wolkenveteranen wieder zurück! Er wird hier alles verwüsten, nichts und niemand wird ihn kontrollieren können, nicht einmal ich!«, schrie Sedric.
(Still! Vergiss nicht, dass du gerade eine Geschichte erzählst. Jedes falsche Wort könnte die Erzählung in unkontrollierbare Bahnen lenken, also reiß dich zusammen!)
Glücklicherweise hatten weder Egol noch der plötzlich in der Realität erschienene Hauptmann Notiz von Sedrics Geschrei genommen - anscheinend ignorierten sie von vornherein Sachen, die nicht wirklich in die Handlung passten. Interessant.
Sein Herz raste vor Anspannung, als er neue Sätze in Empfang nahm, die alles fortführen sollten.
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Schweigend sah ihn der Wolkenmann an.
Der Ungläubige König hatte einst sein heiliges Standbild köpfen lassen und ihn für nichtexistent erklärt. Und dennoch, um wen sollte es sich denn sonst handeln, außer um Kydon, den toten Gott? Er war wiederauferstanden.
Egol nahm allen Mut zusammen, holte tief Luft und sprach ihn an.
»Kydon? G-Gott d-des Wetters, Herr der Blitze und Wolken?«
Das Wesen legte den Kopf schief und sagte: »Hört Ihr das nicht, alter Mann? Hört Ihr das … nicht?«
»Was?«
»Meine Krieger sind verstummt. Meine Männer sind nicht mehr da. Die Veteranen haben mich verlassen. Oh Jammer, oh weh! Was ist nur geschehen?«
Egol wusste keine Antwort darauf, aber er war vom Anblick des Gottes so eingenommen, dass er zu allem bereit war, nur um ihn zufrieden zu stellen.
»Eure … Eure Männer sind verschwunden? Braucht Ihr neue? Gern will ich Euch welche auftreiben.«
»Wie soll ich denn sonst den Marsch zu Ende spielen, alter Mann?« Die Augen des Gottes fingen gefährlich zu blitzen an. »Sputet Euch! Los! Das Orchester schweigt schon viel zu lange!«
Egol lief.
Rein ins Zunftgebäude.
Durch den Flur.
Sedric sah den Alten im Dunkel des Hauses verschwinden. Seltsam. Er war sich ziemlich sicher, dass bei seiner Ankunft noch kein großes Schild mit einem Zunftzeichen an der Tür geprangt hatte. Aber wie konnte es jetzt einfach so aus dem Nichts aufgetaucht sein? Oder hatte er es vorhin doch übersehen? Und vor allem: Was, bei allen gestörten Göttern, machte Egol jetzt im Zunfthaus?
(Frag nicht so dumm, du bist der Erzähler!)
Wohl wahr, aber ich kenne die Geschichte nicht, oh Wahnsinniger …
(Egol lief keuchend die Treppe hoch und dachte: …)
Sedric räusperte sich, warf einen unsicheren Blick auf den orchesterlosen Hauptmann und fuhr fort.
Was ihm während der nächsten Minuten auffiel, war Folgendes: Das Erzählen fiel um einiges leichter, wenn die handelnde Person nicht zu sehen war. Denn so stellte sich niemand mit unvorhersehbaren Handlungen den Worten entgegen, sodass er auch niemals gezwungen war, zu improvisieren oder anzugleichen. Und je länger Egol im Haus verweilte, desto absurder wurde die Geschichte.
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Ich muss es ihm erzählen, bei allen Göttern, er muss es unbedingt erfahren, dachte er, während er keuchend die Treppe hinauf hetzte.
Im Obergeschoss angekommen, wandte Egol sich nach rechts, passierte eine Tür und betrat das Zimmer seines Meisters Tom. Ein Glück, er war da.
Toms Aussehen gemahnte eher an einen Priester als einen Zunftmeister. Mit überkreuzten Beinen saß er auf einem Berg von Kissen, prächtige Gewänder, Pfeife im Mund. Stumpfen Blickes hob er den Kopf.
»Was ist denn, Egol? Irgendwelche Probleme?«
»Viel schlimmer. Ich hatte gerade eine Begegnung mit einem Gott.«
Tom fiel die Pfeife aus dem Mund.
»Verdammt … wirklich?«
Bestätigendes Nicken. »Für eine Einbildung viel zu echt und ungewöhnlich, und verrückt bin ich noch lange nicht.«
»Meine Güte … welchen? Kydon, Rajas oder Neya?«
»Kydon«, antwortete Egol, und in Toms Gesicht ging die Sonne auf.
Ächzend kam er auf die Beine. »Zeig ihn mir, Egol!«
Und so führte Egol seinen Meister zu einem Fenster, damit auch er Anteil am Glanz Kydons haben konnte.
Oh, welch Anblick! Einsam und doch wunderschön stand der Gott in der Gasse, wie eine Erinnerung an den Glanz vergangener Tage.
Sedric blickte zu dem Fenster, hinter dem die beiden aufgetaucht waren. Der Anblick Toms war derart befremdend, dass ihn leichtes Schwindelgefühl befiel. Soweit er es erkennen konnte, sah genau so aus, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Sogar die buschigen Augenbrauen waren da, obwohl er sie nie erwähnt hatte.
Weder er noch der Wahnsinnige hatten geahnt, dass sich im Zunftshaus ein Mann aufhielt, dessen Aussehen exakt auf jenen Charakter passte. Und dennoch existierte er. War er schon vorher dagewesen oder hatte ihn erst seine Geschichte zum Leben erweckt? Sedric schwirrte der Kopf.
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Tom stand der Mund offen.
»Beeindruckend, nicht?«, merkte Egol an. »Tom, er wollte Männer für ein Orchester haben, um einen … Marsch zu Ende zu spielen.«
»Seltsam. Aber Götter sprechen ja stets in Rätseln.«
»Könnte er vielleicht zurückgekehrt sein, um sich am Ungläubigen König zu rächen?«
»Ja, sehr gut möglich«, sagte Tom nach einer nachdenklichen Pause. »Und dafür würde er gewiss einige Gläubige brauchen, die für ihn alles kurz und klein schlagen.«
Tränen traten in seine Augen. »Ach, Egol! Wie lange habe ich auf diesen Tag gewartet, und jetzt ist er endlich da!«
Egol musste lächeln. »Soll ich das Horn der Götter holen, Tom? Wir müssen doch die Gläubigen irgendwie aus den Häusern locken.«
»Mach das.«
Das Horn der Götter. Früher waren damit die Menschen zu den Messen in die Goldene Zitadelle gerufen worden. Nachdem König Ciron die Stätte des Glaubens entweiht und die Priester vertrieben hatte, waren viele von ihnen als Handwerker und Gelehrte in der Stadt untergekommen. Tom war einer von ihnen gewesen. Langsam hatte er sich die Jahre hinaufgearbeitet, bis er schließlich an der Spitze der Zunft gestanden hatte. Und das Horn war die ganzen Jahre stets gut versteckt an seiner Seite gewesen.
Welch seltsamer Einfall, einen ehemaligen Priester an die Spitze einer Handwerkszunft zu setzen! Aber die Realität hatte an einer solchen Möglichkeit nichts auszusetzen gehabt, und so stellte auch er keine Fragen. Immerhin konnte Sedric jetzt ungefähr erahnen, welchen weiteren Weg die Geschichte beschreiten würde.
»Egol und sein Meister traten auf den Balkon des Hauses, Tom mit dem großen Horn in der Hand, Egol mit nichts als ein Lächeln im Gesicht«, erzählte er.
Wo ist dieser Balkon?
(Auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses. Einfach links die Gasse runter.)
Sedric ging in den Laufschritt über. Hommel und die Missgeburten folgten ihm.
Der Hauptmann blieb zurück, ahnungslos gefangen in einer Geschichte.
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Sommerliche Wärme empfing Egol und Tom wie eine liebende Mutter. Unter ihnen erstreckte sich der Königsplatz, ein schäbiger Flecken Existenz, von Bruchbuden eingerahmt, von Dreck und Scheiße beherrscht.
Sedric wollte schon unbekümmert um die Ecke rennen, als ihn der Wahnsinnige zurückhielt.
(Stopp! Ich habe ziemlich Heftiges vor, und mitten auf dem Platz würdest du nur im Wege sein …)
Sedric gehorchte, blieb stehen und begnügte sich damit, um den Mauervorsprung zu linsen.
Ein ungutes Gefühl machte sich breit. Auf dem Platz stand eine ganze Kompanie Soldaten. Ein paar deuteten auf etwas, das Sedric von seiner Position aus nicht sehen konnte, wahrscheinlich auf den Balkon. Eine Stimme erhob sich aus der Menge.
»Zunftmeister Tom«, brüllte sie, »die Stadt wird angegriffen, vom Todesfürsten im Norden, vom Wahnsinnigen im Süden! Letzterer muss hier irgendwo sein, habt Ihr ihn gesehen?«
Sedrics Herz setzte für einen Schlag aus. Wie war so etwas nur möglich, der Angriff war doch gar nicht Teil der Geschichte!
(Geschichtenerzählen ist schwerer, als ich dachte!), fluchte der Wahnsinnige. (Diese Männer befinden sich allem Anschein nach außerhalb der Handlung, was zu schweren Komplikationen führen könnte. Sedric, ich fürchte, dass du für diese Soldaten nicht unsichtbar sein wirst, wie gut, dass du dich -)
»Was brüllt Ihr denn so, ich verstehe kein Wort!«, schrie jemand vom Balkon.
Obwohl Sedric diese Stimme noch nie gehört hatte, wusste er sofort, wer hier gesprochen hatte. Diesmal brauchte er ihm die Worte nicht in den Mund zu legen. Diesmal redete Tom alleine.
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Es waren jede Menge Soldaten auf den Beinen, es wimmelte förmlich vor ihnen. Egol war etwas irritiert ob dieses Auflaufes, und seinem Meister erging es ähnlich. Verwirrt starrte er auf die Männer.
Doch halt, was war das? Brüllend erhob sich eine Stimme aus der Menge, unzweifelhaft an Tom gerichtet, jedoch wurden die Worte derart unverständlich hervorgestoßen, dass man nichts verstand.
»Was brüllt Ihr denn so, ich verstehe kein Wort!«, schrie Tom vom Balkon. »Was soll dieser Mist?«, fragte er leise an Egol gewandt. Als dieser nichts erwiderte, zuckte Tom die Achseln, setzte das Horn der Götter an die Lippen und blies.
(Sie können die Worte nicht verstehen, weil sie kein Teil der Geschichte sind, wie wunderbar!), freute sich der Herrscher, eine Sonne hinter den Augen. (Jetzt mache ich sie fertig, Sedric, jetzt stampfe ich sie in Grund und Boden!)
Und wie als Antwort auf die Worte des Wahnsinnigen erschallte der Ruf der Horns, fast so, als hätte der Herrscher selbst hineingeblasen, und Tyradon erzitterte förmlich unter der schieren Gewalt des Lautes.
Haruuuuuuuuuuuuuuuu, schallte es. Haruuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuu.
Es war der Schlachtruf seines Feldzuges gegen Stadt und König, und doch würden ihn die Menschen für etwas anderes, für etwas Besseres halten. Es war ein Schlachtruf, der der Macht und der Fantasie des Wahnsinnigen mehr als angemessen war, ein beispielloses Zeugnis seiner Stärke.
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Es war der Schlachtruf der Götter. Es war der Schlachtruf Kydons, der wiedergekehrt war, um die Herzen der Menschen mit neuer Hoffnung zu füllen. Und kaum war er verklungen, da schob sich schon ein Schatten vor die Sonne und der Herr der Blitze zeigte sich den zitternden Häschern des Königs in aller furchteinflößenden Pracht. Donnernd senkte er sich auf den Platz, die Arme ausgebreitet, die Augen so hell und gleißend, dass man den Blick abwenden musste, wollte man nicht geblendet werden.
Und mit ihm kamen die Menschen, die Gläubigen, Toms Zöglinge. Von allen Seiten strömten sie auf den Platz, zuerst noch wenige, dann immer mehr. Alte, Junge, Kräftige, Kranke, Irre, manche mit Fackeln in der Hand, manche mit fantasievollen Folterwerkzeugen, manche mit Messern und Degen und Keulen. Ein undisziplinierter Haufen, ein störrischer Mob, den nur eines einte: Der Glaube. Der fanatische Glaube.
Lange Zeit nach seiner Vertreibung aus der Zitadelle hatte Tom im Geheimen weitergepredigt, hatte Kontakte geknüpft, hatte für Widerstand gesorgt. Dieser Auflauf war das Ergebnis jahrelanger Arbeit. Endlich machten sich seine Mühen bezahlt.
Egol war von dieser Szene derart ergriffen, dass er keinen Ton rausbrachte. Doch Tom ließ sich nicht so leicht beeindrucken.
»Kydon!«, rief er, »hier habt Ihr Männer für Euer Orchester! Sie werden Euch blindlings gehorchen!«
Doch der Gott …
… achtete nicht auf seine Worte.
Er musterte interessiert einen Soldaten, der ein außergewöhnlich schönes Schwert zu bieten hatte. Der arme Mann wurde derart von seiner Angst beherrscht, dass er nur noch zitternd dastehen konnte.
Es war zum Verrücktwerden. Kaum befand sich der Hauptmann in Sedrics Sichtweite, war er nicht mehr zu kontrollieren. Sein wirres Geschwafel über die verlorenen Veteranen hatte der Wahnsinnige noch mit Mühe und Not in die Handlung integrieren können, aber das hier?
Sag dem Hauptmann, er soll mit diesem Blödsinn aufhören, ich bitte dich!
(Das ist nicht so einfach, Sedric. Er kann uns von hier aus nicht hören.)
Die Situation eskalierte.
Ein Pfeil schwirrte auf den Wolkenveteran zu, traf ihn, flog durch ihn durch, entzündete sich, setzte seinen Flug brennend fort …
… fand sein Ziel im Gesicht eines Gläubigen. Gurgelnd und Blut spritzend fiel der Mann in den Dreck, Schädelknochen barsten, Flammen züngelten aus Mund und Nase.
Ein Tumult brandete auf wie ein Sturm auf hoher See, zuerst nur wütende Schreie und Beschimpfungen gen Soldatenvolk, dann Handgreiflichkeiten, dann der Einsatz von Waffen.
Und was tat der Veteran? Nicht das, was Sedric oder Tom oder der Wahnsinnige von ihm erwarteten. Als die Wogen der Gewalt hochgingen und er erste Entsetzlichkeiten erblickte, da schrie er »Nein, kein Krieg, nicht schon wieder!«, kniete nieder und bedeckte seine Augen mit stummeligen Wolkenarmen.
Verdammt, sag mir, dass er das nicht getan hat!
(Himmel und Hölle, ich glaube es nicht!)
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Fassungslos starrten Egol und Tom auf die grausamen Szenen, die sich unten abspielten. Singender Stahl, rollende Köpfe, abgetrennte Arme, Schreie, Flüche und ein kniender Gott inmitten.
»Runter auf den Platz, Egol, mit Kydon stimmt etwas nicht. Daran sind diese Ungläubigen schuld - wie können sie es wagen, einen Gott mit Pfeilen zu beschießen?!«
Tom drehte sich um und rannte schnurstracks durch das Zunfthaus.
»Und was willst du jetzt machen?«, fragte Egol, der ihm keuchend hinterherlief.
»Mit ihm reden, was weiß ich … verdammt, dafür werden sie bezahlen!«
»Und du willst dich jetzt wirklich mitten in Kampfgetümmel stürzen? Himmel, Tom, du hast nicht einmal eine Waffe und ich bin zu alt, um -«
»Halt den Mund!«, fiel ihm Tom ins Wort. »Der Glaube wird unser Schild sein, der Glaube.«
Und wirklich: Als sie auf den Platz traten, da machten ihnen die Menschen den Weg frei, egal, ob sie gerade kämpften oder tot herumlagen. Wie Blätter wurden sie durcheinandergewirbelt, und Egol und sein Meister konnten sich einen Weg durch das Getümmel bahnen.
»Als sie auf den Platz traten, da machten ihnen die Menschen hastig den Weg frei, egal, ob sie gerade kämpften oder tot herumlagen«, erzählte Sedric, während er mit hastigen Handbewegungen die Missgeburten anwies, eine Schneise durch die flirrenden Leiber zu schlagen. Nachdem die Geschichte diese unvorhersehbare Wende genommen hatte, hatte er schnell handeln müssen.
(Sedric, sie kommen!)
Hinter ihm öffnete sich eine Tür und seine Protagonisten betraten die Kampfszene.
(Beschütze sie, sonst werden sie in Windeseile fallen.)
Er machte einen unmissverständlichen Wink zu seinen unansehnlichen Getreuen. Die Missgeburten machten sich heulend ans Werk.
Es war schon seltsam: Er war gezwungen, zwei Männer zu verteidigen, die ihn zwar nicht sehen konnten, welche aber ihrerseits von Soldaten bedroht wurden, die ihn, Sedric, in aller Pracht wahrnahmen. Was die Schergen des Königs natürlich nicht gerade friedlicher stimmte. Er hoffte, dass Eingriffe dieser Art bald nicht mehr nötig sein würden.
Ein besonders Waghalsiger stürzte auf Sedric zu und schrie: »Nieder mit dir, Wahnsinniger!«, während seine ahnungslosen Schützlinge drei Schritte hinter ihm durch die fliegenden Menschleiber schritten.
Tick Tack. Hommel trat in Aktion.
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Es wurde immer heftiger. Während zuvor nur Männer herumgewirbelt und umgestoßen worden waren, so wurden jetzt Herzen, Därme und Unterkiefer der im Wege Stehenden mit solcher brachialen Gewalt herausgerissen, dass Egol sich beherrschen musste, sich nicht lauthals zu übergeben. Nicht einmal ihre Rüstungen schützten die Männer vor dieser neuen unsichtbaren Macht. Kreischend bohrte sie sich durchs Metall, fasste wuchtig nach den Innereien und fetzte sie heraus.
Links ein Soldat mit erhobenen Schwert, einen Wimpernschlag später ohne Herz, rechts ein Mann mit Bogen, einen Moment später ohne Kopf. Er war einfach auf den Schultern zerplatzt. Schreie, brechendes Metall, herumfliegende Organe, flüchtende Soldaten, fassungslose Gläubige. Meine Güte, was für ein Schecken!
Doch als sie bei Kydon eintrafen, der noch immer inmitten des Trubels kniete, da machte sich so etwas wie Ruhe breit. Kydon bildete das Auge des Sturms.
Tom, leichenblass und besudelt vom Blut Fremder, begann mit ihm zu reden.
Natürlich hörte der Wolkenveteran nicht zu. Er war das Bindeglied zwischen Geschichte und Wirklichkeit, da benötigte es schon klare, laute Worte des Wahnsinnigen, um ihn zur Vernunft zu bringen.
»Hauptmann, hier spricht dein Oberbefehlshaber, der Wahnsinnige. Erhebe dich und führe die Gläubigen zur Burg des Königs«, befahl Sedric, während Egol und Tom ihm ahnungslos gegenüberstanden. Um sie herum war noch immer das reinste Chaos in Gange, Missgeburten droschen besinnungslos auf die Menschen ein, Hommel war kaum wahrzunehmen, so schnell mordete er sich durch die Menge …
Meine Güte, bald falle ich in Ohnmacht, dachte Sedric und richtete seinen Blick wieder auf den Veteran.
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Toms Worte schienen Wirkung zu zeigen. Kydon nahm die Arme von den Augen und erhob sich.
»Kriege, Schlachten, ich habe genug davon«, wisperte er, während er sich langsam in die Lüfte schraubte. »Aber wenn Ihr es sagt, werde ich es noch einmal wagen.«
Von einem Moment auf den anderen verebbten die Kämpfe, und die letzten Soldaten nutzten die Gelegenheit und nahmen Reißaus.
Unter den Gläubigen brach frenetischer Jubel aus. Sie tanzten, schnitten sich jauchzend ins eigene Fleisch, legten sich demütig vor Kydon in den Dreck. Ein paar Übermütige warfen Fackeln auf die Strohdächer der Häuser, die sofort Feuer fingen.
»Führe uns«, sagte Tom zu dem Gott. Und dieser zauderte nicht länger.
Es ging los. Der Wolkenveteran schwebte geisterhaft Richtung Burg, und die Gläubigen, allen voran Egol und Tom, folgten ihm. Sedric setzte sein Gefolge ebenfalls in Bewegung, der unsichtbare Kerntrupp einer Fanatiker-Armee. Immer wieder stießen Männer im Gedränge mit den Missgeburten zusammen, fielen hin, blickten entgeistert umher, störten sich aber sonst nicht weiter dran.
Sedric war zufrieden.
(Ich glaube nicht, dass du noch oft wirst eingreifen müssen. Die Geschichte wird sich selbst zu Ende erzählen. Schau zu und genieße es.)
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Wie beschreibt man das absolute Gemetzel? Sollte man vielleicht erwähnen, dass sich die Unruhen langsam auf die ganze Stadt ausbreiteten, dass sich Flammen, Geschrei und Tod durch die Straßen fraßen wie eine unaufhaltsame Flutwelle aus Blut und Angst, während der harte Kern weiter auf die Burg zustürmte? Oder sollte man sich nur auf Egol beschränken, dem Mann, mit dem alles begann?
Egols Sicht der Dinge dürfte reichen.
Vollauf.
•••
Seine alten Knochen schmerzten schon nach den ersten Schritten, doch die Masse brüllender Gläubiger machte aus ihm ein Stück Treibholz, das hilflos den Fluss hinunterschlingert.
Es war grauenvoll.
Schlimme Eindrücke kündigten sich drohend an - keine Chance, zu entkommen! -, explodierten dann in einem Schwall aus Entsetzlichkeiten und wummerten noch grausam nach, während bereits der nächste Schrecken an die Tür klopfte.
Dunkle Gasse voraus. Dreck, Kot, Fliegen, ein toter Hund. Verwahrloster Mann am Boden. Kydon erlöste ihn mit einem Blitzschlag, der so laut zwischen den Wänden widerhallte, dass es kaum auszuhalten war. Verbrannter Fleischgeruch.
Meine Güte, der arme Mann, was hat er denn getan …?
Eine Tür öffnete sich linkerseits von Egol, verschlafener Kerl schaute verdattert auf die Armee. Rostiger Eisendorn ins Genick beendete sein Schauen für immer. Wimmernd brach er zusammen.
Ich kann gar nicht hinsehen, dachte Egol, und tat es doch.
Eine Hure an der Ecke, verkatert von letzter Nacht oder ausgelaugt vom letzten Fick. An die fünfzig Männer stürzten sich auf sie. Zerfetzte Kleidungsstücke. Schreie. Weiter ging‘s.
Nein, sie sollen doch nicht die Menschen geißeln, sie sollen …
Lachende Irre mit zerschnittenen, blutverschmierten Gesichtern machten sich daran, an jeder Ecke Feuer zu legen, und das trockene Holz der Bruchbuden ging dankbar in Flammen auf, während das Morden unvermindert weiterging.
Nicht die Stadt niederbrennen, sie sollen doch den König stürzen!
Endlich ein Mann, der Ähnlichkeit mit einem Soldaten hatte. Perplex starrte er auf die heranstürmende Armee. Dann ein Hieb ins Gesicht, ein Schlag in die Weichteile, ein Stich in den Magen, Feuer in den Haaren, Prügel, bis kein Leben mehr drin war. Zur falschen Zeit am falschen Ort, armer Junge. Weiter ging‘s.
Ein Alptraum, das alles muss ein entsetzlicher Alptraum sein …
Doch es war keiner. Und es wurde noch schlimmer.
•••
Bestien. Wer hatte die denn freigelassen? Im Durcheinander konnte Egol armlange Grabkäfer, kleine, aggressive Schnabeldrachen und reißzahnbewehrte Dunkelwürmer ausmachen. Krabbelnd, fliegend und windend machten sie keinen großen Unterschied drum, ob sie gerade einen Gläubigen, einen Soldaten oder ein Kind beharkten.
Straße voraus, neue Düsternis, neuer Schrecken. Toter am Wegesrand, das Gesicht zerfressen, Krümmender am Boden, die Därme ausgebreitet neben ihm, weinende Frau an der Ecke, die Brüste aufgeschnitten, ein fliegendes Schwert am Himmel, abgetrennte Hand am Heft, ein halber Kopf, der traurig in der Scheiße lag, blutiger Greis, der heulend nach seiner Mutter rief; Gebrüll, Geschrei, Parolen, Gestank, fliegende Pfeile -
Bogenschützen voraus!
Der Gott rutschte wieder in sein Blickfeld, als er den Blick nach vorn richtete. Egol war mittlerweile so weit zurückgefallen, dass er das Geschehen an der Spitze nicht mehr genau mitverfolgen konnte. Er sah nur, dass der Gott die Arme ausbreitete …
Und Dutzende rasch geschleuderte Kugelblitze ließ keinen Zweifel an seiner Macht. Irrläufer setzten noch ein Badehaus in Brand, Nackte liefen um ihr Leben. Danach stieg Kydon höher und höher …
Manchmal kommt die Wende so plötzlich, dass selbst der Erzähler überrascht ist von der baren Wucht der Ereignisse. Später, wenn er daran zurückdachte, musste er sich schmerzlich eingestehen, dass diese Aktion letztlich den entscheidenden Impuls zu seiner völligen Niederlage gegeben hatte. Es ging derart schnell, dass er die Szene hätte dreimal lesen müssen, wenn sie in einer Geschichte gestanden hätte:
Kurz, nachdem er die verkohlten Skelette der Bogenschützen passiert hatte, trat ein prächtig gekleideter Mann aus dem Schatten eines heruntergekommenen Hauses hervor …
Himmel, den kenne ich doch!
hob seinen rechten Arm …
(Wie kann er es wagen!)
nahm den Wolkenveteran ins Visier …
Was zum …?
und brüllte: »KYR!«
Der Hauptmann hatte keine Zeit, zu reagieren. Der Blitz des Magiers traf ihn genau ins Gesicht, ließ es rötlich aufleuchten, Wasserdampf stob in alle Richtungen. Ein infernalisches Heulen brandete auf, in dem Wut, Überraschung und Schmerz des Veteranen in schauervoller Eintracht sangen. Ein paar Augenblicke verband ein gleißender Lichtstrahl die beiden Kontrahenten, dann wurde der zuckende Wolkenmann immer durchsichtiger und verschwand schließlich ganz vom Antlitz der Welt.
Nein, bitte nicht!
(Nein! Nein! Nein!)
Schick ihn wieder zurück, Wahnsinniger!
(Vergiss es! Ich müsste ihn erst wiedererwecken, und das würde viel zu lange dauern. Der Magier hat uns unseres wichtigsten Protagonisten beraubt. Alle Handlungsfäden, die ich erdachte, nahmen ihren Anfang bei ihm, alles stützte sich auf ihn. Jetzt ist es vorbei.)
Manche Wenden sind so heftig, dass sie eine Geschichte umbringen können. Das Unerzählte verpuffte, ohne dass es jemals umgesetzt worden war.
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… und fing immer schneller zu fliegen an, sodass es schwer wurde, ihm zu folgen. Doch Egol hielt tapfer durch. Und endlich, nach schier unbegreiflichem Grauen, erschien die Burg des Ungläubigen vor den Augen der frommen Krieger.
Schreiend stürmten sie ihr entgegen, der Gott allen voraus, Schwerter sangen, Blut floss. Es war ein harter Kampf, doch der Glaube schien die Frommen zu stählen, half ihnen über die Schrecken hinweg.
Nachdem sie die letzten Verteidiger in die Flucht geschlagen hatten, zerrten sie den zitternden König vor das Antlitz des Blitzgottes.
Doch Kydon der Gütige ersparte ihm die göttliche Rache und überließ ihn den Gläubigen, die ihn nach stundenlanger Marter endlich den Flammen der brennenden Stadt übergaben.
Egol und Tom waren zufrieden. Der Glaube hatte in Tyradon wieder Oberhand gewonnen.
Auch wenn nur verkohlte Überreste und Asche von der einstigen Pracht übriggeblieben waren.
Sedric kochte vor Wut. Der verfluchte Magier hatte nach seiner Tat die allgemeine Verwirrung genutzt und das Weite gesucht. Es war ihm sehr danach, dem Mann die Haut abzuziehen. Vielleicht konnte der Wahnsinnige ja Dämonen aus der Hölle rufen, um seine Qualen vollkommen zu machen …
»Zeige dich, verhurter Magier!«, schrie er wie von Sinnen. Er befand sich an einer Kreuzung, doch in allen vier Richtungen waren nur Verwirrte und Flüchtende auszumachen. Nirgendwo ein Sohn der Elemente, nirgendwo ein Kyr-ra-ney.
Verflucht!
»Zeige dich!« Seine Stimme überschlug sich fast.
Da!
Wie auf Befehl erschienen drei Männer auf der südlichen Straße, kamen langsam auf ihn zu. Sedric erstarrte. Der Blitzmagier war unter ihnen. Und jemand anderes auch.
»Wen von uns meinst du denn?«, fragte Asél. »Mich …
… oder Kai, unseren glorreichen Kyr?«
***
Asél bot einen furchtbaren Anblick. Das Auge, das er mit seinen langen Fingernägeln mehr ihn der Mitte durchtrennt als ausgerissen hatte, bewegte sich blutend in der Höhle. Die Gesichtspartien drumherum waren bläulich geschwollen, sein einstmals prächtiger Umhang war zerrissen und kotverschmiert. Der Armstumpf war wieder aufgebrochen.
Die Missgeburten hoben drohend ihre Knochenscheren und gingen in Stellung.
»Hast du denn noch immer nicht genug, Asél?«, fragte Sedric. Er ließ sich seine Unsicherheit nicht anmerken.
Asél stellte sich breitbeinig hin, blickte zu seinen Kampfgefährten - ein anderer Magier hatte den toten Janus ersetzt - und setzte zu einer beispiellosen Hasstirade an.
»Da stierst du blöd, nicht wahr, du Arschloch einer Sau? Scheiße! Überall Scheiße!« Asél deutete auf die blutige Augenhöhle. »Und Schmerz - oh Hurensohn! - Schmerz!
Meine geliebte Möse von Frau hat mich gerettet. Sie hat willig ihre Schenkel gespreizt und ich habe sie gleich in der Gasse genommen, verkrüppelt wie ich war. Diese herrliche, feuchtwarme Zuflucht … all meine Kräfte kehrten augenblicklich zurück. Weißt du überhaupt, was eine Fotze ist, Wahnsinniger?«
»Seht nur, er wird rot wie eine Jungfrau«, bemerkte Kai.
(Soll ich dir den Schwanz auch ausreißen lassen, Krüppel?)
»Soll ich dir den Schwanz auch ausreißen lassen, Krüppel?«
Einen Tick zu schnell, um gelassen zu klingen. Mist.
»Halt dein Drecksmaul. Kommt, Männer! Diesmal hören wir nicht auf, ehe er zu Asche verbrannt ist!«
Sedric wollte flüchten, aber es war zu spät.
»Kyr!«
»Ra!«
»Ney!«
»Kyr! - Ra! - Ney! - Kyr! - Ra! - Ney!«
Feuer, Blitz, Eis, Blitz, Eis, Feuer, Eis, Blitz, Feuer, in allen Variationen, in allen Stärken. Inferno-Schlangen schlugen zuckend auf ihn ein, Stürme zerrten an ihm, verästelte, pulsierende und zuckende Entladungen traktierten seine Rüstung. Blau, weiß, rot, blau-weiß-rot, blauweißrot. Eine Spirale, ein Wirbel. Tanzende Dämonen im Schneesturm vor irr flackerndem Grund. Und dieses Heulen! Nichts schien ihn davor schützen zu können, dieses infernalische, trommelfellzerfetzende Lied des Schmerzes, das die entfesselten Elemente sangen.
Sedric taumelte, Sedric stürzte, Sedric -
Ein Wruuuuum, auf dass einem der Magen in fremde Gefilde wandert - Verdammter Mist was mach ich denn jetzt sag doch was oh Wahnsinniger bitte sag doch was es ist kalt kalt kalt so beißend kalt - Ein Blamm, hart und hell - Aaaaaaaaaaaaah meine Augen hilf mir doch es blendet so es blendet so ich bin blind für immer blind - Ein Rommmms, lodernder Hass - Wo ist überhaupt oben und unten und alles voller Flammen ich verbrenne noch in der Rüstung es ist so unerträglich heiß ich will hier raus - Ein Klinklinklink, metallisch, reißend - Zusammenkauern wird wohl das Beste sein ja zusammenkauern und alles über mich ergehen lassen ja wie ein Säugling im Mutterleib oh Wahnsinniger Wahnsinniger Wahnsinniger Wahnsinniger (SEDRIC! Beruhige dich, ich werde noch ganz kirre von deinen Gedanken!) - Ein Ratatatatat, ein enervierendes Ratatatatat, das Knochen zum Schütteln bringt und Zähne klackend aufeinander schlagen lässt - Da bist du ja oh gepriesen seiest du oh Wahnsinniger was soll ich nur machen ich sie vernichten mich ich sterbe hilf doch - Ein Szzzzzzzzjumm, schmerzhaft und gemein, als würde ein Messer durch den Gehörgang getrieben - NeineineinhörtaufhörtdocheinfachaufihrBastarde!
Einen Augenblick nach der rettenden unwiderlegbaren Behauptung, die er mit letzten panisch röchelnden Atemzügen ausgesprochen hatte, war sein Erlöser da.
***
Schreie
Waffengeklirre
Magische Entladungen, gefolgt von
einem wütenden Bienenschwarm
(Rückzugsparolen, entfernt)
Dann: Stille
Anscheinend hat sie ihre Zauberkraft eingebüßt, Kevano lebt noch, obwohl er mich berührt hat …
Doch um über die Konsequenzen dieser unglücklichen Fügung nachzudenken, fehlte ihm jetzt die Kraft. Dankbar wandte er sich Kevano zu. Der Todesfürst sah aus wie immer: federbewehrter Hut, weißer Überrock, Lächeln im Gesicht. Keine Kratzer oder Blutflecken, nichts. Kaum zu glauben, dass dieser Mann einen ähnlich verbissen umkämpften Weg hinter sich hatte wie er.
Nein, hat er nicht. Ich bin schon ziemlich weit im Norden.
»Bei allen toten Göttern, Sedric, was macht Ihr nur für Sachen?«, hob Kevano an. »Die halbe Stadt brennt, Irre meucheln sich durch die Straßen, heftige Blitzentladungen auf ebener Erde, donnernde Schlachthörner, die Zitadelle in Flammen … Meine Güte, wart Ihr allein dafür verantwortlich?«
Wo bist du Wahnsinniger?
(Dort, wo ich immer sein sollte, warum fragst du?)
»Ich … ich … ja, das war mein Werk.«
Kevano zog eine Augenbraue hoch. »Fürwahr. Wie konnte ich nur daran zweifeln. Überaus beeindruckend, wie ich eingestehen muss. Wo ist das Medaillon und was habt Ihr mit den Alchimisten gemacht?«
Die Alchimisten! In all dem Trubel hatte er sie völlig vergessen!
(Drei fielen beim Gemetzel auf der Hauptstraße, der Rest stirbt gerade den Flammentod … jetzt sind alle tot. Bedauerlich.)
Sedric fiel ein Stein vom Herzen. Danke, Wahnsinniger. Ohne dich bin ich nichts.
»Macht Euch keine Sorgen über die Alchimisten, Kevano. Flammen und Gewalt nahmen sie, niemand ist mehr am Leben.«
Da war es wieder, jenes seltsame Gefühl, das kurz nach einer unhaltbaren Behauptung auftauchte … als würde ihn gleich die Hand eines Riesen packen und zerquetschen.
(Kämpfe dagegen an, Sedric! Schieb ein paar Behauptungen hinterher, die deine Aussage untermauern! Das wird die Realität besänftigen!)
Kevano runzelte die Stirn. Weit entfernt kam wieder Schlachtenlärm auf.
»S-selbstverständlich nicht alle, ein paar sitzen ja in Eurer Festung. Drei starben durch meinen Diener Hommel, er hat ihnen die Herzen rausgerissen. Die Häuser der restlichen sieben hat der Pöbel angezündet. Ich glaube nicht, dass jemand flüchten konnten. Männer des Königs hatten einen schweren Stand.«
Die Hand des Riesen zog sich zurück, und Kevano lächelte. Sedric ebenfalls. Allmählich bekam er den Dreh raus.
»Gut gemacht, ich bin sehr zufrieden. Wo ist das Medaillon?«
»Später. Habt Ihr die Festung einnehmen können?«
Auf Kevanos Gesicht schlich sich ein merkwürdiger Ausdruck. Die Toten um ihn und Sedric verringerten den Abstand. Metallklirren, Rascheln. Die Schattenkrümmer summten wie Bienenschwärme.
»Ich glaube es wird Zeit, dass Ihr die Wahrheit erfährt, Sedric.« Kevano grinste verschmitzt. »Es wird Euch nicht gefallen.«
***
»Ich konnte die Festung nicht erobern. Ich habe es versucht, ja, aber der Widerstand war zu stark. Wir müssen es zusammen probieren.«
(Dieser Versager!)
Vor Sedrics geistigem Auge tauchten Bilder einer kommenden, scheinbar unvermeidbaren Schlacht auf. Blut auf den Zinnen, abgetrennte Häupter in den Straßen … mit diesen Eindrücken vor Augen und den schrecklichen Ereignissen des vergangenen Tages im Hinterkopf regte sich unerwartet Widerstand. Er war völlig fertig. Ob er in diesem Zustand überhaupt noch Missgeburten rufen konnte? Was, wenn keine mehr übriggeblieben waren? Und, vor allem: Was, wenn er die kommenden Grausamkeiten nicht ertragen konnte? Er war ein Mann, der alleine und wohlbehütet in einem Waldschloss aufgewachsen war, kein abgebrühter Krieger, der alles wegsteckte.
»Vergesst es, Kevano. Wir können von Glück reden, wenn wir überhaupt noch aus der Stadt rauskommen.«
Und dann, plötzlich, völlig unvorhergesehen, krachte es an der Außenseite der Mauer aus Untoten, die Sedric und den Todesfürsten umgab. Knochen splitterten.
»Er kommt«, sagte Kevano.
***
Sedric wirbelte herum. Asél. Wer sonst. Und er war allein. Der Angriff von Kevanos Getreuen hatte ihm zugesetzt, aber sein fanatischer Kampfeswille war ungebrochen. Seine linke Gesichtshälfte sah aus, als wäre sie geschmolzen worden. Sedric stellte sich einen Schattenkrümmer vor, der gierig das Blut aus der Höhle saugte …
Dann ging alles ganz schnell. Kevano machte eine weit ausholende Geste, kurz hatte Sedric den Wahnsinnigen vor Augen, der fluchend Sterne im Glaspalast säte, dann ging dieses Bild wieder auf den Todesfürsten über, der mit fließenden Handbewegungen einen Speer aus purem Licht beschwor - schimmerndes, strahlendes Mondlicht. Die Untoten wichen von Asél zurück. Dann: Ein Lichtblitz, ein Knall, und Sedrics alter Feind verschwand in einer Wolke aus Blut. Ein Augenblick, der sich scheinbar ewig fortsetzte.
Zack!
Kevanos Hände schnellten nach vor und fingen zwei unförmige Stäbe auf.
Als Sedric genauer hinsah, überkam ihn Schauer.
»Knochenzieherfluch«, bemerkte Kevano trocken und übergab Aséls Oberschenkelknochen einem Skelett, das offensichtlich schon begierig darauf gewartet hatte. »Der steht nie wieder auf.«
Die feine rote Nebel lichtete sich und Sedric verspürte ein irres Bedürfnis, zu lachen. Aséls Füße inklusive Unterschenkel standen unbehelligt auf der Straße, fast so, als würden sie jeden Moment wieder losspurten können, um ihren Herren abermals ins Gefecht zu tragen. Die traurigen Überreste des Magiers lagen wie ein Mahnmal hinter ihnen. Die Untoten schlossen erneut den Ring um sie und nahmen ihm die Sicht.
***
Kevano nahm den Faden wieder auf, als wäre nichts geschehen. »Ihr wollt also nicht mit mir die Festung des Königs stürmen?«
»Ihr versteht nicht, es ist mir einfach nicht möglich, einen weiteren Angriff zu führen.«
Und darauf folgte etwas, mit dem Sedric in seinen kühnsten Träumen nicht gerechnet hatte.
»Ich hätte wissen müssen, dass man sich auf Euch nicht verlassen kann, Wahnsinniger.«
Das …
Das
(Ich wusste, dass jemand wie ER niemals dein Freund sein würde, Sedric. Er hat dir die ganze Zeit etwas vorgemacht, dich benutzt. Jetzt, da du nichts mehr für ihn wert bist, verliert er den Respekt, beleidigt dich aufs Abscheulichste. Töte ihn. Töte ihn für mich. Töte ihn in meinem Namen.)
Kevanos Augen weiteten sich vor Schreck. Bot Sedric jetzt so einen furchterregenden Anblick? Hatte der Todesfürst am Ende gar nicht mit einer solchen Reaktion gerechnet? Er würde es nie erfahren.
Sie spuckten ihn an und er strampelte noch immer in der Scheiße, konnte sich kaum an der Oberfläche halten. Doch auf einmal hatte das demütigende Spiel ein Ende - seine Peiniger stoben auseinander und machten Platz für einen grimmigen Mann in goldener Robe.
Meister Beyon! Wo war der denn hergekommen? Asél war sich doch sicher gewesen, dass -
(Ich habe Beyon gerufen, damit er dir hilft.) Eine leise, undefinierbare Stimme in seinem Kopf. Sedrics Verwunderung kannte keine Grenzen.
Wer bist du?, fragte er in Gedanken.
(Ich weiß es nicht), sagte die Stimme. (Das musst du mir sagen.)
»Die Schlagader, die dein Gehirn versorgt, Dreckiger, wurde von einem Blutgerinnsel verschlossen. Dein Tod ist nahe, und bald - sehr bald! - wirst du elendiglich verrecken. Grüße die Dämonen in der Hölle von mir. Niemand kann es mit meinem Einfallsreichtum aufnehmen.« Den letzten Satz hatte er einfach unreflektiert übernommen. Einerlei.
Und Kevano sah ihn an, und grenzenlose Verwirrung spiegelte sich in seiner Miene wider. Erinnerungen an Asél kamen auf. Diese Bastarde waren doch alle gleich. Doch dann schlich sich ein niederträchtiges Grinsen in das Gesicht des Todesfürsten, wie bei einem kleinen Jungen, der erst jetzt alle Zusammenhänge begriffen hatte, und er sagte leise und hämisch:
»Unmöglich. Völlig unmöglich, Wahnsinniger.«
Und! dann! kam! der! Schmerz. So schnell und gnadenlos, dass er erst gar keine Gelegenheit hatte, irgendetwas dagegen zu unternehmen. Schlimmer. Viel schlimmer als beim letzten Mal. Glühend' Axt / waidwund / reißen / fetzen / brühen … Ein Schmerz, vor dem die Sprache kapitulierte. Unhaltbar, unhaltbar, sangen dämonische Stimmen kummervoll, und Sedric wusste nicht, ob sie Wirklichkeit waren oder er vollkommen verrückt geworden war.
Er schrie aus Leibeskräften, hielt inne, um sich zu übergeben, fing wieder zu schreien an. Und ganz leise hörte er das Klagen des Wahnsinnigen, das immer schwächer wurde und dann ganz verschwand. Dass er ihn das letzte Mal für lange Zeit vernommen hatte, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Er fragte sich nur immerzu, warum diese allerletzte Behauptung nicht gezündet hatte.
***
…
***
Er lebte noch. Allen gestörten Göttern zum Dank, er lebte noch. Die schrecklichen Schmerzen klangen ab. Langsam drehte er sich auf den Bauch und registrierte dabei, dass ihm jemand etwas Schweres um den Hals gehängt hatte.
»Endlich habt Ihr aufgehört. Meine Güte, ich war sicher, dass gleich Dämonen auftauchen würden, so laut habt Ihr geschrien. Ich habe sie förmlich gespürt. Wie gut, dass ich das unterbinden konnte.«
Dämonen … gut möglich, dass sie ihm hatten helfen wollten. Der Wahnsinnige hatte immer gute Kontakte zur Hölle besessen. Nur warum waren sie letztendlich nicht erschienen?
Wahnsinniger? Wo bist du?
Nur Leere hinter den Augen.
Er erhob sich auf seine Knie. Nun konnte er den Gegenstand, der ihm am Hals baumelte, nicht mehr ignorieren. Mit fahrigen Fingern ertastete er ein hühnereigroßes Objekt, das an einer enganliegenden Kette befestigt war.
Sedrics Verwirrung kannte erst keine Grenzen; doch dann stieg es siedend heiß in ihm auf. Das war doch nicht möglich!
»Ist das vielleicht das -«
»Ja, das ist das Medaillon, das Ihr suchen solltet. Die Sache hatte nur einen Haken: Es war die ganze Zeit bei mir.« Kevano wies auf eines seiner Skelette und fing zu lachen an. »Seht es doch positiv: Jetzt habt Ihr es gefunden.«
»Aber woher …«
»Stellt Euch nicht dümmer, als Ihr seid! Ich hatte es schon, als Ihr mich besuchtet. Meine Getreuen brachten es damals zusammen mit den Alchimisten aus der Stadt. Ich erkannte, welche Gefahren es barg, und ich musste sichergehen, dass kein zweites hergestellt werden konnte.«
Jetzt wusste er, wieso die Behauptung in der Goldenen Zitadelle nicht der Wahrheit entsprochen hatte. Wenn er näher darüber nachdachte, musste er sich eingestehen, dass er viel zu vertrauensselig agiert hatte. Der Wahnsinnige hatte dem Todesfürsten nie getraut, doch er, Sedric, hatte stets alle Bedenken achtlos beiseite gewischt. Seine Hoffnung auf Freundschaft hatte einfach alles überdeckt. Was für ein Narr er doch gewesen war!
»Ich wusste natürlich, dass ich es alleine niemals schaffen würde, seine Erschaffer zur Strecke zu bringen«, sagte Kevano. »Und hier kamt Ihr ins Spiel. Der berühmte Wahnsinnige mit seinen außergewöhnlichen Kräften. Ich musste nur noch einen Anreiz für Euch schaffen, damit Ihr Euch mir anschließen würdet. Das Medaillon und Eure Angst vor Schwäche kamen mir da sehr gelegen. Ich behauptete, es befände sich noch in der Stadt, wohlwissend, dass Ihr auf der Suche danach wie ein Berserker wüten würdet. Und das konnte für meine Ziele nicht abträglich sein.
Und ich wurde nicht enttäuscht. Alle zehn verbliebenen Alchimisten umgebracht, Tyradon in Schutt und Asche, unglaublich. Ihr könnt diese … Wahrheiten nur ohne schmerzvolle Bestrafung aussprechen, wenn sie tatsächlich der Wirklichkeit entsprechen, stimmt‘s?«
Sedric nickte nur matt in der Stunde seiner größten Schande.
»Himmel, wisst Ihr überhaupt, was Ihr getan habt? Ihr habt sie mit ein paar Worten umgebracht! Mit Worten! Ist sie das, die Macht des Wahnsinns? Bravo und vivat!«
Kevano führte einen lächerlichen Tanz auf, und Sedric wollte am liebsten im Dreck versinken.
»Nur mein Plan hatte einen Haken: Was sollte mit Euch nach der gewonnen Schlacht geschehen? Denn nach diesem Tag sollte eigentlich niemand mehr übrig sein, der es mit mir aufnehmen konnte. Also musste ich Euch töten, am besten, nachdem wir die Festung eingenommen hatten. Ich nahm das Medaillon mit, wohlwissend, dass ich es in der finalen Auseinandersetzung mit Euch benötigen würde.« Geringschätziger Gesichtsausdruck. »Dass Ihr es mir so leicht machen würdet, konnte ich ja nicht ahnen. Blutgerinnsel im Gehirn. So ein Schwachsinn!«
Er beugte sich zu Sedric hinunter.
»Ich verrate Euch etwas - aber nicht weitersagen! Gehässiges Lachen. »Nun - ich habe kein Gehirn.«
Er hat
kein Gehirn.
kein Gehirn.
kein Gehirn.
***
»Sagt Eure letzten Worte, Wahnsinniger.« Seine Hände schimmerten silbern und die Luft flimmerte.
Da hörte Sedric ein Flüstern in seinem Ohr, fern, wie aus einer anderen Welt: »Sagt ihm, dass seine Familie hier ist. Sagt ihm, dass wir ihn holen kommen. Schnell!«
Sedric blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Doch dann nahm er sich zusammen, klammerte sich an diesen letzten Funken Hoffnung, den er noch hatte, und warf Kevano die Worte an den Kopf, als wären sie vom Wahnsinnigen persönlich gekommen.
»Spürst du das, Kevano? Sie sind hier. Alle, die ganze Familie. Und sie sind gekommen, um dich zu holen.«
»Hört auf mit diesen albernen Behauptungen!«
»Das ist keine Behauptung, das ist die Wahrheit!«, schrie Sedric. Und dann brach die Hölle los.
Ein Schwall heißer Luft stürzte sich brüllend auf den Todesfürsten. Kevano taumelte, schlug wild um sich. Seine Skelette zuckten panisch, einige zerfielen, die Schattenkrümmer ergriffen summend die Flucht.
Die Geister seiner Familie zogen an seinen Mundwinkeln - Kevano lächelte unfreiwillig -, die Geister rüttelten an ihm - Kevano zitterte. Dann rissen sie ihm die Haut vom Kopf. Kein Blut, kein Fleisch waren darunter. Nur rauchförmige, bläulich schimmernde Substanz auf … weißem Totenschädel. Fetzen seiner Kleider wirbelten herum, lösten sich in Nichts auf. Sein Hut fiel auf die Straße und verschwand, die Feder wippte noch einmal, dann war auch sie verschwunden. Und Kevano schrie und schrie und seine Schreie hatten nichts Menschliches mehr an sich.
Doch dann fing er sich wieder. Wütend schlug er nach seinen unsichtbaren Feinden, silberne Strahlen schossen durch die Luft. Mittlerweile war nichts mehr von seiner einst so lebendigen Verkleidung übriggeblieben. Er war nur noch ein leuchtendes Skelett inmitten blauen Nebels. Dann: ein Blitz, ein Knall, und er stand reglos, verharrend, da, als wäre er sich nicht sicher, ob er sie vertrieben hatte.
Ein Heulen kam auf.
Er sah Sedric noch einmal mit seinen abgrundtief schwarzen Augenhöhlen an, dann drehte er sich um und lief mit aberwitziger Geschwindigkeit davon.
Geschichtenerzähler verbreiteten später, dass er, verfolgt von schreienden Totengeistern, wie ein Sturm nordwärts gefegt war, und nichts hatte ihn aufhalten können. Dann: Tor passiert. Dann: Ward nicht mehr gesehen.
***
»Macht Euch keine Sorgen«, flüsterte es, »wir werden schon mit ihm fertig werden.« Ein Geist war anscheinend zurückgeblieben.
»Warum … warum habt ihr mir geholfen?«
»Jeder, der gegen Kevano ist, ist unser Freund. Nachdem Ihr die Seite gewechselt hattet, mussten wir Euch unterstützen. Wir hatten schon den ganzen Tag auf einen günstigen Moment für den Angriff gewartet. Bedauerlich, dass Ihr Euch so blind auf den Wahnsinnigen verlassen habt. Seine Arroganz hat letztlich alles zunichte gemacht. Ihr hättet das Potential gehabt, Kevano vernichten zu können.«
»Ihr kennt den Wahnsinnigen?«
Ein Lachen. »Ich war zu Gast beim Fest in der Gestörten Welt. - Einerlei. Sedric, bald werden Soldaten vorbeikommen. Ich kann Euch zwar nicht von diesem Medaillon befreien, aber ich kann auf sie einwirken, damit sie Euch nicht töten.« Und das war das Letzte, das er von dem Geist vernahm.
***
Seine Zelle war eine unheimelige Symphonie aus Dunkelheit und Nässe. Zitternd, mehr aus Angst als vor Kälte, saß er da und wartete auf das Kommende, hoffte gleichzeitig, dass es nie in Erscheinung treten würde.
Wirre Bilder tanzten vor seinen Augen. Missgeburten, tote Soldaten, Dinge, die es nicht gab, nicht geben durfte, wahnsinnig werdende Männer, schon lange Wahnsinnige, Glaspalast, Missgeburten, schrecklich anzusehen, schreckliche Momente, abgetrennte Arme, schluchzende Frau, eine Geschichte, eine Wende ins Nichts, sterbend, der König, der Blitzgott, Wolkenveteran, Kyr-ra-ney, Niederlage, Todesfürst, endgültige Niederlage, Behauptungen, Behauptungen, und alles immer wieder, undallesimmerschneller, und er konnte einfach nicht damit abschließen. Es war einfach zu viel Grauenhaftes und Ungewöhnliches passiert. Irgendwann, nach Minuten, Stunden, Tagen gelang es ihm, seine Gedanken wieder in gerade Bahnen zu zwingen. Und er besah sich sein Gefängnis von Neuem und dieser Eindruck war noch furchtbarer als der erste. Was sollte jetzt nur aus ihm werden?
Er wusste in diesem Moment noch nicht, dass er monatelang schwer misshandelt werden würde. Er wusste nicht, dass er in einem halben Jahr freikam, auf Geheiß des Königs. Dass er in einem Wagen dem Volk vorgeführt wurde. Dass er auf einen alten, totgeglaubten Feind traf. Dass er lieber starb, als sich ihm zu unterwerfen.
Und dann …
Dann erinnert er sich an die beiden Zeitreisenden, und er sieht sich selbst in ihrer Situation. Und er weist den Wahnsinnigen an, im Nebel der Jahre nach einem anderen Körper zu suchen, einem Körper, der keinen Widerstand leistet. Der Wahnsinnige wird fündig und dann -
Und dann würde die Sonne wieder für ihn scheinen.