- Beitritt
- 18.08.2002
- Beiträge
- 1.978
- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 7
Maikäfer stirb
Meine Töne zittern. Bestimmt haben sie genauso viel Angst wie ich, und darum stolpern sie so zögernd aus dem Schallbecher. Aber sie müssen doch raus. Vater sagte, wenn du schön spielst, kommen die Bewohner unserer Stadt aus den Ruinen heraus und bauen die Stadt wundervoll wieder auf. „Aber nein“, hat er noch gesagt, als ich weinte und mich ganz fest an ihn klammerte, „es fallen keine Bomben mehr, der Krieg ist vorbei, mein Schatz“. Wir stehen auf dem Rathausplatz, um uns ist das, was wir noch haben, die Unterhaltungsgeräte aus unserem Wohnzimmer, und nur noch Ruinen. Unsere Wohnung ist ausgebrannt, die Feuerwehr kam nicht. Mein Vater sagte eifrig, aber ich sah Tränen in seinen Augen: „Ein großer Hubschrauber ist auf dem Weg zu uns, und wird uns retten. Der Bürgermeister und seine Familie werden nämlich immer gerettet, weißt du?“ Vater redete mit mir immer noch wie mit einem kleinen Kind. „Es wird gut, es wird doch alles wieder gut“, sagte Vater.
Mutter hielt nur meine Flöte in den Händen.
Kann nicht auf das Spiel achten. Die Noten kann ich nur sehen, weil Vater mir ein Lämpchen an das verbogene Gestell geklemmt hat. An meiner Flöte hat er ein Mikrofon fest gemacht, und dann hat er einen großen schwarzen Karton über mich und meine Noten gestülpt. Sagte, das muss so sein, denn es soll eine Überraschung werden, wie die Stadt für mich wieder aufgebaut wird. Und Mutter sagte: „Spiel uns doch noch mal das Lied von der Reformierten Schönen Demokratie und Freiheit von Europa.“
Immer dieses Lied, das ich nicht mag. Ich hasse es. Die Lehrerin will es ständig von mir hören, und hat immer geschrien, wenn ich einen Ton nicht getroffen hab. Ich kann es schon auswendig. Aber ich würde lieber etwas Neues spielen.
Warum ist das so laut? Ganz leise spiel ich doch. Ach, verspiele mich dauernd, meine Finger sind steif, kleben in den Grifflöchern fest.
Dann wird es auf einmal laut, es dröhnt. Es erschrickt mich nicht, mir ist jetzt nur so heiß geworden und es juckt auf meiner Haut. Nein, das eben konnte keine Bombe sein. Meine Eltern leben noch, denn ich höre sie zum Glück kichern und lachen und lustig sein.
Und plötzlich … irgendwie gefällt mir das Lied, nur ein wenig, aber langsam mehr und immer mehr. Um mich herum ist es gar nicht mehr dunkel, es ist hell, und jetzt sehe ich die Stadt, wie sie wieder aufgebaut ist. Ihre Hausfassaden glitzern, sie glänzen so lieblich im Sonnenlicht. Es kommen Europäische Donnervögel und werfen Bonbons auf die Menschen hinab. Die halten ihre Hände auf und rennen nach ihnen.
Jemand spielt ein wunderschönes Lied auf einer Blockflöte.
Da stehen Mutter und Vater, sie winken und lachen, tragen ihre Schürzen voll Süßigkeiten; ich winke freudig zurück. Meine Schulfreunde laufen mir entgegen, strecken ihre Arme aus. Ihre Arme sind Flügel. Meine Freunde heben ab und schweben über mich hinweg und ich winke ihnen nach. Ich drehe mich um, dort steht Sophie. „Du spielst ein so schönes Lied“, sage ich und umarme sie. Aber dann ein Blitz, der Boden erzittert. Sophie hustet, ihre Lippen sind plötzlich so rot, platzen auf und bluten. „Schrumpf nicht, bleib bei mir, lös dich nicht auf, nein, bleib doch bei mir.“
Umgefallen bin ich in meinem Hustenkrampf. Will aus dem Karton klettern. Meine Brust tut so weh. Verheddere mich schmerzhaft im Notenständer, aber dann komme ich frei.
Jetzt sehe ich die großen Schirmlautsprecher aus unserem Wohnzimmer, sie stehen dort aufgebaut mitten auf dem Rathausplatz, daneben unsere tragbare Hausbatterie. Direkt vor ihnen liegen Mutter und Vater aufeinander und halten sich an den Händen fest. Sie liegen da und regen sich nicht. Ich renne auf sie zu, rufe „Mutti … Vati … steht auf“, schreie, „Mutti, Vati, steht endlich auf!“, knie zu ihnen auf den Boden, „wacht doch auf“. Die Lautsprecher fiepen ohrenbetäubend auf, als ich ihnen die Flöte mit dem Mikrofon entgegenstrecke, aber meine Eltern rühren sich nicht. Lege mich zu ihnen, umklammere ihre glitschigen, fett-triefenden Nacken, und weine, und brülle, und schreie.
Langsam umhüllt uns Ruhe, Wärme, Licht. Die Zunge liegt mir schwer und aufgedunsen im Mund … Kann nicht atmen, kann nicht Flöte spielen.
Alles ist still. Nein, ich höre etwas: ein Sirren. Ich blicke auf. Kann durch den roten, juckenden Tränenfilm kaum den herannahenden Hubschrauber erkennen. Groß … aber schon mit … … mit ner großen Portion Mensch gefüllt … kein Platz mehr für uns … … …
Die hubschrauberförmige Kameradrohne hat tatsächlich die Größe einer Melone. Sie lenkt, automatisch wie ein Joystick, ihre analytische Aufmerksamkeit für einige Sekunden auf die drei dokumentarischen Bezugseinheiten und dreht dann zur tief stehenden Sonne.