Was ist neu

Madlen

Mitglied
Beitritt
04.05.2025
Beiträge
35
Zuletzt bearbeitet:
Anmerkungen zum Text

Diese Kurzgeschichte könnt Ihr im dritten Kommentat noch mal in einer anderen Erzählperspektive lesen (von 1. Person sing. auf personale Perspektive 3. Person sing. geändert.)

Madlen

Kassandra lebte kaum zwei Monate in der Pizzeystraße, als sie Madlen kennenlernte. Es war ein trüber Freitagnachmittag im Mai. Gerade war sie in ihren Sitzsack gefallen und hatte eine Flasche Bier geöffnet, als es an der Tür klingelte.

Der Türspion zeigte einen riesigen, schwarzbehaarten Kopf auf einem kleinen, kegelförmigen Körper. Ihre Hand zuckte auf der Klinke. Schließlich kam sie sich albern vor und öffnete die Tür.

„Hey Nachbarin, es bringt Unglück, sich nicht vorzustellen! Ich bin Madlen.“

Madlen gehörte zu den Frauen, die durch die schiere Menge künstlicher Wimpern tatsächlich mit ihnen klimperten. Sie steckte in einer rosafarbenen Felljacke. Mit Gel-benagelten Händen hielt sie Kassandra eine Flasche Asti Cinzano mit einer roten Schleife um den Hals hin.

„Das ist aber nett. Kassandra“, sagte Kassandra und deutete auf ihre Brust.

„Was, wie diese Wahrsagerin da?! Du Arme.“

„Ja. Meine Eltern waren speziell. -- Asti. Lange nicht getrunken“

„Diese Salzsäcke, und was man noch so macht, finde ich albern. Wer hat schon kein Salz beim Einzug? Außerdem wohnst du schon ne ganze Weile hier. Aber was zu Trinken, das braucht man doch immer. Oder?“ Madlen blickte auf die Flasche Astra, die Kassandra noch immer in der Hand hielt.

„Danke“, sagte Kassandra und sehnte mich nach ihrem Sitzsack.

„Bitte! Willst du mir mal deine Wohnung zeigen, oder wie?“

Das wollte sie nicht. „Komm‘ gerne rein“, sagte sie und drehte sich seitwärts. „Es gibt nicht viel zu sehen.“ Sie hatte schon einen Teil meiner Möbel verkauft.

Madlen drängte sich an ihr vorbei und hinterließ eine Wolke süßlich-scharfen Duftes, huschte durch den engen Flur, bog in die Kochnische ab und öffnete den Kühlschrank. Kassandra blieb der Mund offenstehen.

„Für den Asti!“ erklärte Madlen und ließ das Innere des Kühlschrankes auf sich wirken. „Isst du gar nichts?“

„Ich esse bei der Arbeit. Ich arbeite bei McDonald’s.“

„Ok. Ich liebe es!“ Madlen lachte, ein Zirkoniastein auf ihrem Eckzahn glitzerte. „Ich koche jeden Tag frisch. Mein Mann hat seine Ansprüche.“

Für eine verheiratete Frau wirkte Madlen jung. Sie trug keinen Ring. Einen Moment lang blickte sie gedankenverloren in den Kühlschrank und stellte den Asti hinein. Dann nahm sie Kassandra mit neugewonnener Energie ins Visier. „Mein Mann arbeitet nachts. Vom Abendessen bleibt immer was übrig. Ich geb‘ dir was ab!“

„Das musst du nicht.“ Kassandra war entsetzt.

„Du hast keinen Mann!“ Es klang beschwingt.

„Woher weißt du das?“ Der Kühlschrank begann, zu piepen.

„Ich hab‘ deinen Einzug beobachtet“, sagte Madlen ungerührt. „Keinen Mann haben ist super, aber dann kocht man nicht, oder? Ich hab‘ einen, und was abzugeben.“

Sie nahm sich eine Flasche Astra aus dem Kühlschrank und schloss endlich dessen Tür. „Das Gastgeschenk macht man ja nicht auf, stimmt’s?“

„Wohl nicht“, murmelte Kassandra.

„Ist das hier kalt!“ Madlen rieb sich die Ärmel der rosafarbenen Felljacke. Es war nicht besonders kalt. „Mach doch mal die Heizung an! Hast du Netflix?“

Madlen hielt Wort und tauchte am folgenden Abend mit einer Tupperdose auf. Zunächst dachte Kassandra, es werde bei dem einen Mal bleiben. Doch auch am nächsten Abend brachte sie eine vollständige Mahlzeit, und am Abend darauf, und ebenfalls am Abend danach. Sie selbst habe schon gegessen, behauptete Madlen, wenn Kassandra ihr etwas aus der Tupperdose anbot.

Arbeitete sie abends, stellte Madlen das Essen in einer Styroporbox vor ihre Tür.

Und sie konnte kochen. Meistens servierte sie etwas Orientalisches oder Krustentiere in exotischen Saucen. Der für satte Gemüter so abstoßende wie für hungrige Sinne verlockende Duft von Kreuzkümmel und Kardamom blieb fortan in der Wohnung, ganz egal, wie lange sie lüftete.

Zermarterte Kassandra sich anfangs noch den Kopf darüber, wie sie Madlen am Besten wieder loswerden konnte, ertappte sie sich bei ihren Schichten immer häufiger dabei, wie sie sich auf die Kreationen freute.

Sie traute sich nicht, zu fragen, ob Madlen sich vor lauter Meeresfrüchten keine Heizkosten und keinen Fernseher leisten konnte. Denn die einzigen Dinge, die sie im Gegenzug von ihr zu erwarten schien, waren ein warmes Plätzchen auf dem Sofa und das gemeinsame Netflixen. Kassandra kam es sparsamer vor, kurzfristig ihren Heizlüfter anzustellen, sobald ihr Madlens Klagen über die Kälte zu penetrant wurden, zumal das Thermostat seit April den Betrieb der Heizkörper unmöglich machte. Was die Abendunterhaltung betraf, hatte sie bei Madlens Anblick zuerst befürchtet, sie bestünde auf The Real Housewives of Beverly Hills, The Worst Roommate Ever oder American Murder. In Wirklichkeit hatte Madlen überhaupt keinen eigenen Netflix-Willen und gab sich mit Perfil Falso zufrieden, was Kassandra anschaute, um ihr Spanisch zu verbessern. Madlen zuliebe schaltete Kassandra später Somebody Feed Phil oder Culinary Class Wars ein. Aber es schien ihr gleichgültig, was gestreamt wurde. Allerdings hatte Kassandra Probleme, ihren Gast nach Ende der Folgen wieder loszuwerden. Sie döste gerne an ihrer Schulter ein, als kennten sie sich aus Sandkastentagen. Sie weckte Madlen oft mehr rabiat als sanft, wischte demonstrativ deren Makeup-Spuren von ihrem Ärmel, aber nichts half. Als Kassandra sie aber fragte, in welcher Wohnung sie lebte, vorgeblich, um Geschirr und Styroporbox rascher zurückbringen zu können, kam Leben in Madlen.

„Zeige ich dir wann anders!“ Sie ordnete ihre Clip-Extensions und sprang auf. Kassandra konnte sich kaum von ihr verabschieden, so schnell verschwand sie.

Eines Tages quälte Kassandra sich nach der Spätschicht das Treppenhaus hinauf und fand keine Styroporbox vor der Tür. Sie schämte sich ein wenig für ihre Empörung und trank zwei Astra. Das Einkaufen fester Nahrungsmittel hatte sie dank ihrer Nachbarin ganz aufgeben können. Madlen behielt recht, sie war an Selbstfürsorge nicht interessiert.

Sie hortete das Geld, das sie von ihren Eltern geerbt hatte, für ihren Auswanderungsplan und wartete auf den richtigen Zeitpunkt. Der richtige Zeitpunkt bestand im Ableben ihres kinderlosen Erbonkels. Sonst interessierte sie nichts.

Am nächsten Tag kehrte sie früher heim und wartete vergebens auf Madlen und ihr Essen. Schließlich bewegte sie sich widerstrebend die Straße herunter zum Penny und kaufte Spaghetti Bolognese aus der Dose. Doch inzwischen war sie verwöhnt, und es wollte ihr nicht schmecken. Sie saß allein auf dem Sitzsack, stocherte missmutig auf ihrem Teller herum, schaute Mord an der Costa del Sol und griff nach einem Kissen, um sich zu wärmen.

Zwei Wochen später kehrte Madlen mit einer Tupperdose in der Hand zurück. Sie trug eine Sonnenbrille, die sie auch in der Wohnung nicht absetzte, und ein Halstuch. Die Extensions waren verschwunden. Anstelle dessen hatte sie ihre lackschwarzen Haare in einem tiefen Dutt zusammengefasst. Perlenstecker hatten ihre handtellergroßen Kreolen ersetzt. Ein Hauch Jackie O. umwehte sie, wäre nur ihre Jogginghose nicht gewesen. Als wir nebeneinander auf dem Sofa saßen, fiel Kassandra zum ersten Mal eine Grenzlinie zwischen ihrem Makeup und ihrem Hals auf.

„Willst du nicht die Sonnenbrille abnehmen?“ Sie sprach das Offensichtliche an, bevor ich mich an noch mehr Kuriositäten gewöhnte.

„Nein“, sagte Madlen.

Kassandra beäugte das Moussaka und kostete erwartungsvoll den ersten Bissen. Zu ihrem Entsetzen schmeckte es fürchterlich bitter und versalzen. Weitere Gewürze fehlten. Sie schob die halb zerkaute Masse in die Backentasche und stand sehr langsam auf, wie, um Madlen nicht zu provozieren. Auf dem Weg zur Toilette überlegte sie, womit sie sie wohl verärgert haben könnte. Hätte sie mehr Interesse an ihrem Leben zeigen sollen, wenn Madlen doch bei aller Herzlichkeit ihr gegenüber so verschlossen schien? Hätte Kassandra sich ihrerseits offenbaren sollen, wenn Madlen doch ausschließlich am Netflixen interessiert wirkte? Sie spuckte das Essen behutsam in die Toilette, wartete einige Minuten, spülte und stellte den Wasserhahn gebührend lange an, ohne die Hände darunter zu halten.

„Ich habe mir wohl den Magen verdorben“, sagte sie und ließ sich auf das Sofa fallen.

„Du siehst aber ganz gut aus! Moment, bei McDonald’s den Magen verdorben? Kann man die nicht auf Millionen verklagen?“

„Nicht in Deutschland. Außerdem kann es auch ein Virus sein.“ Kassandra stellte die Tupperdose in einiger Entfernung auf den Couchtisch.

„Ich habe als Anwältin gearbeitet“, sagte Madlen unvermittelt.

Kassandra musste mich beherrschen, um nicht laut zu lachen.

„Das ist ja interessant“, erwiderte sie wahrheitsgemäß.

Madlen nahm die Sonnenbrille ab und wandte sich mir zu. Gelbe Reste eines Veilchens umringten ihr linkes Auge.

„Ok, das stimmt nicht. Ich habe als Rechtsanwaltsgehilfin gearbeitet. Nach meiner Hochzeit habe ich aufgehört. Eines Tages würde ich gerne Chefin in einem Frauenhaus sein. Wie Puffmutter, nur umgekehrt, weißt du?“

„Ja.“ Kassandra biss sich auf die Lippe, wollte ansetzen, etwas zu sagen, schwieg dann.

Sie drehten sich wieder zum Fernseher und schauten weiter The Maid. Madlen begann bei der ersten Frauenhaus-Szene, zu weinen. Kassandra legte vorsichtig den Arm um sie und hielt ihr eine Taschentuchbox hin. Sie weinte noch mehr und weinte weiter, bis Kassandra den Fernseher ausstellte.

„Sonst haben wir keine Folge mehr für morgen“, sagte sie.

„Und keine Taschentücher“, sagte Madlen.

Am nächsten Abend kam Madlen wieder, und an dem Abend danach, und an dem danach, und an dem danach hörte Kassandra auf, zu zählen, seit wie vielen Abenden sie wieder da war. Es wurde Juni, es wurde Juli, es wurde August, und trotz der Hitze fror Madlen ständig. Kassandra schuftete beim goldenen M wie in einer endlosen Schleife und ihr Onkel hielt allen seinen Krankheiten zum Trotz am Leben fest.

Madlens Essen gewann die gewohnte Qualität zurück. Sie brachte seit ihrem Fehlen ostasiatische Gerichte mit, die immer besser schmeckten.

„Die benutzen Sojasoße oder Fischsoße, da sehe ich den Pegel in der Flasche“, erklärte sie. „Bei Salz kann ich nicht so gut sehen, ob einer ungefragt nachgewürzt hat.“

Kassandra ließ die Gabel voll Pad Thai sinken. „Wer würde denn so was machen?“

„Was weiß ich!“, sagte Madlen und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Ihr Teint strahlte ebenmäßig wie ehedem, es war keine Make-up-Demarkationslinie zu sehen. Die Sonnenbrille trug sie nicht mehr. Ihre langen Ärmel und gelegentlichen Halstuch-Phasen schrieb Kassandra ihrem gestörten Temperaturempfinden zu.

Auf dem Fernseher fackelte der Hauptdarsteller aus You gerade seinen Tatort ab. „Sie ist ja schon tot“, stellte Madlen fest. „Aber selbst, wenn nicht, soll es gar nicht so schlimm sein.“

„Zu verbrennen?“ fragte Kassandra schriller, als nötig.

„Ja! Man soll das nicht mitbekommen, weil man vorher erstickt.“

„Als ob das besser wäre!“

„Naja, man wird bestenfalls eingeschläfert. Wie so eine Gasnarkose.“

„Ganz ehrlich!“, entrüstete Kassandra sich und spießte eine Garnele auf.

Als Madlen am nächsten Abend eintrat, blieb sie vor dem Sofa stehen und deutete auf den Koffer.

„Du fährst weg?“ Ihre Augen weiteten sich.

„Mein Onkel ist gestorben. Ich fahre morgen nach Düsseldorf zur Beerdigung.“

„Oh, das tut mir leid!“

„Das muss es nicht. Er war schon alt und lange krank. Wir standen uns auch nicht nahe.“ Zumindest nicht in jeder Hinsicht, dachte Kassandra, hob den Koffer vom Sofa und stellte ihn auf den Boden.

„Wie lange bist du weg?“ Madlens Stimme zitterte ganz leicht.

„Eine Woche.“

„So lange!“ entfuhr es ihr und sie schlug die Hand vor den Mund. „Entschuldigung. Ich bin bloß überrascht.“ Sie setzte sich auf den Sitzsack, neben den Koffer und umklammerte die Tupperdose auf dem Schoß.

„Ich bleibe noch eine Weile, um bei der Haushaltsauflösung zu helfen.“ Und zur Testamentsverlesung. „Aber dann bin ich ja wieder da.“

Vom Frohsinn, den die Nachbarin beim Kennenlernen versprüht hatte, war keine Spur mehr. Kassandra seufzte. „Warum nimmst du nicht meinen Ersatzschlüssel? Dann kannst du abends auch ohne mich Netflix gucken.“

„Oh, meinst du echt?“ Ganz langsam hoben sich Madlens Mundwinkel.

„Solange du hier keine Gelage veranstaltest.“

„Aber du kommst zurück!“ befahl sie.

„Klar. Pass nur auf den Heizlüfter auf. Man darf den nicht abdecken. Bier ist im Kühlschrank, weißt du ja.“

Am Abend nach der Beerdigung lag Kassandra auf einer Art Feldbett in der Werkstatt ihres Onkels. Ein Hotel war ihr zu teuer, sein Bett indiskutabel. Sie checkte ihre Nachrichten. Keine Nachricht von Madlen. Kassandra hatte sie gedrängt ihre Handynummer anzunehmen. Madlen hatte sie unter dem Namen Mama gespeichert. Kassandra fragte sich, unter welchem Namen sie die Nummer ihrer Mutter gespeichert hatte. Sie erklärte, „Kassandra“ klinge wie ein Fake, und dass so etwas ihren Mann misstrauisch mache.

Sie war online.

Kassandra tippte auf das Mikrofon und sagte:

„Hallo Madlen. Hier ist Mama. Na, du weißt schon. Ich hoffe, bei dir ist alles in Ordnung, und mein Haus steht noch. Madlen. Wie du weißt, oder auch nicht, möchte ich, deine Mama, demnächst nach Spanien auswandern. Ich würde mich freuen, wenn du mitkommst. Da ist es auch meistens warm. Du wirst Gelegenheit bekommen, dein Frauenhaus aufzumachen. Dort, wo ich hinmöchte, gibt es noch mehr Bedarf als hier. Wir könnten vielen Frauen helfen. Aber sei nicht enttäuscht, wenn es viele Schlägereien unter den Bewohnerinnen gibt und die Meisten zu den Tätern zurück gehen. Das musst du vorher wissen. Aber ab und zu rettet man wohl eine. Naja. Wir besprechen alles, wenn ich wieder da bin. Bis dahann!“

Sie schloss für einen Moment die Augen, öffnete sie wieder und drückte auf den kleinen Flieger. Doch es erschien kein zweites Häkchen, denn Madlen war plötzlich offline. Ihr Herz stolperte. Sie markierte die Sprachnachricht und löschte sie „für alle“. Ein tiefer Atemzug brachte ihr Herz wieder in seinen Takt. Erst jetzt entspannte sie ihre Lippen, von denen ihr nicht aufgefallen war, wie fest sie sie zusammengepresst hatte. Sie drückte den Hinterkopf ins Kissen und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Das Feldbett quietschte.

Sie musste es ihr zu Hause vorschlagen.

Auf dem Rückweg aus Düsseldorf war Kassandra in bester Stimmung. Die Erbschaft war noch üppiger ausgefallen als erwartet. Sie saß im Zug und sah sich im Internet Liegenschaften an, die zuvor nicht in ihrer Größenordnung gewesen waren. An der Bushaltestelle schob sie Unterhaltskalkulationen für die Häuser in einer Exceltabelle hin und her.

Ein Einsatzfahrzeug überholte ihren Linienbus nach Hause. Sie hielt sich die Ohren zu, dachte an die Waldbrände in Südeuropa und überlegte, wie sie unser zukünftiges spanisches Haus vor ihnen schützen würde. Während sie aus dem Bus stieg, hoffte sie, keine Brandstifter als Nachbarn zu bekommen, die ihre Geldprobleme mit einem Versicherungsfall lösen oder Bauland aus angrenzenden Naturschutzgebieten machen wollten.

Tief in Gedanken über Vor- und Nachteile einer Alleinlage eines Hauses bog sie in die Pizzeystraße ein.

Sie schaute erst auf, als ihr Rauch in die Nase stieg.

Ihrer Mietskaserne schaute eine Menschentraube beim Abbrennen zu. Kassandras erster Gedanke galt ihren Dokumenten, die sie glücklicherweise in einem Bankschließfach deponiert hatte. Eine dumme Ahnung über Madlens Umfeld hatte sie dazu inspiriert. Erst dann dachte sie an sie und den Heizlüfter.

Eine Absperrung hielt die Schaulustigen von der Szenerie fern. Zwischen den Schaulustigen befanden sich Bewohner des Hauses. Sie kannte nicht alle. Es gab dort mindestens fünfzig Ein- und Zweizimmerwohnungen, zusätzlich eine hohe Fluktuation. Rettungskräfte versorgten ihre Nachbarn, von denensie einige noch nie zuvor gesehen hatte und den Rest wegen ihrer rußverschmierten Gesichter erst mit Verzögerung erkannte. Madlen war nicht dabei.

Trotz ihres Abstandes zum Haus imprägnierte der Qualm ihren Körper. Husten schüttelte sie.

Über die Absperrung hinweg sprach sie zwei Feuerwehrleute an, einen Mann und eine Frau, und deutete auf ihr geborstenes Fenster, das aus der rußgeschwärzten Fassade klaffte.

„Das ist meine Wohnung“, rief sie, um die Sirenen weiterer herannahender Rettungswagen, das Krachen und Knacken des Feuers und den Lärm der Löscharbeiten zu übertönen. „Haben Sie aus meiner Wohnung jemanden evakuiert?“

„Sie! Sie bleiben bitte hier. Wir haben Fragen an Sie. Das Feuer ist in Ihrer Wohnung ausgebrochen.“

„Ich war nicht da, ich war auf Reisen.“

Die Feuerwehrfrau sah mich durch ihr Visier misstrauisch an. „Gerade dann.“

„Meine Freundin war da drin“, behauptete Kassandra, „haben Sie sie evakuiert?“

Der Feuerwehrmann sah sie mitleidig an.

„Dazu können wir Ihnen nichts sagen“, bellte die Frau.

Der Rauch, oder was auch immer, brachte Kassandra zum Weinen.

„Wir haben eine Frau aus Ihrer Wohnung geholt.“ Jetzt redete der Feuerwehrmann. Seine Kollegin schickte ihm böse Blicke. Trotzdem fuhr er fort: „Sie hatte sich leider im Badezimmer eingeschlossen. Wohl aus Angst. Das hat die Bergung etwas verzögert. Leider hat sie nicht überlebt.“

Sie musste sich auf die Straße setzen, um nicht umzufallen.

„Ja, aus Angst“, sagte sie.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Pazifik,

ich mache mal den Anfang. Deine Geschichte hat prinzipiell Potenzial, finde ich, auch wenn sie dem klassischen Plot "Buddy Movie" folgt: Aus einem gegensätzlichen Paar, das sich zufällig begegnet, wird eine tiefe Freundschaft, die hier - auch das nicht selten - tragisch endet (diese Variante großartig im Film "Midnight Cowboy" bzw. deutsch: "Asphalt-Cowboy").

Bei dir ist die Beziehung indes anders als beim klassischen Plot schon anfangs konfliktlos, was dem Umschwung natürlich an Wucht nimmt und für eine etwas biedere Gefälligkeit der Geschichte sorgt.

Dieser biedere Ton zieht sich in meinen Augen durch den ganzen Text: Er bleibt insgesamt zu sehr im Konventionellen verhaftet, seine Akzente sind zu seicht und unentschieden. Da man dem Text anmerkt, was er versucht, nämlich die Gegenüberstellung zweier ungleicher Figuren, fällt auf, dass er über scharfzeichnende Ansätze nicht hinauskommt.

Teilweise wirken die Charakterzeichnungen auf mich unausgegoren, teilweise unglaubhaft. Der ganze Kontext aus der Arbeit bei McDonald's, Schielen aufs Erbe und die Auswanderpläne lesen sich für mich wie eine am Schreibtisch ersonnene Konstruktion mit der Intention, eine individuelle Figur zu schaffen. Die Nachbarin hingegen hat sich für mich insgesamt gar nicht zu einem plastischen Bild geformt - irgendwie habe ich da keinen konkreten Menschen vor mir gesehen.

Weiteren Boden verliert der Text durch den sehr schleppenden Beginn und die zu wässrigen Dialoge. In der jetzigen Form wirkt das alles zu brav ausbuchstabiert, die Pointen und situativen Details sind nicht bissig genug für meinen Geschmack.

Zum Ende und zur Thematik häusliche Gewalt überhaupt: Da ist mir die Aussage des Textes bzw. das Verhalten der Protagonistin nicht ganz klar. Dafür, wie (ge)wichtig das Thema ist, nimmt es zu wenig Raum ein und beeinflusst Gedanken und Handlungen der Protagonistin auffallend wenig. Für mein Empfinden müsste sie, da sie ja im Rückblick und damit reflektiert berichtet, auf ihre diesbezüglichen Gefühle und Überlegungen von damals eingehen.

Stattdessen nimmt sie eine pseudo-unwissende Perspektive ein, mimt also eine Erzählerin, die über ihr Leben berichtet wie ein personaler Erzähler. Das ergibt in meinen Augen als Erzählperspektive wenig Sinn, einfach, weil man so nicht von seinem Leben erzählt. Vielleicht wäre hier die dritte Person zielführender für das, was dir vorschwebt.

In diese perspektivische Problematik laufen auch die Dialoge in ihrer fast theaterhaften A-B-A-B-Wechselspielanordnung. Denn warum sollte die Erzählerin sich an Wortlaute banaler Alltagsgespräche so genau erinnern, dass sie diese nach langer Zeit noch wörtlich zitieren kann? Und warum gibt sie diese so schematisch und ungebrochen wieder? Oder rekonstruiert sie diese? Dann müsste sie ihre vage Erinnerung kommentieren und reflektieren.

Auch bezüglich ihrer Lebenssituation bleibt sie seltsam schweighaft. Wie alt ist sie? Wie ist ihre Ausbildung? Warum jobbt sie bei McDonald's? Warum will sie ins Ausland? Warum hat sie keine moralischen Bedenken zu ihrem emotionslosen Warten aufs Erbe? Warum ist der Onkel reich? Warum sind ihre Eltern tot? Warum hat sie scheinbar keinerlei Sozialleben? Usw ... Warum erzählt sie das alles nicht? Was für eine Erzählsituation soll hier dargestellt sein? Dass hier so viele Leerstellen bleiben, trägt auch stark dazu bei, dass man als Leser skeptisch und distanziert bleibt.

Bei der Nachbarin gilt ähnliches. Nach dem Kennenlernen stehen sich die beiden nahe. Warum gehen sie nicht in einen erhellenden Austausch, der ihre Vita ans Licht bringt - für die Protagonistin wie auch für den Leser?

Du siehst, der Text überzeugt mich in der momentanen Form nicht. Ich denke aber, du kannst ihn auf jeden Fall mit genügend Einsatz zu diesem Punkt bringen, indem du an den Schwächen schraubst.

Freundliche Grüße

Henry

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Henry!

Danke für Deine Zeit und Anstrengung an meinem Text!

Hallo @Pazifik,

ich mache mal den Anfang. Deine Geschichte hat prinzipiell Potenzial, finde ich, auch wenn sie dem klassischen Plot "Buddy Movie" folgt

Danke!
Was heißt "auch wenn" :-) Masterplots gibt's überall :-)
Bei dir ist die Beziehung indes anders als beim klassischen Plot schon anfangs konfliktlos, was dem Umschwung natürlich an Wucht nimmt und für eine etwas biedere Gefälligkeit der Geschichte sorgt.

Ja, ich wollte es absichtlich subtil schildern. Ein Schelm, wer das "bieder" nennt :-)
Aber natürlich kann man sich fragen, wieso die Heldin diese "Freundschaft wider Willen" einfach mal so hinnimmt. Aber: Sie sagt ja, ihr sei "alles" außer ihren Auswanderungsplänen egal", und sie hat einen Vorteil, nämlich das gute Essen. Es ist ein Tauschgeschäft. Essen gegen Gesellschaft bzw. Schutz, was ja erst im Verlauf klar wird.

Dieser biedere Ton zieht sich in meinen Augen durch den ganzen Text: Er bleibt insgesamt zu sehr im Konventionellen verhaftet, seine Akzente sind zu seicht und unentschieden. Da man dem Text anmerkt, was er versucht, nämlich die Gegenüberstellung zweier ungleicher Figuren, fällt auf, dass er über scharfzeichnende Ansätze nicht hinauskommt.
Genau das war meine Intention. Das mag Vielen, hoffentlich nicht Allen, zu öde sein.
Teilweise wirken die Charakterzeichnungen auf mich unausgegoren, teilweise unglaubhaft. Der ganze Kontext aus der Arbeit bei McDonald's, Schielen aufs Erbe und die Auswanderpläne lesen sich für mich wie eine am Schreibtisch ersonnene Konstruktion mit der Intention, eine individuelle Figur zu schaffen. Die Nachbarin hingegen hat sich für mich insgesamt gar nicht zu einem plastischen Bild geformt - irgendwie habe ich da keinen konkreten Menschen vor mir gesehen.

Die Figuren sind nur skizziert. M. E. ist das ganz häufig in Kurzgeschichten so. Ob es nun gekonnt skizziert ist oder nicht... da lasse ich gerne Verbesserungsideen zu :-)

Weiteren Boden verliert der Text durch den sehr schleppenden Beginn und die zu wässrigen Dialoge. In der jetzigen Form wirkt das alles zu brav ausbuchstabiert, die Pointen und situativen Details sind nicht bissig genug für meinen Geschmack.
Ja, das verstehe ich: es ist zu öde für Dich und andere evtl. auch. Ich wollte leise Töne anschlagen, subtile Hinweise geben, und Fragen offen lassen.
Stattdessen nimmt sie eine pseudo-unwissende Perspektive ein, mimt also eine Erzählerin, die über ihr Leben berichtet wie ein personaler Erzähler. Das ergibt in meinen Augen als Erzählperspektive wenig Sinn, einfach, weil man so nicht von seinem Leben erzählt. Vielleicht wäre hier die dritte Person zielführender für das, was dir vorschwebt.

Ja! Und DAS dachte ich im Nachhinein allerdings auch! Ich habe die Geschichte ganz frisch (vorgestern und gestern) geschrieben und kurz überarbeitet, sie hat nicht lange genug gelegen. Das werde ich ändern, denke ich!

In diese perspektivische Problematik laufen auch die Dialoge in ihrer fast theaterhaften A-B-A-B-Wechselspielanordnung. Denn warum sollte die Erzählerin sich an Wortlaute banaler Alltagsgespräche so genau erinnern, dass sie diese nach langer Zeit noch wörtlich zitieren kann? Und warum gibt sie diese so schematisch und ungebrochen wieder? Oder rekonstruiert sie diese? Dann müsste sie ihre vage Erinnerung kommentieren und reflektieren.
s. o.
Auch bezüglich ihrer Lebenssituation bleibt sie seltsam schweighaft. Wie alt ist sie? Wie ist ihre Ausbildung? Warum jobbt sie bei McDonald's? Warum will sie ins Ausland? Warum hat sie keine moralischen Bedenken zu ihrem emotionslosen Warten aufs Erbe? Warum ist der Onkel reich? Warum sind ihre Eltern tot? Warum hat sie scheinbar keinerlei Sozialleben? Usw ... Warum erzählt sie das alles nicht? Was für eine Erzählsituation soll hier dargestellt sein? Dass hier so viele Leerstellen bleiben, trägt auch stark dazu bei, dass man als Leser skeptisch und distanziert bleibt.

Es ist nur eine Skizze. Man kann trefflich diskutieren, ob jetzt viel mehr Motivation und Gedanken der Figur geschildert werden sollten. Ich finde das nicht.
Über die Leerstellen kann man spekulieren. Die Figur der Kassandra wirkt wurzellos. Das ist Absicht. Warum jemand wurzellos ist, vielleicht Verbindungen gekappt hat, die zu einem Auswanderungswunsch geführt haben, kann man fantasieren. Kurz bevor sie auswandern will, "schlägt doch jemand Wurzeln in ihr leeres Herz" (und genau solche verkitschten überdeutlichen Wendungen und übermäßigen Erklärungen an den Leser wären mir in meiner Prosa momantan zuwider) aber sie bemerkt ihre "Aufgabe" gegenüber dieser Person zu spät -- obwohl sie sich entwickelt hat, ihr nicht mehr "alles egal" ist, aber eben zu spät.

Bei der Nachbarin gilt ähnliches. Nach dem Kennenlernen stehen sich die beiden nahe. Warum gehen sie nicht in einen erhellenden Austausch, der ihre Vita ans Licht bringt - für die Protagonistin wie auch für den Leser?
Wollte ich nicht, siehe oben. Ich wollte offene Fragen.
Außerdem reden Gewaltopfer wie Madlen aus Scham nur im Notfall über die Gewalt und halten sie lieber geheim. Kassandra hingegen möchte sowieso alle Brücken abbrechen, ist bindungslos und möchte das auch bleiben (bis sie auswandert oder auch danach). Es ist ein schräges und stummes Pärchen, was sich über das Gemeinsame Dritte, den Fernseher, verbindet.
Aber in einer längeren Geschichte oder einem Roman wäre mehr Raum für etwas Hintergrund, klar.
Du siehst, der Text überzeugt mich in der momentanen Form nicht. Ich denke aber, du kannst ihn auf jeden Fall mit genügend Einsatz zu diesem Punkt bringen, indem du an den Schwächen schraubst.

Danke für Dein Feedback, insbesondere noch mal zur Erzählperspektive!

Viele Grüße von Pazifik

 

Hallo @Pazifik,

so leicht lass ich dich nicht davonkommen :lol:

Was heißt "auch wenn" :-) Masterplots gibt's überall :-)

Also ich bin mir ziemlich sicher, dass Ron Tobias in "20 Masterplots" sagt, dass es nicht darum geht, diese schablonenhaft wieder und wieder zu kauen, sondern vielmehr darum, sie in immer neuen, überraschenden Varianten aufzugreifen.

Natürlich weiß ich nicht, was dein Anspruch ist. Aber ich würde einmal annehmen, dass du keine Texte von der Stange schreiben willst, sondern frische und individuelle Texte mit Eigenständigkeit. In diesem Fall würde ich ein Feedback ernst nehmen, dass anzeigt, dass die Plot-Struktur allzu offensichtlich und altbekannt ist.

Bei dir ist die Beziehung indes anders als beim klassischen Plot schon anfangs konfliktlos, was dem Umschwung natürlich an Wucht nimmt und für eine etwas biedere Gefälligkeit der Geschichte sorgt.
Ja, ich wollte es absichtlich subtil schildern. Ein Schelm, wer das "bieder" nennt :-)
Aber natürlich kann man sich fragen, wieso die Heldin diese "Freundschaft wider Willen" einfach mal so hinnimmt. Aber: Sie sagt ja, ihr sei "alles" außer ihren Auswanderungsplänen egal", und sie hat einen Vorteil, nämlich das gute Essen. Es ist ein Tauschgeschäft. Essen gegen Gesellschaft bzw. Schutz, was ja erst im Verlauf klar wird.

Da du ja mit den Schreibratgebern selbst angefangen hast, will ich auch hier kontern. So sagt zum Beispiel Fritz Gesing in nicht mehr zu steigernder Deutlichkeit, dass Konflikte unbedingt immer auf die Spitze getrieben werden müssen, wenn man den Leser einfangen will. Genau deutlich warnt er davor, Banalitäten und Alltäglichkeiten irgendeiner Art niederzuschreiben, wenn sie nicht in direktem Zusammenhang mit der Handlung oder den Figuren stehen.

Ich würde selbst gar nicht ganz soweit gehen, vor allem nicht mit den Konflikten. Man kann durchaus leiser vorgehen. Nur muss dann natürlich die Qualität der Schreibe diese Subtilität auch abstützen – durch Sprachkunst, feinsten Beobachtungen, überraschenden Details etc. Um es frei zu sagen: Das finde ich hier nicht vor.

Die folgende Passage schleppt sich undynamisch-spannungslos dahin, ist sperrig und ohne Flow:

Der Türspion zeigte einen riesigen, schwarzbehaarten Kopf auf einem kleinen, kegelförmigen Körper. Meine Hand zuckte auf der Klinke. Schließlich kam ich mir albern vor und öffnete die Tür.

„Hey Nachbarin, es bringt Unglück, sich nicht vorzustellen! Ich bin Madlen.“

Madlen gehörte zu den Frauen, die durch die schiere Menge künstlicher Wimpern tatsächlich mit ihnen klimperten. Sie steckte in einer rosafarbenen Felljacke. Mit Gel-benagelten Händen hielt sie mir eine Flasche Asti Cinzano mit einer roten Schleife um den Hals hin.

„Das ist aber nett. Kassandra“, sagte ich und deutete auf meine Brust.

„Was, wie diese Wahrsagerin da?! Du Arme.“

„Ja. Meine Eltern waren speziell. -- Asti. Lange nicht getrunken“

„Diese Salzsäcke, und was man noch so macht, finde ich albern. Wer hat schon kein Salz beim Einzug? Außerdem wohnst du schon ne ganze Weile hier. Aber was zu Trinken, das braucht man doch immer. Oder?“ Sie blickte auf die Flasche Astra, die ich noch immer in der Hand hielt.

„Danke“, sagte ich und sehnte mich nach meinem Sitzsack.

„Bitte! Willst du mir mal deine Wohnung zeigen, oder wie?“

Das wollte ich nicht. „Komm‘ gerne rein“, sagte ich und drehte mich seitwärts. „Es gibt nicht viel zu sehen.“ Ich hatte schon einen Teil meiner Möbel verkauft.

Madlen drängte sich an mir vorbei und hinterließ eine Wolke süßlich-scharfen Duftes. Sie huschte durch den engen Flur, bog in die Kochnische ab und öffnete den Kühlschrank. Mir blieb der Mund offenstehen.

„Für den Asti!“ erklärte sie und ließ das Innere des Kühlschrankes auf sich wirken. „Isst du gar nichts?“

„Ich esse bei der Arbeit“, behauptete ich. „Ich arbeite bei McDonald’s.“

„Ok. Ich liebe es!“ Sie lachte, ein Zirkoniastein auf ihrem Eckzahn glitzerte. „Ich koche jeden Tag frisch. Mein Mann hat seine Ansprüche.“

Für eine verheiratete Frau wirkte Madlen jung. Sie trug keinen Ring. Einen Moment lang blickte sie gedankenverloren in den Kühlschrank und stellte den Asti hinein. Dann nahm sie mich mit neugewonnener Energie ins Visier. „Mein Mann arbeitet nachts. Vom Abendessen bleibt immer was übrig. Ich geb‘ dir was ab!“

„Das musst du nicht“, sagte ich entsetzt.

„Du hast keinen Mann“, sagte sie beschwingt.

„Woher weißt du das?“ Ich fühlte mich gekränkt. Der Kühlschrank begann, zu piepen.

„Ich hab‘ deinen Einzug beobachtet“, sagte sie ungerührt. „Keinen Mann haben ist super, aber dann kocht man nicht, oder? Ich hab‘ einen, und was abzugeben.“

Madlen nahm sich eine Flasche Astra aus dem Kühlschrank und schloss endlich dessen Tür. „Das Gastgeschenk macht man ja nicht auf, stimmt’s?“

„Wohl nicht“, murmelte ich.

„Ist das hier kalt!“ Sie rieb sich die Ärmel der rosafarbenen Felljacke. Es war nicht besonders kalt. „Mach doch mal die Heizung an! Hast du Netflix?“


"Hölzern" ist ein häufig gebrauchter Begriff für Dialog-Szene dieser Art. Hier wird versucht, auf simple Art "gesprochene Sprache" zu simulieren, wodurch verkannt wird, dass Dialoge auch Text sind und somit anderen Regeln folgt.

Ich bin selbst kein großer Dialogschreiber, aber auch hier weiß ich in etwa, was Schreibratgeber empfehlen: Auflockern, auflockern, auflockern. Das ist das eine. Das andere, dass die Figuren nicht in ein direktes Ping-Pong verfallen sollten, sondern besser in gewisser Weise aneinander vorbeireden, vorgreifen, auslassen, andeuten, täuschen etc. So wirkt das dann lebhaft.

Nach einem Blick durch den Türspion, öffnete ich zögerlich die Tür.
"Hallo Nachbarin! Ich bin Madlen!"
Die Frau auf der Fußmatte streckte mir ihre solariumgegerbte Hand entgegen. Ihre Wimpern waren so lang, dass sie beim Klimpern fast an ihre Stirn stießen. Noch bevor ich etwas erwidern konnte, überreichte mir Madlen mit breitem Grinsen eine Flasche mit rotem Schleifchen.
"Asti! Danke!", stammelte ich. "Den hab ich Jahre nicht getrunken."
"Macht ja nichts. Brot und Salz hab ich aber keins. Find ich albern!"
"Mhm", brummte ich und suchte einen Ort für meine Augen.
Madlen lachte. Sie schien meine Unsicherheit zu bemerken. "Und du bist?"
"Äh ..." Ich deutete auf das Namensschild an meiner Dienstkleidung. "Kassandra. Kassandra heiße ich."
"Ach, du Ärmste!"
"Ja, meine Eltern wollten nur das Schlechteste für mich!"
Jetzt musste auch ich lachen. Langsam fand ich meine Fassung wieder. Madlen stellte sich auf die Zehnspitzen und lugte über meine Schulter in die Wohnung.
"Boah, ist die leer!"
Ich drehte mich kurz um. Dabei wusste ich doch ganz genau, wie leer meine Wohnung war. Den Großteil meiner Möbel hatte ich längst verkauft, denn es war nur eine Frage der Zeit, bis ich das Land verlassen wollte. Spanien wartete. Alles, was meiner Abreise noch im Weg stand, war eine längst überfällige Erbschaft. Doch das Ableben meines Onkels ließ auf sich warten. Bis der Geldregen losbrach, machte ich das Beste aus meinem Wartehallenleben und verdiente mir noch etwas eigenes Kapital für den Neustart auf der iberischen Halbinsel. Aus Mangel an schnell verfügbaren Alternativen, die keine besonderen Kenntnisse oder Fertigkeiten voraussetzten, war ich bei McDonald's gelandet, wo ich nun schon seit gut einem halben Jahr Burger in Folie wickelte und Pommes in Kartons schaufelte. Langsam konnte ich den Geruch von Frittierfett nicht mehr abhaben. Es wurde Zeit, dass mein Onkel endlich seine letzte Reise antrat, damit auch ich aufbrechen konnte.
"Ich würde dich ja hineinbitten", sagte ich, "Aber ich muss jetzt los."
Wieder tippte ich mir auf die Brust, dieses Mal auf das gelbe M.
Madlen nickte. "Verstehe. Wollte auch nicht stören."

....


Hier im Forum ist es zwar mehr oder weniger verpönt, in Kommentaren Textvorschläge zu machen, doch ich hab das hier jetzt trotzdem mal gemacht, denn ich bin anderer Meinung. Ich finde, ein Beispiel ist oft zehn Mal vielsagender als lange Worte über das Wie und Warum. Und es soll hier auch nicht um Bevormundung oder Besserwisserei gehen, sondern darum kurz und bündig aufzuzeigen, was genau man meint, auch wenn man es eben gar nicht genau ausformulieren kann. (Fachsimpelnde Architekten oder Künstler würden ja auch über Skizzen kommunizieren, die sie für den anderen schnell anfertigen, anstatt lange, theoretische Abhandlungen zu verfassen.)

Also vielleicht hilft dir das ja und du siehst, wo die Unterschiede liegen (und stimmst mir zu, dass es lebhafter wirkt, wenn man Dialog in engerer Taktung mit anderen Elementen wie Backstory etc. abwechselt – und das Dialog durch Auslassungen und Kürze enorm profitiert.

Das mag Vielen, hoffentlich nicht Allen, zu öde sein.

Hier würde ich mich fragen, ob du nicht alles haben kannst: Subtilität, sich aneinander reibende Figuren und Kurzweil beim Lesen. Ich denke, das wäre doch das Ziel bei der Textarbeit, oder nicht? – Das bestmögliche Ergebnis anstreben, anstatt zu sagen: Ich gebe mich mit einem Minimalanspruch zufrieden und schreibe die Mehrheit der Leser ab.

Die Figuren sind nur skizziert. M. E. ist das ganz häufig in Kurzgeschichten so. Ob es nun gekonnt skizziert ist oder nicht... da lasse ich gerne Verbesserungsideen zu :-)

Schwierig. Ich würde sagen, es gibt Skizzen wie die von Picasso – die eine Essenz enthalten und damit schon für sich stehen können. Und es gibt Skizzen, die einfach nur Bruchstücke, Zwischenergebnisse oder Teilaspekte beinhalten und darum nicht für sich stehen können.

Ja, das verstehe ich: es ist zu öde für Dich und andere evtl. auch. Ich wollte leise Töne anschlagen, subtile Hinweise geben, und Fragen offen lassen.

Ich meine hier nicht, dass du schrill und laut und exzentrisch werden solltest in dem Text, sondern dass du ihn von redundanten, banalen, bremsenden, offensichtlichen, abgegriffenen, nicht zu Ende gedachten und ähnlichen Elementen befreien solltest, sodass er in seiner Subtilität prägnant, scharf und treffend wird.

Es ist nur eine Skizze. Man kann trefflich diskutieren, ob jetzt viel mehr Motivation und Gedanken der Figur geschildert werden sollten. Ich finde das nicht.

Auch hier: Etwas ausbuchstabieren ist das eine. Das andere ist es, den Text durch Komposition, Tonalität, Details usw. sprechen zu lassen. Und darum wollte ich hinaus. Dinge einfach zu verschweigen oder wegzulassen schafft noch keine Tiefe, sondern erst einmal nur Lückenhaftigkeit. Die Tiefe käme erst dann ins Spiel, wenn der Leser beginnt, Dinge in der Tiefe zu erahnen. Dafür braucht er aber Links. Das passiert nicht einfach so durch Verknappung und Aussparung.

und genau solche verkitschten überdeutlichen Wendungen und übermäßigen Erklärungen an den Leser wären mir in meiner Prosa momantan zuwider

Siehe oben: Von überdeutlichen, verkitschten Wendungen war nie die Rede. Der Text muss von all diesen Dingen erzählen. Genau das macht ja eine gute Geschichte aus: Dass sie von etwas erzählt, ohne es direkt auszusprechen.

Es ist ein schräges und stummes Pärchen, was sich über das Gemeinsame Dritte, den Fernseher, verbindet.

Der Fernsehen bzw. Netflix habe ich in der gegebenen Konkretheit ehrlich gesagt nicht ganz verstanden. Für mich hat das den Text irgendwie seltsam banalisiert, denn Netflix ist ja eher ein Trash-Element und die genannte Sendungen erschienen mir jetzt auch nicht gerade wie wohldurchdachte Symbole, sondern eher beliebig bis unentschlüsselbar für alle Leser, die die Sendungen nicht schauen (so wie ich).

Außerdem reden Gewaltopfer wie Madlen aus Scham nur im Notfall über die Gewalt und halten sie lieber geheim.

Auch hier liest du meinen Kommentar nicht so, wie ich ihn meinte: Ich habe nicht geschrieben, die Protagonistin soll die Leidensgeschichte aufdecken. Aber alles andere, was spannend ist. Sie weiß ja quasi gar nichts über Madlen. Das finde ich unintuitiv, weil unmotiviert durch den Text. Zumindest müsste die Protagonistin mehr Versuche unternehmen, Dinge in Erfahrung zu bringen, denke ich.

Meine Zugfahrt endet, darum auch mein Kommentar ;-)

Freundliche Grüsse

Henry

 

Hallo @Pazifik,

so leicht lass ich dich nicht davonkommen :lol:

Ok... :-)
Was heißt "auch wenn" :-) Masterplots gibt's überall :-)

Also ich bin mir ziemlich sicher, dass Ron Tobias in "20 Masterplots" sagt, dass es nicht darum geht, diese schablonenhaft wieder und wieder zu kauen, sondern vielmehr darum, sie in immer neuen, überraschenden Varianten aufzugreifen.
Ok, sicher. Ich habe eigentlich gar nicht mit dem Masterplot begonnen und ihn gar nicht bedacht. Er hat sich ergeben, wie es oft ist.

Nur muss dann natürlich die Qualität der Schreibe diese Subtilität auch abstützen – durch Sprachkunst, feinsten Beobachtungen, überraschenden Details etc. Um es frei zu sagen: Das finde ich hier nicht vor.

Nach einem Blick durch den Türspion, öffnete ich zögerlich die Tür.
"Hallo Nachbarin! Ich bin Madlen!"
Die Frau auf der Fußmatte streckte mir ihre solariumgegerbte Hand entgegen. Ihre Wimpern waren so lang, dass sie beim Klimpern fast an ihre Stirn stießen. Noch bevor ich etwas erwidern konnte, überreichte mir Madlen mit breitem Grinsen eine Flasche mit rotem Schleifchen.
"Asti! Danke!", stammelte ich. "Den hab ich Jahre nicht getrunken."
"Macht ja nichts. Brot und Salz hab ich aber keins. Find ich albern!"
"Mhm", brummte ich und suchte einen Ort für meine Augen.
Madlen lachte. Sie schien meine Unsicherheit zu bemerken. "Und du bist?"
"Äh ..." Ich deutete auf das Namensschild an meiner Dienstkleidung. "Kassandra. Kassandra heiße ich."
"Ach, du Ärmste!"
"Ja, meine Eltern wollten nur das Schlechteste für mich!"
Jetzt musste auch ich lachen. Langsam fand ich meine Fassung wieder. Madlen stellte sich auf die Zehnspitzen und lugte über meine Schulter in die Wohnung.
"Boah, ist die leer!"
Ich drehte mich kurz um. Dabei wusste ich doch ganz genau, wie leer meine Wohnung war. Den Großteil meiner Möbel hatte ich längst verkauft, denn es war nur eine Frage der Zeit, bis ich das Land verlassen wollte. Spanien wartete. Alles, was meiner Abreise noch im Weg stand, war eine längst überfällige Erbschaft. Doch das Ableben meines Onkels ließ auf sich warten. Bis der Geldregen losbrach, machte ich das Beste aus meinem Wartehallenleben und verdiente mir noch etwas eigenes Kapital für den Neustart auf der iberischen Halbinsel. Aus Mangel an schnell verfügbaren Alternativen, die keine besonderen Kenntnisse oder Fertigkeiten voraussetzten, war ich bei McDonald's gelandet, wo ich nun schon seit gut einem halben Jahr Burger in Folie wickelte und Pommes in Kartons schaufelte. Langsam konnte ich den Geruch von Frittierfett nicht mehr abhaben. Es wurde Zeit, dass mein Onkel endlich seine letzte Reise antrat, damit auch ich aufbrechen konnte.
"Ich würde dich ja hineinbitten", sagte ich, "Aber ich muss jetzt los."
Wieder tippte ich mir auf die Brust, dieses Mal auf das gelbe M.
Madlen nickte. "Verstehe. Wollte auch nicht stören."

....


Hier im Forum ist es zwar mehr oder weniger verpönt, in Kommentaren Textvorschläge zu machen,

Ach so. Warum denn das. Wenn es sich in Grenzen hält. Vielen Dank für Deine Kreativität!
Ich habe ganz, ganz große Probleme mit diesem Stil, gebe aber zu, dass er farbenfroher und lebendiger ist.

doch ich hab das hier jetzt trotzdem mal gemacht, denn ich bin anderer Meinung. Ich finde, ein Beispiel ist oft zehn Mal vielsagender als lange Worte über das Wie und Warum. Und es soll hier auch nicht um Bevormundung oder Besserwisserei gehen, sondern darum kurz und bündig aufzuzeigen, was genau man meint, auch wenn man es eben gar nicht genau ausformulieren kann. (Fachsimpelnde Architekten oder Künstler würden ja auch über Skizzen kommunizieren, die sie für den anderen schnell anfertigen, anstatt lange, theoretische Abhandlungen zu verfassen.)

Also vielleicht hilft dir das ja und du siehst, wo die Unterschiede liegen (und stimmst mir zu, dass es lebhafter wirkt, wenn man Dialog in engerer Taktung mit anderen Elementen wie Backstory etc. abwechselt – und das Dialog durch Auslassungen und Kürze enorm profitiert.

Das Ping-Pong ist ein großes Problem. Danke für die Lösung!

Das mag Vielen, hoffentlich nicht Allen, zu öde sein.

Hier würde ich mich fragen, ob du nicht alles haben kannst: Subtilität, sich aneinander reibende Figuren und Kurzweil beim Lesen. Ich denke, das wäre doch das Ziel bei der Textarbeit, oder nicht? – Das bestmögliche Ergebnis anstreben, anstatt zu sagen: Ich gebe mich mit einem Minimalanspruch zufrieden und schreibe die Mehrheit der Leser ab.
Minimalanspruch ist etwas speziell ausgedrückt. Aber es stimmt mit dem Alternieren von erzählenden und Dialogpassagen.


Die Figuren sind nur skizziert. M. E. ist das ganz häufig in Kurzgeschichten so. Ob es nun gekonnt skizziert ist oder nicht... da lasse ich gerne Verbesserungsideen zu :-)

Schwierig. Ich würde sagen, es gibt Skizzen wie die von Picasso – die eine Essenz enthalten und damit schon für sich stehen können. Und es gibt Skizzen, die einfach nur Bruchstücke, Zwischenergebnisse oder Teilaspekte beinhalten und darum nicht für sich stehen können.

Wie gesagt, ich danke für Deine konkreten Verbesserungsideen!
Ich meine hier nicht, dass du schrill und laut und exzentrisch werden solltest in dem Text, sondern dass du ihn von redundanten, banalen, bremsenden, offensichtlichen, abgegriffenen, nicht zu Ende gedachten und ähnlichen Elementen befreien solltest, sodass er in seiner Subtilität prägnant, scharf und treffend wird.
Das wäre schön, ja.
Siehe oben: Von überdeutlichen, verkitschten Wendungen war nie die Rede. Der Text muss von all diesen Dingen erzählen. Genau das macht ja eine gute Geschichte aus: Dass sie von etwas erzählt, ohne es direkt auszusprechen.

Es ist ein schräges und stummes Pärchen, was sich über das Gemeinsame Dritte, den Fernseher, verbindet.

Der Fernsehen bzw. Netflix habe ich in der gegebenen Konkretheit ehrlich gesagt nicht ganz verstanden. Für mich hat das den Text irgendwie seltsam banalisiert, denn Netflix ist ja eher ein Trash-Element und die genannte Sendungen erschienen mir jetzt auch nicht gerade wie wohldurchdachte Symbole, sondern eher beliebig bis unentschlüsselbar für alle Leser, die die Sendungen nicht schauen (so wie ich).

Naja, Netflix ist das Privatfernsehen der Gegenwart. Die erwähnten Sendungen sind nicht beliebig gewählt, und der Titel sagt viel über den Inhalt. Leider sind es englische Titel, was ein Hindernis darstellt! Vielleicht übersetze ich die mal besser?
Auch die Namen Kassandra und der Straßenname sind nicht beliebig gewählt, aber es ist auch überhaupt nicht wichtig für das Verständnis, diese Referenzen zu "verstehen".
Wenn Netflix trashig ist, bin ich es auch! (Sorry). Das ist nicht defensiv gemeint, das ist eine Tatsache :-) Meine beiden Figuren sind auch trashig, mindestens Madlen, sie möchte ich in aller Kürze liebenswert trashig erscheinen lassen. Wenn ich es auch bisher dilettantisch umgesetzt habe. Arte Mediathek hätte nicht so gut zu den beiden gepasst. Ich mag popkulturelle Referenzen als Leserin und in meinen Texten auch. Auch hier eine Entschuldigung, wenn es trashig und dilettantisch in der Umsetzung geraten ist.
Zumindest müsste die Protagonistin mehr Versuche unternehmen, Dinge in Erfahrung zu bringen, denke ich.
Ja, das könnte ich ändern. Das finde ich auch.


Vielen Dank für die große Mühe!

Viele Grüße von Pazifik

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom