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Maikäfer stirb

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18.08.2002
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Maikäfer stirb

Meine Töne zittern. Bestimmt haben sie genauso viel Angst wie ich, und darum stolpern sie so zögernd aus dem Schallbecher. Aber sie müssen doch raus. Vater sagte, wenn du schön spielst, kommen die Bewohner unserer Stadt aus den Ruinen heraus und bauen die Stadt wundervoll wieder auf. „Aber nein“, hat er noch gesagt, als ich weinte und mich ganz fest an ihn klammerte, „es fallen keine Bomben mehr, der Krieg ist vorbei, mein Schatz“. Wir stehen auf dem Rathausplatz, um uns ist das, was wir noch haben, die Unterhaltungsgeräte aus unserem Wohnzimmer, und nur noch Ruinen. Unsere Wohnung ist ausgebrannt, die Feuerwehr kam nicht. Mein Vater sagte eifrig, aber ich sah Tränen in seinen Augen: „Ein großer Hubschrauber ist auf dem Weg zu uns, und wird uns retten. Der Bürgermeister und seine Familie werden nämlich immer gerettet, weißt du?“ Vater redete mit mir immer noch wie mit einem kleinen Kind. „Es wird gut, es wird doch alles wieder gut“, sagte Vater.
Mutter hielt nur meine Flöte in den Händen.

Kann nicht auf das Spiel achten. Die Noten kann ich nur sehen, weil Vater mir ein Lämpchen an das verbogene Gestell geklemmt hat. An meiner Flöte hat er ein Mikrofon fest gemacht, und dann hat er einen großen schwarzen Karton über mich und meine Noten gestülpt. Sagte, das muss so sein, denn es soll eine Überraschung werden, wie die Stadt für mich wieder aufgebaut wird. Und Mutter sagte: „Spiel uns doch noch mal das Lied von der Reformierten Schönen Demokratie und Freiheit von Europa.“

Immer dieses Lied, das ich nicht mag. Ich hasse es. Die Lehrerin will es ständig von mir hören, und hat immer geschrien, wenn ich einen Ton nicht getroffen hab. Ich kann es schon auswendig. Aber ich würde lieber etwas Neues spielen.
Warum ist das so laut? Ganz leise spiel ich doch. Ach, verspiele mich dauernd, meine Finger sind steif, kleben in den Grifflöchern fest.

Dann wird es auf einmal laut, es dröhnt. Es erschrickt mich nicht, mir ist jetzt nur so heiß geworden und es juckt auf meiner Haut. Nein, das eben konnte keine Bombe sein. Meine Eltern leben noch, denn ich höre sie zum Glück kichern und lachen und lustig sein.

Und plötzlich … irgendwie gefällt mir das Lied, nur ein wenig, aber langsam mehr und immer mehr. Um mich herum ist es gar nicht mehr dunkel, es ist hell, und jetzt sehe ich die Stadt, wie sie wieder aufgebaut ist. Ihre Hausfassaden glitzern, sie glänzen so lieblich im Sonnenlicht. Es kommen Europäische Donnervögel und werfen Bonbons auf die Menschen hinab. Die halten ihre Hände auf und rennen nach ihnen.
Jemand spielt ein wunderschönes Lied auf einer Blockflöte.
Da stehen Mutter und Vater, sie winken und lachen, tragen ihre Schürzen voll Süßigkeiten; ich winke freudig zurück. Meine Schulfreunde laufen mir entgegen, strecken ihre Arme aus. Ihre Arme sind Flügel. Meine Freunde heben ab und schweben über mich hinweg und ich winke ihnen nach. Ich drehe mich um, dort steht Sophie. „Du spielst ein so schönes Lied“, sage ich und umarme sie. Aber dann ein Blitz, der Boden erzittert. Sophie hustet, ihre Lippen sind plötzlich so rot, platzen auf und bluten. „Schrumpf nicht, bleib bei mir, lös dich nicht auf, nein, bleib doch bei mir.“

Umgefallen bin ich in meinem Hustenkrampf. Will aus dem Karton klettern. Meine Brust tut so weh. Verheddere mich schmerzhaft im Notenständer, aber dann komme ich frei.
Jetzt sehe ich die großen Schirmlautsprecher aus unserem Wohnzimmer, sie stehen dort aufgebaut mitten auf dem Rathausplatz, daneben unsere tragbare Hausbatterie. Direkt vor ihnen liegen Mutter und Vater aufeinander und halten sich an den Händen fest. Sie liegen da und regen sich nicht. Ich renne auf sie zu, rufe „Mutti … Vati … steht auf“, schreie, „Mutti, Vati, steht endlich auf!“, knie zu ihnen auf den Boden, „wacht doch auf“. Die Lautsprecher fiepen ohrenbetäubend auf, als ich ihnen die Flöte mit dem Mikrofon entgegenstrecke, aber meine Eltern rühren sich nicht. Lege mich zu ihnen, umklammere ihre glitschigen, fett-triefenden Nacken, und weine, und brülle, und schreie.

Langsam umhüllt uns Ruhe, Wärme, Licht. Die Zunge liegt mir schwer und aufgedunsen im Mund … Kann nicht atmen, kann nicht Flöte spielen.
Alles ist still. Nein, ich höre etwas: ein Sirren. Ich blicke auf. Kann durch den roten, juckenden Tränenfilm kaum den herannahenden Hubschrauber erkennen. Groß … aber schon mit … … mit ner großen Portion Mensch gefüllt … kein Platz mehr für uns … … …
Die hubschrauberförmige Kameradrohne hat tatsächlich die Größe einer Melone. Sie lenkt, automatisch wie ein Joystick, ihre analytische Aufmerksamkeit für einige Sekunden auf die drei dokumentarischen Bezugseinheiten und dreht dann zur tief stehenden Sonne.

[highlight]Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE (s. Profil)[/highlight]​

 

Hallo floritiv!

Wieder mal ein Rätsel von Dir, das ich gern gelesen hab. :) Allerdings bin ich mir in der Auflösung noch nicht so ganz sicher. Ein Angriff von Außerirdischen, die keinen Unterschied zwischen den Menschen machen, während der Bürgermeister sich darauf verläßt, daß er und seine Familie gerettet werden? Dazu der überbehütete Sohn, der auf der Flöte spielen soll, was sie hören wollen, aber nichts von der Welt mitbekommen darf? Das Aufheben der Klassenunterschiede durch eine außerirdische Macht, weil sie keine Rücksicht darauf nehmen, wer gleicher als gleich ist? Oder einfach kurz: Im Tod sind alle gleich?

Hm, also ich schätze, der Text braucht noch etwas Nachwirkzeit bei mir. ;)

»Die Noten kann ich nur sehen, weil Vater mir ein Lämpchen an das verbogene Gestell geklemmt hat, und ein Mikrofon an meine Flöte, und dann hat er einen großen schwarzen Karton über mich und meine Noten gestülpt.«
– so hilft ihm das Mikrofon auch beim Sehen der Noten – evtl: … geklemmt hat. Auch ein Mikrofon hat er an meiner Flöte fixiert, und dann einen großen, schwarzen Karton …

»Lege mich zu ihnen, umklammere ihre glitschigen, fett-triefenden Nacken, und weine, und brülle, und schreie.«
– die »und« würde ich streichen: weine, brülle, schreie.

»… mit Mensch gefüllt …«
– ich vermute, Du meintest Mehrzahl: Menschen

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo floritiv,

ein traumatischer Text, ein Junge, gefangen in seinem Karton der Erinnerungen, er könnte zum Beipiel in Afghanistan leben oder im Irak, im Krieg. Eltern sterben voller Zuversicht, die Freundin wird wie er aus der heilen Welt gebombt, die Glücksbotschaften sind Lügen, die politische Agitation ein verführerisches Flötenspiel.
Wenn Europa fern ist, bringt es die Bomben und zuckert sie mit Bonbons, so gar nicht passend zum Lied von der schönen reformierten Demokratie und Freiheit.
Spielt sich das alles in Europa ab, habe ich eh alles falsch verstanden. ;)
Ein Detail:

Der Bürgermeister und seine Familie wird nämlich immer gerettet, weißt du?
ist zwar wörtliche Rede, aber korrekt wäre "werden" für den Plural: Bürgermeister und Familie

Hat mir gefallen.

Lieben Gruß, sim

 

Also meine ganz persönliche Deutung der Geschichte:

- Die Protagonistin heißt Sophie und ist etwa 10, 11 Jahre alt.
- Der Krieg in Berlin (oder Paris, oder ...) ist just vorbei.
- Aus irgendeinem Grund wird die Bürgermeisterfamilie nicht vorher evakuiert. Der Grund scheint irgendwie auch nicht wichtig zu sein.
- Die Eltern müssen mental einen Schlag weg haben, wahrscheinlich aufgrund des Krieges. Anders kann ich es mir partout nicht erklären, warum sie auf den Rathausplatz gehen, ihr Kind zum Flötenspiel zu verdonnern, damit all die Berliner Leichen zum nochmaligen Aufbau der Stadt auferstehen zu lassen, einen schwarzen Karton über es stülpen und zu seinem Spiel tanzen. Mit der Dekadenz und der schwarzen Pädagogik haben die es wirklich ein bisschen übertrieben.
- Dann kommt doch noch eine psychoaktive Biogiftbombe runter. Die Gifte zeigen bei der Ich-Erzählerin die entsprechende Wirkung: Sie sieht sich zum Beispiel selbst von außen.
- Die Kameradrohne ist kein Science-Fiction mehr. Kleines Aufklärungsutensil, denn welcher Mensch traut sich in biologisch verseuchtes Gelände. Die Drohne wird von der Ich-Erzählerin, deren Bewusstsein langsam wegdämmert, als ein richtiger Hubschrauber wahrgenommen.

Tja, scheint so, als bin ich bisher der einzige, der sowas daraus liest bzw. sich zu lesen einbildet. Folglich ist der Text -- der trotz seiner Skizzenhaftigkeit kein Rätsel- oder Freideutungstext werden sollte -- noch suboptimal. Hättet ihr Verbesserungsvorschläge, d.h. außer dem, explizite (nicht sorgfältig eingewobene) Hintergrundinfos hinzuzufügen? :)


Danke jedenfalls für eure Kritiken, :)
aber an Kommentaren (Lob/Konstruktives/Verrisse)
bin ich noch nicht satt,

-- floritiv.

 

hallo floh,

wenn du tatsächlich deine ganz persönliche Deutung der Geschichte zu einer Art Maxime erheben möchtest, die auch andere Leser herauslesen sollten, dann ist deine Kg tatsächlich suboptimal. Allerdings kann ich in diesem fall nicht mit Vorschlägen dienen. Und will es auch gar nicht. Denn die kg in ihrer jetzigen Form empfinde ich keineswegs als suboptimal.
Für mich las sie sich wie ein realitätsnaher Alptraum, ein psychodelischer Erfahrungstrip mit verstörender Wirkung. Beim Lesen wurden in mir eine menge Gefühle und Assoziationen aufgewirbelt. Eine Einengung in die Richtung deiner Deutung, würde wahrscheinlich auch das Spektrum der Eindrücke einengen, was wirklich schade wäre.
Sicher, ein bisschen mehr Klahrheit habe ich mir an manchen Stellen auch gewünscht, aber vielleicht weniger in Ausdruck von Richtungspfeilen, als durch Verfestigung der Geshcichte an sich. Es passiert alles sehr schnell, vielleicht könntest du das tempo etwas drosseln und uns noch näher heranbringen.

Was wirklich eine Überarbeitung verdient ist in meinen Augen der letzte Satz. Der wirkt nachgeschmissen und in dieser eingeklammerten Form recht unbeholfen. So nach dem Motto: was ich noch erwähnen wollte, aber nicht wusste, wie ich es in den Text einbauen kann...
Wenn du den Satz unbedingt stehen lassen möchtest, würde ich einen Absatz machen und ihn dann bringen, ohne (), als eine Art Epilog.

in der Hoffung, du bist jetzt ein Wenig gesättigter ;)
ein grüßlichst vom
weltenläufer

 

Hallo weltenläufer,

danke für deinen Beitrag. Ich freue mich, dass er dir so gefallen und eine psychedelische Wirkung auf dich gehabt hat. :)

wenn du tatsächlich deine ganz persönliche Deutung der Geschichte zu einer Art Maxime erheben möchtest
Wenn "Maxime", dann eine der Textgestaltung, die also allein für mich gilt. Was der Leser aus dem Text liest, kann ich ihm nicht vorschreiben.

Habe nun den Text entsprechend eurer Vorschläge versucht zu verbessern. Danke!


-- floritiv.

 

Ehrlich, ich habe mich in das Bild von Sophie - wie sie dort steht unter dem Karton und Flöte spielt und ihre Eltern tanzen dazu inmitten dieser Ruinen- verliebt. Ich frage mich, ob ein Bild vor Augen diese Geschichte bei Dir ausgelöst hat.

Zu meckern gibt es nichts.

miez, thorn

 

Danke, Thorn. :)

Ich überlege gerade, was mich zu dieser Geschichte inspiriert hat. Ich glaube, das war ein ganz normaler, zufälliger Gedankenfluss. Einer kommt zum anderen. Wenn mir einmal, der ich an der Bushaltestelle warte, ein Regentropfen auf die Glatze fällt (ich hab noch keine) und ich mich erschrecke, kann ich auch dafür bestimmt keine Ursache finden.
L-R-k-S: Nein. ;)


-- floritiv.

 

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