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Mad World
Mad World
„Hello, teacher tell me what’s my lesson”
Sie haben mir gesagt, ich soll es aufschreiben.
Keine Ahnung, was das bringen soll. Aber ich mach es trotzdem. Hab hier eh nichts zu tun. Immer das gleiche; die Hőhepunkte in meinem Tagesablauf sind die Mahlzeiten.
Sie sagen, es wűrde mir helfen, es zu verarbeiten. Es wäre wie ein Exorzismus. Ob ich weiβ, was das ist, fragten sie. Manchmal hab ich das Gefűhl, die halten mich fűr blőd.
Alle bis auf Doktor Raskolnikoff; der ist in Ordnung. Er hat mir dieses Buch gegeben. Der Fänger im Roggen.
Sie haben gesagt, ich muss mich zwingen, darűber zu schreiben, also werde ich das jetzt auch tun, bevor ich abschweife.
An dem Morgen ging ich zur Schule, ganz normal. Oder das, was heute als normal gilt; keine Ahnung, ob das wirklich noch normal ist. Wenn ich im Bus stehe, ich stehe also da (natűrlich sind die Busse morgens so űberfűllt, dass man keinen Sitzplatz kriegt) und sehe die ganzen Leute...dann, es hőrt sich komisch an, aber ich fűhle mich so fehl am Platz. Ich meine, dass sollte ich gar nicht, es sind grőβtenteils Schűler da, wie ich. Es ist so,als wäre da etwas, was mich von denen unterscheidet; nicht viel, aber immer gerade so viel, dass ich jeden Augenblick damit rechne, dass sie mit dem Finger auf mich zeigen. Die Gespräche, die ich hőre, sagen mir meistens nichts. Manchmal, wenn ich noch műde bin, sehe ich, wie sich ihre Lippen bewegen, aber ich hőre nicht, was sie sagen. Das macht mir Angst.
Ich habe nicht viele Freunde. Aber ich denke, dass ist nichts ungewőhnliches. Wer kann von sich schon behaupten, er hat viele Freunde? Mit Freunden meine ich nicht: „Hey, hallo wie geht’s?“ Mit Freunden meine ich Leute, die sich fűr dich einsetzen wűrden, wenn du Probleme hast.
Sie haben gesagt, es ist nur eine Sache wichtig, wenn ich es aufschreiben. Ich soll ehrlich sein. Doktor Raskolnikoff sagte, sonst sei es so, als ob ich beim Solitaire betrűge. Er bringt immer sowas. Aber er hat recht. Also, nochmal. Nach der Definition von gerade habe ich nicht nur nicht viele Freunde, sondern gar keine Freunde.
Ich habe also keine Freunde. Auch keine Freundin. Na klar, ich hab Leute, mit denen ich mal trinken geh, oder sonst was. Aber ich kann mit denen űber nichts reden, was tiefgrűndiger oder persőnlicher wäre als Bundesligafussball.
Also, ich steh im Bus. An diesem Morgen geht es mir besonders schlecht. Ich hab Kopfschmerzen und ich hab nichts gegessen, dafűr aber viel geraucht. Mir wird schwindlig; ich hab auβerdem so ein Kreislaufproblem; ich kipp dann um wie ein altersschwacher Boxer in der zehnten Runde. Jedenfalls, ich merke also, wie mir schwindlig wird. Ich merk schon, ich muss jetzt jemanden fragen, ob er mir einen Sitzplatz űberlässt; wenn ich jetzt nicht sitzten kann, dann werd ich bewusstlos. Irgendwie taumele ich durch den Bus, auf einen Sitzplatz zu. Vorbei an den ganzen Leuten, die wie sediert aus dem Fenster staaren, während Techno aus ihren Kopfhőrern kommt; mir wird noch schlechter. Langsam ist es mir egal; ich will nur noch einen Sitzplatz. Ich stehe vor einem dieser Vierer-Plätze; darauf sitzen:
Zwei Jungen, etwa 16, einer im Scarface-T-Shirt, der andere mit einem Blick, der nahelegt, dass er sich schon vor der Schule einen Joint reingezogen hat. Gegenűber zwei Mädchen, offensichtlich die Freundinnen. Im selben Alter, schätz ich. Sie sahen zwar aus wie Mitte zwanzig, aber bei vielen Mädchen kann man heute ja bedenkenlos 10 Jahre abziehen, die wollen ja älter aussehen, als sie sind. Ich stehe also vor ihnen, ich muss relativ wild ausgesehen haben. Ich bekomme nämlich schnell rote Augen, wenn ich nicht genug geschlafen habe (und das hab ich schon seit Monaten nicht mehr), meine Haare sind lang und ungekämmt, auβerdem Bart. Und bleich muss ich auch gewesen sein. Ich stehe vor ihnen und versuche, mich zu artikulieren. Scarface blickt mich mit einer irgendwie faszinierenden Mischung aus Spott, Verachtung und Mitleid an. „Alter, was ist dein Problem?“ Seine Freundin guckt mich an, als hätte ich ihr auf die Schuhe gekotzt. Was ich auch beinahe getan hätte. Ich nehm mich zusammen, bin jetzt in einer beinahe heiteren Stimmung: „Ich hab dich, Pacino, gefragt, ob du vielleicht so nett sein kőnntest, mir deinen Sitzplatz zur Verfűgung zu stellen.“ Man sah ihm an: Er verstand nicht. Ebenso seine Freundin. Sein Freund, offenbar trotz Joint noch in der Lage, den Sinn meiner Worte zu erfassen, meinte sowas wie: „Ey, Alter, lass den mal sitzten, der sieht voll fertig aus.“
Scarface stand tatsächlich auf, unsicher. Die beiden Mädchen mir gegenűber sahen mich jetzt mit dem Gesichtsausdruck von Menschen an, die gerade in eine besonders sauere Zitrone gebissen haben. Ich schloss die Augen und versuchte, mich auf meinen Herzschlag zu konzentrieren. Da sagte Scarface, neben mir stehend: „Ey, wie hast du mich grad genannt?“
Ich war nicht in der Lage, Auskunft zu geben. Nach einiger Zeit antwortete sein Freund. „Er meinte glaub ich Pacino...na, wegen deinem T-Shirt.“ „Wieso Pacino. Das ist Scarface.“
Ich lachte leise. Ich glaube, langsam hatten die echt Angst vor mir. Ich sagte, glaube ich: „Klar, Mann. Mein Fehler. Hab da was verwechselt.“
Danach kotzte ich seiner Freundin auf ihre pinken Hello-Kittie-Schuhe.
Ich stehe vor dem Unterricht immer gerne alleine vor der Schule und rauche. An dem Morgen habe ich das auch gemacht. Ich rauche gerne, weil ich den Rauch mag. Ausserdem mag ich das Geräusch, wenn man der Zigarette zieht. Durch den Zigarettenrauch habe ich noch die Schule beobachtet. Ein Plattenbau, grau. Als ich die zum Ersten Mal gesehen habe, kam sie mir vor wie ein Gefängnis. Jetzt, nach vier Jahren, wusste ich: Es ist ein Gefängnis. Ich sah zu, wie die Insassen hineingingen; der Reihe nach; ich weiβ noch, wie mir eine Textzeile aus einem Song eingefallen ist. Hello, teacher tell me what’s my lesson. Ich habe keine Ahnung, woher die kommt oder warum ich es gedacht habe. Ich schnippte die Zigarette weg. Sie zog eine Funkenspur hinter sich her. Wie ein Komet, der auf die Erde stűrzt, dachte ich noch.
Ich versuche, es so genau zu beschreiben, wie ich kann. Was nicht schwer sein wird, denn meine Erinnerung daran ist unglaublich klar. Ich muss dazu sagen: Es war nicht geplant. Gut, ich hatte nicht gerade zufällig eine Waffe in meinem Rucksack, aber: Der Ablauf an sich war nicht geplant. Soweit habe ich gar nicht gedacht. Ich habe eigentlich gar nicht gedacht, als ich heute morgen die Pistole meines Vaters mitgenommen habe. Ich hab es einfach gemacht; sie lag da, ich hab sie mitgenommen. Mein Vater bewahrt eine Pistole im Nachtschrank auf. Geladen und gesichert. Die lag da seit Jahren; auch wenn meine Mutter dagegen ist. Ich war an diesem Morgen im Schlafzimmer meiner Eltern, die Schublade war offen.
Jedenfalls. Es war die dritte Stunde. Wir hatten gerade Deutsch. Meine Klasse besteht aus 22 Schűlern; es ging um Gedichte. Wir sollten ein eigenes Gedicht schreiben und es vortragen. Gerade stand Jessica vorne. Klein, hűbsch und desorientiert wirkend trug sie, leicht rot im Gesicht, ihr Gedicht vor. Mir war es unangenehm. Nicht, weil es schlecht war; im Gegenteil. Es war sehr schőn. Man sah ihr aber an, dass es ihr peinlich war, so vor allen. Plőtzlich wurde ich wűtend. Warum wird sie dazu gezwungen, da zu stehen; danach noch dämliche Fragen űber den Sinn ihrer Metaphern, űber die Bedeutung ihrer Vergleiche űber sich ergehen zu lassen? Warum, wo doch jeder sehen kann, dass sie es nicht will? Hatte sie nicht das Recht, ihre Gedanken fűr sich zu behalten? Genau so gut kőnnte man sie zwingen, sich vor allen auszuziehen. Freundlich lächelnd stand Frau Meyer daneben, darauf wartend, dass das Gedicht vorbei sein wűrde und sie endlich Fragen nach rhetorischen Stilmitteln stellen konnte. Ich schloβ die Augen; am Liebsten hätte ich mir auch noch die Ohren zugehalten.
Ihre Stimme wurde immer nervőser, ich hőrte, wie viel die Worte fűr sie bedeuteten. Niemand hőrte ihr zu. Nicht mal Frau Meyer. Sie wollte endlich zu ihren Fragen kommen.
Ich wusste nicht mehr, wo ich hingucken sollte. Ich kramte sinnlos in meinem Rucksack herum; da lag die Waffe. Ich holte sie heraus. Sie war schwer und kalt. Zitternd stand ich auf. Ich hielt die Pistole in der linken Hand; plőtzlich war mein Arm ganz ruhig. Ich streckte ihn aus und richtete die Waffe auf die Lehrerin.
Einstein sagte einmal, Zeit sei relativ. Natűrlich glaubte ich ihm das; Einstein glaubt man halt. Aber ich wusste bis dahin nicht, wie sehr es stimmt. Zeit ist relativ. Dehnbar. Als ich so da stand, hatte ich das Gefűhl, alles läuft langsamer ab. Wie Zeitlupe. Ich sah alles klar und deutlich, ich war konzentriert; sah alle Einzelheiten. Der Blick von Frau Meyer. Jessica, die mich anstaarte. Simon, mein Sitznachbar, der mit seinem Stuhl ein Stűck von mir wegrűckte. Niemand sagte etwas. Jetzt hatten es alle bemerkt. Hier stand ich also, 19 Jahre, spiele weder Counterstrike, noch hőre ich Slipknot, und richte eine 9mm auf meine Lehrerin.
Warum habe ich es gemacht? Weil ich verrűckt bin? Weil meine Eltern mich als Kind nicht genug beachtet haben? Weil ich laute Rockmusik hőre? Wenn es nach der BILD-Zeitung ginge, dann sind das etwa die Grűnde. Ja, ich habe es tatsächlich auf Seite 1 der BILD geschafft.
Ich glaube nicht, dass ich verrűckt bin. Jedenfalls nicht mehr als die meisten anderen auch. Meine Eltern sind ok; ich hatte eine gute Kindheit; mit Versteckenspielen, Fussball und dem ganzen Zeug. Warum also? Ich habe mit Dr. R. darűbe gesprochen. Er sagte, wir leben verrűckte Leben in einer verrűckten Welt. Er sagte, die Grűnde sind nicht so leicht erklärbar, wie es die meisten gerne hätten.
Natűrlich habe ich niemanden umgebracht. Das hatte ich nie vor. Das kam gar nicht in Frage; als Kind hatte ich zugesehen, wie einige Freunde einen Frosch aufgeblasen haben. Mit einem Strohhalm. Ich hab nichts dagegen gemacht und hatte wochenlang ein schlechtes Gewissen. Ich und einen Menschen umbringen? Die BILD hätte sich vermutlich gefreut, wenn ich was aufregenderes getan hätte, aber was ich getan hab, war folgendes: Ich stand da, ich weiss nicht wie, lange, als ich plőtzlich merkte, dass ich weinte. Die Tränen liefen mir űber das Gesicht. Es war mir nicht peinlich. Es war okay. Ich wusste nicht wieso, aber es war okay. Ich war froh, dass Jessica nicht mehr ihr Gedicht vortragen musste.
Ich setzte mich hin und weinte. Niemand sagte etwas. Zum ersten Mal seit langer Zeit fűhlte ich mich frei.
Naja, das war’s. Ich habe keine Ahnung, wie es weitergeht. Irgendwie wird’s das wohl; irgendwie geht es immer weiter. Meine Eltern waren weniger erfreut, aber das ist ok. Dr. R. meinte, ich wűrde es schaffen; ich habe einen starken Willen. Er meinte, ich gehőre zu denen, die es schaffen, wenn sie sich anstrengen.
Ich hoffe, er hat recht.