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Maigeschichte
Die Geschichte gibt es schon einmal, unter dem Titel 'Gebrochenes Wasser'. Habe aber einiges geändert und sie in meinen Jahreszyklus mit eingebaut. Ein Hinweis zum besseren Verständnis (bisher weiß ich immer noch nicht, ob und wie ich das im Text erklären soll): Im ländlichen Irland ist es Tradition, am Vorabend zum ersten Mai die Felder mit Weihwasser zu segnen.
Als Kind lag ich oft in einer der Weiden zwischen hohen Gräsern und träumte von der Auferstehung Christi. Mir schien dann, als sähe ich kastanienbraune Rinnsaale und schattige Gabardine auf dem Schädel des Berges Bulben, als schaute ich zu, wie er zwischen den grasenden Charolais den Berg herunterwandelte.
Es war der Vorabend zum ersten Maitag, und ich ein von Druiden beauftragter Heiliger auf einem Botengang, obwohl es mich sehnte nach kühler Milch und gelben Butterplätzchen. Nur Murmeln weckten mein Interesse nicht, hatte ich doch Gott in einem zwei Pfund Marmeladenglas.
In Drumcliffe County waren sie alle Sünder – die Kühe, die Gräben, sogar die langbeinigen Spinnen im Bohnenbeet. Sie alle trieben die Nägel tiefer in Christi Hände. So lehrte es uns der Priester, der zur sonntäglichen Messe unter dem Abbild der heiligen St. Brighid von der Kanzel auf uns herabdonnerte. Mich zog es deshalb in die Kartoffelstrunken, deren lange Stiele Phiolen voll der lockendsten Sünden erblühen ließen. Dort fingerte ich Gott aus dem Glas und pustete ihn zu den reuigen Blüten. Doch er wurde gefangen im Nacken des Windes, getrieben den letzten Lichtstrahlen entlang hinauf und durchbrach schneidend den Himmel. Purpurn floss es abends aus der Wunde über dem Horizont, an den ich, kniend vor meinem Bett, verstört das Abendgebet richtete.
Im Juni dann ertrank ich völlig in meiner Sünde, eingedrückt vom Staub, der seine Mätzchen formte, dem Sonnenuntergang und dem Tod meiner Mutter. Die Charolais wanderten ins Tal hinunter, Bulbens Schenkel lag im violetten Rauch des Heidekrauts, als ich meinen Vater fragte: ‚Ist es passiert, weil ich Gott bluten ließ?’
Erschrocken sah er mich an. ‚Beim heiligen Sidonius, sei leise, Junge. Sieh lieber nach den Bohnen.’ Meine weißen Zeugen trabten durch Bulbens Gras heran, und in ihr Muhen duckten sich seine Worte.